Die Leiden des Sportfans
Wenn am Freitag um 14.08 Uhr im architektonisch gewagtesten Stadion der Welt mit einem gigantischen Theater die Olympischen Spiele eingeläutet werden, könnte man kurz darüber nachdenken, dass an diesem Ort vor sieben Jahren noch Tausende Familien lebten. Ihre Häuser standen da, wo jetzt Pekings Olympiagelände steht. Die Menschen wurden enteignet, meistens schäbig abgefunden, ihre Häuser abgerissen. Wenn man so etwas weiß, kann man sich dann noch über eine schöne Eröffnungsfeier freuen?
Ein riesiger Erdball soll während der Eröffnungsfeier im Stadion schweben und symbolisieren, dass das neue China nicht mehr das alte, verschlossene Rotchina ist, sondern aufgehen will in der Familie der Weltgemeinschaft. Gleichzeitig werden jährlich schätzungsweise 8000 Chinesen hingerichtet (mehr als doppelt so viele wie im Rest der Welt zusammen). Das Autonome Gebiet Tibet wurde nach Aufständen im März von der chinesischen Armee abgeriegelt, niemand weiß, wie viele Opfer der Einsatz kostete. One world, one dream?
Umfrage Verfolgen Sie die Olympischen Spiele in Peking? Die Spiele sind für mich ein Fest der Freude
Ich freue mich auf die sportlichen Wettbewerbe, Politik interessiert mich nicht
Ich schaue zwar zu, bin aber skeptisch, ob ich mich noch begeistern kann
Mit den Spielen in Peking will ich nichts zu tun haben
Das Internationale Olympische Komitee (IOC) und sein Vize-Präsident Thomas Bach rechtfertigen die Vergabe der Spiele nach Peking heute damit, dass sich die Menschenrechtssituation in China durch Olympia verbessert habe. Gut, es sei noch nicht optimal, aber immerhin. Was ja so viel heißt, wie: Okay, da werden unschuldige Menschen aus ihren Häusern gejagt, sitzen im Gefängnis, müssen Folter ertragen, aber die Regierung hat uns gesagt, es würden weniger. Und während Menschenrechtsorganisatoren einhellig beschwören, dass sich die Situation chinesischer Freiheitskämpfer mit dem Näherrücken der Spiele drastisch verschlechtert habe, fällt Thomas Bach zu diesem Thema nur ein: "Die Chinesen können so viele Internetseiten sehen wie nie zuvor, wenn auch noch nicht alle."
Kritisch beäugt wie seit 1980 nicht mehr
Die Olympischen Sommerspiele finden nur alle vier Jahre statt, normalerweise sehnen Sportbegeisterte und auch viele Nicht-Sportbegeisterte dieses Ereignis herbei, freuen sich auf die Wucht der Bilder, die Kraft der Emotionen, auf die Heldengeschichten und Sieger der Herzen. Sie freuen sich darauf, über Medien Neues über das Ausrichterland und seine Bewohner zu erfahren. Und nun kommt Peking 2008.
Seit den Spielen 1980 in Moskau sind Olympische Spiele in der westlichen Welt nicht mehr so kritisch beäugt worden wie dieses Mal. Olympia lebte lange Zeit von dem Ruf, Reinheit, Fröhlichkeit und Freiheit zu repräsentieren, und das IOC trägt wie ein Mantra vor sich her, dass Sport und Politik nichts miteinander zu tun haben. Die Absurdität dieser Behauptung ist in der olympischen Geschichte zwar schon mehrfach bewiesen worden, so deutlich wie dieses Mal aber schon lange nicht mehr.
Doch nicht nur die Politik im Veranstalterland lässt die Menschen im demokratischen, rechtsstaatlichen Westen schaudern. Für den sportbegeisterten Fernsehzuseher kommt es in den zwei Wochen von Peking noch schlimmer: Auch der Sport scheint so besudelt wie nie zuvor.
Die Leichathletik zum Beispiel war schon immer ein Höhepunkt. Um ein Haar hätten nun in Peking sieben russische Athletinnen um Medaillen gekämpft, die sich zuletzt vor einer Doping-Probe vermutlich ein Kondom mit fremdem Urin in der Scheide präparierten oder gleich Fremdurin in die Blase spritzen ließen, damit nicht ihr eigener Urin getestet wird. Experten sagen dazu, dass diese Methodik unter Leistungssportlern weitverbreitet sei. Will man da noch bei einem 800-Meter-Endlauf mitfiebern?
Na ja, könnte man sagen, die Leichtathleten sind ja ähnlich wie die Radsportler oder Gewichtheber praktisch prädestiniert fürs Dopen, wegen des eher einförmigen Bewegungsblaufs. Doch zuletzt haben die Behörden einen Fechtweltmeister mit unerlaubten Mitteln erwischt. Einen Fechter! Fehlt noch, dass sie einer Synchronschwimmerin Anabolika-Missbrauch nachweisen. Wem kann man überhaupt noch glauben?
Keiner will eine Anti-Doping-Kampagne
Das IOC verweist zwar auf seine 4500 Dopingtests während der Spiele, doch die werden wie bisher höchstens den ganz groben Dreck wegblasen. Das Gros der Doper verwendet Mittel, die nicht nachweisbar sind, manche fummeln schon am Gen herum. Und an einer beispiellosen Anti-Doping-Kampagne können die entscheidenden Stellen ohnehin kein Interesse haben: weder das IOC, das seinen Sport verkaufen will, noch die Sponsoren, die vom reinen Image Olympias profitieren wollen, noch China, das sicher nicht mit den verseuchtesten Spielen in die Geschichte eingehen will.
Nun ist dabei zu bedenken, dass in Peking nicht zum ersten Mal fröhlich gedopt wird. Sydney 2000 ist als Wachstumshormon-Festival in Erinnerung geblieben, im 100-Meter-Endlauf von 1988 in Seoul war nachgewiesen nicht nur Ben Johnson vollgepumpt. Überhaupt wurde im Kalten Krieg mit allen Mitteln um die Vorherrschaft im Sport gekämpft.
Der Unterschied besteht darin, dass damals das Doping-Bewusstsein in der Öffentlichkeit noch nicht sonderlich ausgeprägt war. Auch das Wissen darüber hielt sich in engen Grenzen. Heute dagegen ist das Bewusstsein geschärft - in Deutschland ist es seit den Geständnissen im Radsport scharf wie eine Rasierklinge.
Die Hoffnung schwingt mit
Kann man sich bei all dem überhaupt noch erfreuen an diesen XXIX. Olympischen Sommerspielen in Peking? Darf man sich faszinieren lassen von den Schicksalen, die Peking 2008 zu Hauf liefern wird? Die Zuseher sehnen sich vielleicht nach epochalen Ereignissen wie der weltbesten Reckübung von Fabian Hambüchen. Oder einen sensationellen Sieg Timo Bolls gegen die chinesische Tischtennis-Übermacht. Und die Hoffnung schwingt mit, dass dort wenigstens alles mit sauberen Dingen zugehen möge.
Und doch bleibt: Für Menschen, die gerne guten Sport verfolgen, herrschen derzeit schwierige Zeiten. Das vielleicht größte Ereignis der Sportgeschichte steht bevor, doch der Zwiespalt ist gegenwärtig: Soll man einschalten oder nicht?
(sueddeutsche.de/aum/cmat)
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