interessant wie oft wír alle mit Halbwissen arbeiten. Die 1,8 stimmen tatsächlich, aber weniger wegen der Dunkelziffer, sondern weil zwei Einzelkinder als jeweilige Elternteile zwei Kinder haben dürfen. Wer wusste das hier ? Und wer wusste, dass China das wenig hilft, weil es einen dramatischen Jungen-Überschuss gibt, da Mädchen vor der Geburt gnadenlos aussortiert werden ?
21.03.2010 00:00 Uhr | Von Gunnar Heinsohn | Kommentare: 15
Mörderische Einkindpolitik
Bild vergrößernKarikatur: Reiner Schwalme Die Chinesen töten ihren weiblichen Nachwuchs: Was wird aus den 17 Millionen überschüssigen Jungen?
Kann eine Nation demografisch schlechter dastehen als Deutschland? Man denke dabei nicht an das Millionärsparadies Monaco, das mit 46 Jahren beim Durchschnittsalter den Weltrekord hält. Es handelt sich auch nicht um das mit 44 Jahren beim Vergreisen zweitplatzierte Japan. Gemeint ist der neue Exportweltmeister China. Wie aber kann das sein? Immerhin gibt es dort pro Frauenleben 1,79 Kinder, in Deutschland aber nur 1,41. Das hiesige Durchschnittsalter von knapp 44 Jahren wird von den Chinesen mit 34 Jahren um ein volles Jahrzehnt unterboten.
Erst die selten betrachtete Relation 15-jähriger Jungen zu fünfjährigen Mädchen zeigt das Problem Chinas. Bei der Annahme eines Altersabstands von zehn Jahren zwischen Ehemann und Ehefrau würden in Deutschland 1000 heute fünfzehnjährige Jungen (2008) nur 705 heute fünfjährige Mädchen vorfinden. In China hingegen haben 1000 solcher Jungen nur noch 650 Mädchen hinter sich. In Deutschland ergibt sich der Rückstand aus der stetigen Abnahme gebärfähiger Frauen, die in jeder neuen Generation zu weniger Mädchen, aber im gleichen Verhältnis auch zu weniger Jungen führt. In China wirkt dieser Faktor auch. Dazu aber kommt – vorwiegend in ländlichen Regionen – die Tötung neugeborener Mädchen oder im städtischen Milieu die – immerhin seit 1995 verbotene – Abtreibung der durch Ultraschall frühzeitig erkannten weiblichen Föten.
Westliche Gelehrte tun sich schwer mit dem Erklären der Kindestötung. An eine „uralte Bevorzugung von Söhnen“ glaubt etwa der „Economist“ in seiner faktenreichen Titelgeschichte „Gendercide“ vom 6. März. Überdies wirke sich die Einkindpolitik der Volksrepublik mörderisch aus. Solange Kinderreichtum normal ist – in China bis in die 1970er Jahre hinein –, werde gelassen auf den ersten Sohn gewartet. Seit dem Mehrkinderverbot von 1980 jedoch muss umgehend über Tod oder Leben entschieden werden. Ist der erste Fötus männlich, wird das Kind geboren. Ist er weiblich, wird abgetrieben oder getötet. Wo man zwei Kinder haben darf, weil das Ehepaar aus zwei Einzelkindern besteht, darf das Erstgeborene auch mal ein Mädchen sein. Aber für das zweite aufzuziehende Kind wird so lange abgetrieben, bis ein männlicher Fötus heranwächst. Es gibt viele Familien mit zwei Söhnen, aber nur wenige mit zwei Töchtern.
Im Ergebnis hat das Reich der Mitte heute auf 100 Mädchen nicht die natürliche Zahl von 105 Jungen, sondern wuchtige 123. Auf 124 Millionen Mädchen unter fünfzehn Jahren kommen 141 Millionen Jungen im selben Alter. Das Gewicht der überzähligen 17 Millionen chinesischen Jungen unter fünfzehn wird erst richtig verständlich, wenn man sie mit anderen Nationen vergleicht. Russland etwa hat insgesamt nur gut zehn Millionen Jungen unter 15. In Deutschland sind es weniger als 6 Millionen, und selbst in den USA kommt man nur auf 32 Millionen.
II. Wenn ihr das Mädchentöten einstellt und die Einkindpolitik beendet, werdet ihr demografisch überleben und Aufstände überzähliger Söhne vermeiden: Das rät man China von außen und das wollen auch seine eigenen Experten. Doch die beiden Empfehlungen und die eine Verheißung enthalten Annahmen, die einer näheren Überprüfung nicht standhalten.
