Die Amerikaner empfanden die antiamerikanische Diskussion im Vorfeld des Bush-Besuches als schmerzhaft. Für Amerikaner ist Berlin Symbol für den Kampf um Freiheit im Kalten Krieg. Der Historiker Gordon Craig spricht von einer „amerikanischen Entdeckung Berlins“. Berlin war die schutzbedürftige Insel der Freiheit. US-Präsidenten reisten in die „Frontstadt Berlin“, um die westliche Position im Kalten Krieg zu betonen. Kennedy, Nixon, Carter, Reagan, Bush und Clinton nutzten Berlin für demonstrative Auftritte. In Berlin wurde die deutschamerikanische Freundschaft gefeiert. „Ich bin ein Berliner“ verstand man auch in Amerika. Clintons Satz „Nichts kann uns aufhalten, alles ist möglich, Berlin ist frei“ wirkte weniger nachhaltig. Die Deutschen verdanken den Amerikanern den Vollzug der Wiedervereinigung: Bush Senior gilt als amerikanischer „Vater“ der deutschen Einheit. Viele erinnern sich, dass Bush Senior schon mit Kanzler Kohl über die Wiedervereinigung verhandelte, als der französische Präsident Mitterrand noch einen offiziellen Staatsbesuch in der DDR abwickelte. Die Deutschen mögen die Amerikaner, ihren Präsidenten mögen sie nicht – so hieß es vor dem Bush-Besuch. Diese These wurde in Berlin skandiert. Sie ist nicht neu: Im Vietnamkrieg, während der Nachrüstungsdebatte und im Golfkrieg ging es Nixon, Reagan und Bush Senior ähnlich. Jeder Präsidentenbesuch polarisierte Deutschland: Die militante Linke rief „USA-SA-SS“ und beteuerte, Kritik Antiamerikanismus ist ein Reizwort. Bevor George W. Bush Berlin im Mai 2002 besuchte, wurde in Deutschland „antiamerikanisches“ Gedankengut diskutiert. Kritiker der US-Außenpolitik wehrten sich dagegen, als „Antiamerikanisten“ abgestempelt zu werden. Wer die USA kritisiere, sei kein Antiamerikanist. Kritik an den USA sei ein demokratisches Grundrecht, die Bundesrepublik kein „Vasall“, Politiker, Journalisten, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen und Globalisierungsgegner ließen sich keinen Maulkorb umhängen: Die Deutschen hätten ein Recht auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit. Kritik an Präsident Bush sei Recht und Pflicht des politisch mündigen Bürgers. Bundesregierung und Sicherheitsbehörden befürchteten Straßenschlachten. Nach dem 11. September 2001 demonstrierten zweihunderttausend vor dem Brandenburger Tor: „Wir sind alle Amerikaner“, hieß es einmütig. Beim Besuch von George W. Bush im Mai 2002 zogen zwanzigtausend bis dreißigtausend Demonstranten durch Berlin: Bush wurde Zielscheibe der Globalisierungsgegner. Grüne und die PDS gingen auf die Straße, Bundestagsabgeordnete demonstrierten gegen den US-Präsidenten. Das war neu in der Geschichte der Bundesrepublik: Demonstrationen und Krawalle hatte es bei US-Besuchen schon gegeben – gegen Nixon und Reagan, Vizepräsident Bush Senior wurde 1982 in Krefeld mit Steinen beworfen. Bundestagsabgeordnete gehörten jedoch nicht dazu. Seite 71 Nr. 392 · Juli 2002 Das Spektrum der Vorurteile ist breit US-Präsident Bush und der Antiamerikanismus Friederich Mielke an der US-Regierung sei nicht Kritik am amerikanischen Volk. Amerikaner seien hilfsbereite, gastfreundliche, liebenswürdige Menschen. Nur ihre Regierung sei „imperialistisch, materialistisch und heuchlerisch“. Das erinnert an den Spruch: „I like mankind, its people I cannot stand.