Vor dem Kollaps Leben auf Pump und hoffen auf bessere Zeiten - nirgendwo wird die Misere des "American Way" deutlicher als in Detroit. Das Industriezentrum, das fest mit der Automobilbranche verwachsen ist, hat seine goldenen Zeiten längst hinter sich. Handelsblatt-Korrespondent Markus Ziener zu Besuch in einer krisengeschüttelten Stadt.
DETROIT. Eddie Peters lenkt seinen Geländewagen in die Blackstone Street. "Ihr solltet jetzt besser nicht aussteigen", sagt Eddie. Dabei ist es erst zwei Uhr nachmittags. Aber wir sind in Brightmoor, gut zwei Blocks südlich der West 8 Mile Road. Südlich der unsichtbaren Mauer, die sich durch Detroit zieht und die der Rapper Eminem in einem Film vor ein paar Jahren unsterblich gemacht hat. 8 Mile trennt Schwarz von Weiß, Reich von Arm, Gut von Böse. Wer heute hier wohnt, hat das übelste Ende von Detroit erwischt. Das Viertel Brightmoor ist Darwinismus pur. Ohnehin schon wegen des Kollaps der amerikanischen Autoindustrie, wegen des Verfalls der Städte - und jetzt auch noch wegen der Immobilienkrise.
Zwölf Morde gab es hier in den letzten zwei Wochen. Nachmittags ziehen Drogengangs durch Straßen, nachts sind Schüsse zu hören. Die Einbrüche lassen sich nicht mehr zählen, und an jeder zweiten Ecke steht ein ausgebranntes Haus. In der Blackstone Street sind gerade noch vier von zehn Häusern bewohnt. Der Rest ist verlassen. Eddies Job ist es, diese Häuser zu verkaufen. Doch was er macht, ist manchmal eher ein Verschenken. Schlappe 4 000 Dollar wollte er neulich für ein Haus in Brightmoor, das einst das 30- oder 40-fache wert gewesen war. Doch auch zu diesem Preis wollte es niemand. Manchmal kommt in der freiesten Marktwirtschaft der Welt selbst das Spekulieren an ein Ende.
Der Niedergang der "Big Three" im Automobilmarkt, GM, Ford und Chrysler, und damit der Niedergang von Detroit ist nicht neu. Doch neu ist der Tiefschlag, den die gebeutelte Stadt jetzt einstecken muss: Mit der Krise auf dem amerikanischen Immobilienmarkt sind in keiner anderen US-Großstadt die Preise für Grund und Boden so radikal abgestürzt wie in der einst stolzen "Motorcity". Der S&P/Case-Shiller Index meldete vor wenigen Wochen ein Minus von elf Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Detroit liegt damit beim Wertverlust mit weitem Abstand an der Spitze im Ranking der US-Metropolen. Zu tun hat dies aber nicht nur mit der Dauerkrise der Autoindustrie. Zu tun hat dies heute vor allem mit dem hohen Anteil an Subprime-Krediten, an Risikokrediten, die in Detroit unters Volk gebracht wurden.
So wie an Gary und Cathy. Die beiden sitzen an diesem Nachmittag zu Hause um einen eckigen Holztisch und zählen Geld. Es sind Münzen, Centstücke, Nickels, Dimes, Quarters. Es sieht nach viel aus, aber mehr als 20, 30 Dollar kommen nicht zusammen. Jedes Mal, wenn Gary eine ausladende Handbewegung macht, streift er einen der Centtürme. Und jedes Mal fallen dann ein paar der Kupferplättchen vom Stapel. Aber Gary kümmert das nicht.
Denn schon lange geht es bei den beiden nicht mehr um Cents und Quarters. Schon lange rechnet das Ehepaar aus Detroit in Tausenden von Dollar, die sie nicht haben. Cathy und Gary sind tief in die Hypothekenkrise geschlittert. So tief, dass aus einem Kredit von einst 100 000 Dollar heute Schulden von 240 000 Dollar geworden sind. Wieder einmal schwebt über ihrem hübschen Haus am Hatherly Place die drohende Zwangsvollstreckung. Und diesmal könnte es richtig eng werden. Was dann sein wird, hat sich Gary schon mal überlegt. "Wenn du Roulette spielst, immer wieder verlierst und irgendwann einmal kein Geld mehr hast", sagt der 52-Jährige, "dann stehst du auf und gehst." Und nach einer Pause sagte er: "Und das ist möglicherweise das, was wir bald machen." Aufstehen, die Autos voll packen, Strom und Wasser abdrehen und gehen. Noch sind die beiden nicht so weit. Aber sie denken daran.