Es stimmt schon, dass die Bevorzugung von Söhnen zur Mädchentötung führt. Doch gibt es die Höherbewertung von Jungen fast immer und überall, einen entsprechenden Gender-Mord aber nicht. So ruht das Abendland bekanntlich auf vier Säulen. Von den Griechen stammen Eigentum und Einehe, von den Juden Eingottglaube und Lebensheiligkeit, die im Kindestötungsverbot ihre höchste Ausprägung findet. Unverstanden bleibt, dass diese ethische Tiefenstruktur des Abendlandes der Blutopferüberwindung geschuldet ist. Damit unter dem Deckmantel der weithin praktizierten Kindestötung für Geburtenkontrolle nicht heimlich das Kindesopfer fortgesetzt wird, wird jede Form von Kindestötung untersagt. Die frühen Christen nehmen das jüdische Gesetz an und werben eben damit für ihren Schutz durch die Kaiser, die händeringend nach Mitteln gegen das demografische Abrutschen des Imperiums suchen. Doch die patria potestas vitae necisque (Macht des Vaters über Leben und Tod der Familienmitglieder) ist das Grundrecht des freien Römers. Deshalb rechnet Konstantin der Große im Jahre 318, als er das Kindestötungsverbot zum Gesetz des Reiches erhebt, mit dem erbitterten Widerstand seiner Patrizier. Um ihn zu brechen, wird die Kindesbeseitigung nicht wie ein gewöhnlicher Mord mit der durchaus ehrenhaften Enthauptung durch das Schwert geahndet. Vielmehr wird der Mann mit Schlangen und Ratten in einen Sack gesteckt und elendig ersäuft. Jahrhunderte später wird im Islam – als zweiter Tochterreligion des Judentums – die Mädchentötung ebenfalls untersagt und die Vielehe erlaubt, um den nach der Geburt Geretteten später eine Versorgung zu sichern.
Immer wieder wird die jüdische Ethik verletzt, aber nur Deutschland macht sich an seine Aufhebung. Das Dekret über die Tötung von den vorhandenen Behinderten und zukünftig allen behinderten Neugeborenen wird am 1. September 1939 von Adolf Hitler unterzeichnet. Vereinzelten Protest dagegen bringt etwa sein württembergischer Euthanasiezuständiger Eugen Stähle drohend zum Schweigen: „Das 5. Gebot: Du sollst nicht töten, ist gar kein Gebot Gottes, sondern eine jüdische Erfindung.“ Und doch wird diese Erfindung am 10. Dezember 1948 Weltgesetz. Der Hitler-Flüchtling und sephardische Jurist Renée Samuel Cassin schreibt sie in den Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschrechte: „Jeder hat das Recht auf Leben.“
1950 findet das Kindestötungsverbot Eingang in das Familiengesetz Chinas. Das neue Gesetz wird als fremd empfunden und bis heute nicht mit den drakonischen Strafen bewehrt, die das Land sonst so schnell und rücksichtslos in Einsatz bringt. So berichtet der Schriftsteller Xinran von der Erstickung eines neugeborenen Mädchens im Beisein von zwei Polizisten, die ihn bei seinen Recherchen zum Landleben überwachen. Die Beteiligten – die Gesetzeshüter eingeschlossen – bleiben ohne Empfinden für das Ungeheuerliche der Situation. Allein die Mutter unterdrückt ihr Weinen nicht.
Selbst wenn China in wenigen Jahrzehnten eine Lebensehrfurcht entwickeln sollte, für die man im Westen Jahrtausende hatte, und auch die Einkindpolitik offiziell aufgäbe, könnte es sein demografisches Schicksal kaum wenden. Beim Fokussieren auf diese viel gescholtene Maßnahme bleibt ein ungleich mächtigerer Hebel unerhellt. Schließlich stehen vier weitere Nationen mit chinesischer Bevölkerung viel prekärer da als die Volksrepublik mit ihren 1,79 Kindern pro Frauenleben. In Taiwan sind es 1,14, in Singapur 1,09, in Hongkong 1,02 und in Macao 0,91. Ganz ohne Gebärverbot haben diese Länder die niedrigsten Geburtenraten der Menschheit. Sie gehören in eine Gruppe von etwa 60 Nationen – darunter alle europäischen –, die unter 2,1 Kinder pro Frauenleben bleiben und deshalb altern oder gar schon schrumpfen. Warum ist das so?
Seit dem 19. Jahrhundert und zuerst in Europa werden Lohnabhängige Bevölkerungsmehrheit. Abhängig Erwerbstätige stehen nicht in einem ökonomischen Generationenvertrag. Sie können sich für Notfälle also nicht absichern durch die Übergabe eines Eigentums (Hof, Handwerk, Fabrik, Laden etc.) an den Nachwuchs, der als Gegenleistung für das Erbe die Eltern bei Alter und Krankheit versorgt.
Lohnabhängige haben deshalb keine ökonomischen Interessen an eigenen Kindern. Fortpflanzung gibt es bei Straffreiheit von Geburtenkontrolle deshalb nur noch aus emotionalen Gründen. Weil über 90 Prozent der Bevölkerungen der sechzig höchstentwickelten Staaten lohnabhängig sind, tendieren sie alle zu weniger als 2,1 Kindern pro Frauenleben.