“ Selten wird erwähnt, dass die US-Regierung demokratisch gewählt wird und im Kreuzfeuer des Kongresses steht. Die öffentliche Meinung kommt als vierte Macht als Kontrollinstanz hinzu. Wenn siebzig Prozent der Amerikaner den Präsidenten im „Krieg gegen den Terrorismus“ unterstützen, wird die Regierungspolitik von einer großen Mehrheit getragen. George W. Bush ist in Amerika seit dem 11. September beliebt. Die deutschen Antipathien gegen Bush Junior richten sich gegen die US-Regierung und die Amerikaner, die ihn gewählt haben und heute unterstützen. Die Definition Was ist Antiamerikanismus? Ein negatives Stereotyp, ein Vorurteil. Stereotypen können negativ und positiv sein, Vorurteile sind negative Einstellungen. Wer „antiamerikanisch“ denkt und fühlt, hat sich geistig und emotional für ein negatives Amerikabild entschieden – politisch, psychologisch, kulturell. Die meisten Images sind eine Mischung aus Positivem und Negativem. Stereotype und Vorurteile vereinfachen das Leben. „Meinung ist Wahn und Vorurteil“, schrieb Adorno, die meisten Menschen hätten lieber Vorurteile als Einsichten. Das Image eines Landes setzt sich aus Urteil und Vorurteil zusammen, aus Wissen und Gefühl. Es gibt viele Amerikabilder: Das Amerika von George Washington hat ein anderes Image als das Amerika von Ronald Reagan oder Bill Clinton. Positive und negative Bilder werden von jedem Individuum bewusst und unbewusst übernommen – von der Familie, von Freunden, Lehrern, Medien, Pastoren oder Kollegen. Einmal angenommene Bilder sind schwer zu ändern. Wer ein „antiamerikanisches“ Image hat, wird dieses Bild weder rational noch emotional ändern: Gilt George W. Bush als „kleiner Sheriff“, so bleibt er es lange. Seine wehrhafte Politik im Kampf gegen den internationalen Terror bestätigt das Vorurteil vom „schießwütigen Cowboy“. Mit dem Amtsantritt von George W. Bush wiederholen sich die „Cowboy“- Klischees, die Ronald Reagan vorausgingen – der „Provinzler“, „Frühstücksdirektor im Weißen Haus“, der intellektuell Unbedarfte. In den Hauptstädten der Welt machte man sich lustig. George W. Bush hatte vor dem 11. September ein schlechtes Image in Deutschland. Doch seine gemäßigte Reaktion auf nine eleven rettete seine Reputation: Die Amerikaner wurden nicht als gewalttätiges Volk gesehen. So dachten viele im November/Dezember 2001. Zum Bush-Besuch im Mai kehrten antiamerikanische Vorurteile zurück: Politische Sachargumente vermischten sich mit negativen Vorurteilen – der alte Antiamerikanismus von links und rechts. Inzwischen wird George W. Bush ernst genommen. Er hat Koalitionen im Krieg gegen den Terrorismus geschmiedet, die Vereinten Nationen respektiert, sich aktiv um Palästina gekümmert. Bush hat außenpolitisches Profil gewonnen. Seine Rede vor dem Bundestag am 23. Mai war vielleicht nicht „historisch“, aber sie hat der Welt die außenpolitische Agenda der Vereinigten Staaten verständlich gemacht: Die Einigung Europas soll die europäische und amerikanische Sicherheit stärken und Russland in die europäische Familie aufnehmen, die USA und Europa sollen gemeinsam gegen den globalen Terror kämpfen, Israel müsse sicher sein, die Palästinenser dürfen einen Staat bilden, und die USA und Europa verstehen sich nicht nur als Handelspartner – sie sind die Erben der „gleichen Zivilisa- Seite 72 Die politische Meinung Friederich Mielke tion“. Das Klischee des „Cowboys“ war verflogen. Die Kommentatoren waren sich einig: Bush hatte den Bundestag und die deutsche und internationale Öffentlichkeit beeindruckt. Linker Antiamerikanismus In Ostdeutschland haben es die Menschen besonders