Als Gary und Cathy Mitte der 90er-Jahre einen Kredit über 100 000 Dollar aufnehmen, um ihr Haus in Sterling Heights zu kaufen, geht es ihnen finanziell noch gut. Cathy hat einen exzellent bezahlten Job als Autodesignerin und Gary verkauft mit ordentlichem Gewinn Autoschrott. Zwar haben sie kaum Reserven, doch so lange die Schecks regelmäßig im Briefkasten landen, schöpften die beiden aus dem Vollen. Die Kinder gehen auf die beste Privatschule des Viertels, vor der Tür steht stets mehr als nur ein Auto. Der Hauskredit bleibt stehen, nur die Zinsen werden regelmäßig bezahlt. Es ist ganz der "American Way": Niemand denkt ernsthaft daran, den Kredit eines Tages zu tilgen, aber jeder setzt auf eine Wertsteigerung seines Hauses.
Doch es kommt ganz anders. 2002 verliert Cathy ihren Job als Autodesignerin, weil ihr Arbeitgeber diese Leistungen nach Fernost auslagert. Gleichzeitig rauscht der Schrottpreis in den Keller. Innerhalb weniger Monate sehen sich Gary und Cathy in ihrer Existenz bedroht. Als sie die Zinsen nicht mehr zahlen können und die Zwangsversteigerung droht, nehmen sie Zuflucht bei einem vermeintlichen Retter. Der bietet ihnen folgenden Deal an: Er kauft das Haus, Gary und Cathy bleiben darin wohnen und später können sie es zurückkaufen. Die beiden schlagen ein - mit fatalen Folgen. Denn ihr "Retter" will vor allem Geld sehen: Eine satte Provision für seine Großzügigkeit, die schöne Chevrolet Corvette aus dem Jahr 1959 als "Anzahlung", 17 Prozent Zinsen für das Geld, das er vorgestreckt hat. Nach einem Jahr holen sie sich ihr Haus tatsächlich wieder zurück. Doch jetzt haben sie noch mehr Schulden.
Als Gary seine Geschichte zu Ende erzählt hat, sagt Cathy leise: "Wir haben uns zu sehr auf unsere Jobs verlassen." Und dann sagt sie noch: "Wir hätten das Kleingedruckte im Vertrag lesen sollen." Der "fine-print" ist die Falle, in die die Schuldner reihenweise tappen. Dort, auf Seite 4 unten rechts steht, was wirklich wichtig ist. Etwa, dass die Kreditzinsen nach den ersten Jahren deutlich steigen, dass aus den verführerischen Lockraten von sieben Prozent ganz schnell zwölf Prozent werden können. Gary und Cathy zahlen heute monatlich 1 700 Dollar an die Bank. "Das sind etwa drei Viertel unseres Einkommens," sagt Gary, und es fällt ihm sichtlich schwer, darüber zu reden.
"Diese Story könnt ihr 10 000-mal hören in Michigan", sagt Eddie. Die Geschichte von Menschen, die sich nie auf einen größeren Kredit hätten einlassen dürfen, die vergessen haben, wo ihre Kragenweite endet, und die von Geldverleihern skrupellos aufs Glatteis geführt wurden. Eddie kommt immer erst dann ins Spiel, wenn die Misere nicht mehr aufzuhalten ist. Eddie makelt für den fünftgrößten amerikanischen Subprime-Geldverleiher GMAC, der indirekt zu General Motors gehört. Fällt ein Haus nach einer Zwangsversteigerung zurück an die Bank, dann versucht Eddie, das Objekt an einen Investor zu verkaufen. Eddie sieht, wie Menschen ihre Existenz verlieren - und wie andere daran verdienen.
Etwa, wenn mit gefälschten Gutachten gearbeitet wird. Einer der Tricks, um an Geld zu kommen, besteht darin, den Wert eines Hauses zu überdrehen. Das geht so: Der Eigentümer oder Investor engagiert einen Schätzer, der ein Haus zum Beispiel statt auf 70 000 auf 140 000 Dollar taxiert. Auf dieser Basis geht das Haus dann auf den Markt. Findet sich ein Käufer für diesen Preis, dann wandert in der Regel ein Umschlag des Verkäufers in die Jackentasche des Schätzers - mit mindestens 20 000 Dollar. Sollte der Schätzer dabei auffliegen, verabschiedet er sich ohne Risiko in einen anderen Bundesstaat. "Die Staaten sind nicht in der Lage, die Daten abzugleichen", sagt Eddie. Spätestens wenn der neue Eigentümer versucht, sein Haus zu verkaufen, kommt das böse Erwachen.
Seit Jahren haben die Verleiher auf dem Subprime-Markt die Grenzen immer weiter verschoben. Galt einst ein Verschuldungsgrad von 25 Prozent als das Maximum für eine noch seriöse Kreditvergabe, so hatte sich dieser Quotient zuletzt verdoppelt. Die Verleiher haben in den vergangenen Jahren auch dann Geld gegeben, wenn der Schuldner schon bei Abschluss des Vertrags die Hälfte seines Einkommens für den Schuldendienst aufbringen musste. Warum? "Gier, reine Gier", sagt Eddie. Als Wertpapiere gebündelt, ließen sich die Kreditverträge mit hohen Zinserträgen an die Wall Street verkaufen. Und dort hat niemanden gekümmert, ob die Schuldner auch tatsächlich die Verträge bedienen konnten. Fielen sie aus, dann wurde eben umgeschuldet. Solange die Immobilienblase nicht platzte, konnte nicht allzu viel schiefgehen.