Heute konkurriert die Mehrheit aller Männer und Frauen so hart wie damals die Minderheit der bestentlohnten Männer. Um Männer und Frauen ausstechen zu können, setzen nun auch bald 90 Prozent der Frauen ihre nicht nur für Qualifikation und Aufstieg, sondern auch für die Fortpflanzung optimalen Jahre (15–35) für Karrieren ein. Ohne die emotionale Sehnsucht nach einem Kind könnte die Geburtenrate deshalb gegen null tendieren: So gilt schon 2004, dass 44 Prozent der deutschen Hochschulabsolventinnen bis 40 Jahre keine Kinder mehr bekommen. Aufgrund der Fortlebens der Kindessehnsucht aber tendieren die höchstentwickelten Länder immerhin zu wenigstens einem Kind. Dass real 1,45 erreicht werden, liegt an gezielten Bevölkerungspolitiken.
Da unter Lohnabhängigen Eltern und Kinder gleichzeitig arbeitslos werden können, lassen sich die gesetzlichen Unterhaltspflichten zwischen Blutsverwandten nicht erfüllen. Deshalb entstehen schon im 19. Jahrhundert Versicherungssysteme für Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter. Diese Versicherungen funktionieren durchaus, verstärken die Entscheidung zur Kinderlosigkeit aber noch. Das Kollektiv der Versicherten und nicht ein Netzwerk von Verwandten garantiert die Versorgung. Versicherungssysteme können zwar ohne Beitragszahler nicht überleben, die aber müssen nicht von den jetzigen Leistungsempfängern selbst gezeugt worden sein. Deshalb werden Appelle zu mehr Kindern zwar verständnisvoll angehört, gleichwohl aber nicht befolgt.
Diese Zwänge gelten für China nicht anders als für Taiwan oder Deutschland. Auch bei Wegfall des Mehrkindverbots wird Chinas Geburtenrate nicht über die jetzigen 1,79 steigen, sondern den 0,91 bis 1,14 der übrigen ethno-chinesischen Länder näherrücken. Weil Bauern noch 11 Prozent und nicht nur 1,7 Prozent wie in Taiwan zum Bruttoinlandsprodukt beitragen, liegt man auch bei den Geburtenraten noch höher.
III. Was werden die 17 Millionen chinesischen Jungen unternehmen, wenn sie das 15. Lebensjahr überschreiten? Die Gewaltvoraussage vieler Experten wirkt wenig überzeugend. Denn die bezieht sich auf junge Männer, die ohne Aussicht auf Karrieren aufwachsen, weil drei bis vier Söhne um eine vom Vater geräumte Position kämpfen. In China hingegen werden Arbeitskräfte längst knapp und zwingen allein zwischen 2008 und 2010 zu Lohnsteigerungen um fast 50 Prozent. Prostitution, Sexualdelikte und Brauthandel mögen zunehmen. Aufstand und Revolution aber stehen nicht ins Haus.
Die Tüchtigsten sehen für sich keine Familien, aber über sich viele hundert Millionen Rentner, für deren Versorgung der Nachwuchs fehlt. Hier wird die Relation 1000 15-jährige Jungen auf 650 fünfjährige Mädchen entscheidend. Die müssten einmal vier bis fünf Kinder bekommen, um das Blatt noch zu wenden. Sie marschieren aber in dieselbe lebenslange Arbeitsmarktkonkurrenz wie ihre Schwestern in Taiwan oder Singapur mit nur noch einem Kind. Deshalb wirkt die Suche nach Einkommen und Alterssicherung im Ausland – nach dem Geburtenminus – als zweitstärkster Grund dafür, dass China alt ist, bevor es reich wird.
600 000 Emigranten jährlich tragen schon jetzt dazu bei, dass die kleinen ethno-chinesischen Staaten demografisch nicht einfach verschwinden. Begehrt aber sind die jungen Chinesen in allen 60 vergreisenden Nationen. Denn nach Auskunft des jüngsten globalen Mathematikvergleichs (TIMSS 2007) liegt China – extrapoliert über Hongkong – mit auf Platz eins. Es folgen Singapur, Taiwan und Japan auf den Plätzen zwei bis vier.
So sorgen in Kanada mit seinen 33 Millionen Einwohnern 1,4 Millionen Chinesen dafür, dass das Land weltweit bei Kindern der Zuwanderer die höchste Intelligenz misst. In den USA wiederum, wo Japaner, Koreaner und Chinesen nicht einmal vier Prozent der Bevölkerung ausmachen, stellen sie fast 30 Prozent aller Softwareingenieure. Während von den „Weißen“ 29 Prozent Hochschulabschlüsse aufweisen, sind es bei ihnen 50 Prozent.
Auch Deutschland, das weniger Ingenieure ausbildet, als in Rente gehen, hat beim Kampf um fremde Talente nur eine Chance, wenn es aus China mit seinen 27 Millionen Studenten in technisch-naturwissenschaftlichen Instituten zu rekrutieren vermag. 2010 hat die Bundesrepublik gerade zwei Millionen Studenten insgesamt. 1,6 Millionen sollen es 2015 noch sein. |