schwer, sich Amerika vorurteilslos zu nähern. Die Erinnerung an die Propaganda der marxistisch-leninistischen Zeit wirkt weiter. Der Antiamerikanismus der Marxisten war polemisch: die USA als Klassengesellschaft der „Ausbeuter, Rassisten, Imperialisten und Kriegstreiber“. Die Vereinigten Staaten galten über Jahrzehnte als ideologischer Rivale im Wettkampf der Systeme. Doch Hand aufs Herz: War das Horrorbild vom US-Imperialismus nicht realistisch? Was war mit dem Iran, mit Vietnam und Laos, Chile und El Salvador, Kuba und Nicaragua, Angola, dem Kongo und der leidigen United Fruit Company? Wer vierzig Jahre von links und vorher von rechts der antiamerikanischen Propaganda ausgesetzt war, kann kein neues Weltbild als Tabula rasa erfinden. Er bleibt gefangen im Bewusstsein, das vom Sein bestimmt wird. So sieht es Marx. Und dieses „Sein“ ist antiamerikanisch – von links und rechts. Es ist eine Illusion zu glauben, die Folgen der rechts- und linkslastigen Propaganda könnten ausgelöscht werden: Seit den dreißiger Jahren hat Deutschland keinen Frieden mit Amerika. Die Rassenideologie der „Herrenmenschen“ wurde von der Klassenideologie der Sozialisten abgelöst. Das hinterlässt Spuren. Wer will daran erinnert werden, dass der Bremer Senator Scherf 1986 dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan den frühen Krebstod gewünscht hat, weil der USPräsident in Zentralamerika angeblich den „US-Imperialismus“ forcierte? In den achtziger Jahren war „linker“ Antiamerikanismus schick. Seite 73 Die politische Meinung US-Präsident Bush und der Antiamerikanismus „Die Amerikakritiker von Berlin nutzten den Staatsbesuch des US-Präsidenten, um die Argumente der Globalisierungsgegner auf die Vereinigten Staaten zu projizieren.“ (Friederich Mielke) Hier: Präsident George W. Bush schreitet am 22. Mai 2002 in Berlin mit Colin Powell und Condoleezza Rice eine militärische Ehrenformation ab. Foto: dpa Der Antiamerikanismus der sechziger und siebziger Jahre entstand aus der Enttäuschung darüber, dass die führende westliche Weltmacht die Ideale der Demokratie nicht respektierte. Vietnam und Watergate pervertierten die amerikanischen politischen, demokratischen und kulturellen Werte. Walter Jens appellierte damals an das „bessere“ Amerika, das Land der „Bürgerrechtler und Reformer, der Friedfertigen und Gewaltlosen, nicht das Land der Sozialdarwinisten, Spekulanten und Hegemonisten“. Die Friedensbewegung der achtziger Jahre unterstellte der US-Regierung eine „imperialistische“ Ideologie. Fünfhunderttausend Demonstranten marschierten in Bonn gegen den NATO-Doppelbeschluss. Das Thema Antiamerikanismus war auf dem Tisch, ohne die offiziellen politischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den USA zu gefährden. Wer Reagans Außenpolitik kritisierte, war selbstverständlich kein Antiamerikanist: das gleiche Dilemma. Zur Golfkriegzeit war Deutschland 1990–91 zur Hälfte amerikakritisch. Der Konflikt mit Saddam Hussein, so die deutsche Presse, offenbarte den amerikanischen „Materialismus“. Wegen der Wirtschaftskrise habe die US-Regierung einen Krieg gebraucht, um die Wirtschaft anzukurbeln. Das alte Stereotyp vom „imperialistischen“ Amerika kam aus der Mottenkiste: Wegen der dominanten Stellung der USA in der NATO dürfe das Bündnis nicht für die Ordnung der Welt sorgen. Die meisten deutschen Journalisten sahen den Golfkrieg nicht als alliierten Einsatz für Freiheit und Demokratie, sondern die Amerikaner als „machtbesessene