"Die Leute haben die Häuser wie Kreditkarten benutzt", sagt Claire. "Sie haben damit ihr Auto finanziert, die Ausbildung der Kinder, Anschaffungen - immer in der Erwartung, dass die Immobilienpreise steigen." Claire berät in Not geratene Hausbesitzer. An diesem Abend sitzt sie im riesigen Audimax des Wayne County Community College Centers an der Greenfield Road in Detroit und wartet auf ihre Klientel. Auf Leute wie Margaret, der ungebremst die Tränen über die Backen rollen, als sie in Bruchstücken von ihrer Lebenskatastrophe erzählt. Kann sie nicht bis zum sogenannten "SheriffŽs Sale" am 12. Oktober ihre Rückstände bezahlen, dann geht ihr Haus in die Zwangsversteigerung. Und ist der Termin einmal überschritten, dann schuldet sie alles, den gesamten Kredit plus Zinsen. Kann nicht bezahlt werden, kommt das Haus spätestens nach weiteren sechs Monaten unter den Hammer. Margaret schluchzt, und erst nach einer Weile wird das ganze Ausmaß der Misere klar. Margaret ist nicht nur bei einem Kredit in Verzug, sondern mindestens bei zweien. Die Berater machen ihr Mut. Hinter ihrem Rücken aber wechseln sie besorgte Blicke.
"In den USA will jeder Hausbesitzer sein", sagt Claire. "Aber nicht alle sind dazu geeignet." Und: "Wer eben nur 40 000 Dollar im Jahr verdient, der kann sich kein Haus im Wert von 700 000 Dollar leisten", sagt die langjährige Beraterin. Rastlos ist Claire in diesen Wochen in den USA unterwegs, um die schlimmste Not zu lindern. Bezahlt wird sie von Mortgage-Unternehmen, die den Imageschaden fürchten, den die Krise ausgelöst hat. Auf Jahre hinaus, so prophezeien Experten, werde der amerikanische Subprime-Markt nicht mehr auf die Beine kommen. Denn kein Kreditinstitut werde einem schwachen Schuldner noch Geld leihen. "Dabei gibt es durchaus ein Bedürfnis für dieses Angebot", glaubt Claire - allerdings nur in bestimmten Grenzen.
Grenzen, von denen Cynthia und ihr Mann Tracey eigentlich dachten, dass sie sie eingehalten hätten. Beide sind Lehrer an öffentlichen Schulen, haben ein regelmäßiges Einkommen, drei Kinder und haben sich 1999 ein Haus in New Center, einem hübschen Viertel in Detroit, gekauft. Zehn Prozent haben sie auf den 225 000 Dollar-Kredit angezahlt, Zins und Tilgung sollten mit den beiden Gehältern finanzierbar sein, glaubten sie. Doch was sie nicht bedachten: Sie hatten nicht nur ihre Unterschrift unter einen Vertrag mit flexiblem Zins gesetzt. Vor allem wurden sie von einem sprunghaften Anstieg der Grundsteuer und der Prämien für die Hausversicherung überrascht. Statt auf knapp 2 000 Dollar kletterten die Rechnungen auf monatlich fast 3 000 Dollar.
Dann griff eins ins andere: "Bezahlten wir die Steuern, konnten wir die Heizkosten nicht mehr überweisen, und bezahlten wir die Heizung, hatten wir kein Geld für die Versicherung", sagt Cynthia. "Unsere Kreditwürdigkeit war nach einiger Zeit absolut am Ende." In den USA ist aber kaum etwas so schlimm wie das. Denn ohne halbwegs vernünftigen "credit record" geht nichts mehr - zumindest nichts mehr auf Pump. Mit Unterstützung der Schuldnerhilfe "Southwest Solutions" wollen Cynthia und Tracey nun ein neues Paket schnüren, eines, das diesen Teufelskreis durchbricht. Dass eine solche Lösung überhaupt möglich ist, erfuhren sie erst, als sie von einem ähnlichen Fall in der Zeitung lasen. "Die Banken", sagt Cynthia, "haben uns nicht geholfen."
Als wir wieder herausfahren aus Brightmoor, kreuzt Eddie noch einmal die 8-Mile-Tangente. "Ich habe keine Angst mehr, ich bin frei wie ein Vogel", singt Eminem in seinem Lied über die Trennlinie von Detroit. "Ich fahre quer über den Mittelstreifen und haue hier ab. Und alles, was ich noch sehe von der 8 Mile Road, ist ein verschwommener Fleck." Quelle: Handelsblatt.com |