Imperialisten“. Hegemonialstreben, Vertretung von Eigeninteressen Amerikas zum Erhalt seiner Weltmachtrolle, eine „neue Form des Krieges gegen die Dritte Welt“ seien die wahren Gründe des Golfkrieges. Die „neue Weltordnung“ von George Bush Senior wurde in Deutschland skeptisch beurteilt. Die idealistischen Ziele des Golfkrieges seien „scheinheilig“ gewesen: Die Amerikaner redeten von Völkerrecht, hätten aber ihre eigene Machtposition am Golf und in der Welt gemeint. Kritik von „links“ richtet sich heute gegen die amerikanische Klimapolitik, gegen die militärische, ökonomische und kulturelle Hegemonie der Vereinigten Staaten. Die „linke“ Kritik thematisiert den „Konsumterror“, Sozialabbau durch „Raubtierkapitalismus“, amerikanischen Fortschrittsglauben, Patriotismus, Leistungsbewusstsein, Militarismus, Religiosität, militärische Hochrüstung und unilaterale Expansion von „imperialem Großmachtstreben“. Der „Krieg gegen den Terrorismus“ wird als militaristisch abgetan: „Mehr Bäume, weniger Büsche“ stand auf einem Transparent in Anspielung auf den Präsidenten. Die rechten Argumente Der „rechte“ Antiamerikanismus der Traditionalisten spricht von „Cocacolonisierung“ und „McDonaldisierung“ Deutschlands und der Welt. Intellektuelle halten EuroDisney bei Paris für ein „kulturelles Tschernobyl“. Die „neue Rechte“ lehnt die Werte der liberalen Zivilgesellschaft ab, wie sie von Amerika repräsentiert werden. Europa müsse von der „Kolonisierung“ durch Amerika befreit werden. Mitte der achtziger Jahre sah Kurt Sontheimer einen „kulturellen Antiamerikanismus“, den er als soziale Randerscheinung abtat. Der kulturelle Antiamerikanismus versteht amerikanische Werte und deren Umsetzung ins praktische Leben als eine den europäischen Standards unterlegene kulturelle Ausdrucksform. Kulturelle Antiamerikaner befürchten, die amerikanische Zivilisation und ihre Lebensformen könnten andere Kulturen schwächen und zerstören. Neurechte Intellektuelle meinen, „links“ und „rechts“ sei heute überholt: Friederich Mielke Seite 74 Die politische Meinung Die „Volksgemeinschaft“ müsse gestärkt werden, man müsse gegen einen individualisierten Kosmopolitismus und Globalismus angehen. Für den Rechtsradikalen Horst Mahler ist das Internet geeignet, Kritik am amerikanischen Liberalismus und Globalismus zu verbreiten. Die radikale Rechte veröffentlicht ihre Thesen auf achthundert Webseiten. Der rechte Antiamerikanismus schwimmt auf der Welle einer amerikakritischen Stimmung: Amerika als „bastardisiertes Einwanderungsland“ ohne „völkischen Zusammenhalt“ und religiöse Einheit. Die Ideologie des Individualismus werde die gesellschaftlichen Bindungen auflösen – Familie, Klan und Nation. Deutsche Neurechte meinen, die Amerikanisierung und Pluralisierung der Nationen Europas lösten das deutsche Volk langsam auf, der amerikanische säkulare Humanismus fördere moralischen Skeptizismus, Nihilismus und Kosmopolitanismus. Der Amerikanist Berndt Ostendorf weist darauf hin, dass der rechte Antiamerikanismus im Zeitalter der Globalisierung neu instrumentalisiert werden kann: Die Auflösung des Gegensatzes von links und rechts erlaube dem neuen Antiamerikanismus, sich transideologisch, transnational und global zu verkaufen. Heute mischen sich „linke“ und „rechte“ negative Stereotypen. Für die „neue Rechte“ ist Amerika moralisch korrupt, technisch und strategisch jedoch führend. Für viele Deutsche ist Amerika das Land der Rassentrennung, der Waffenbesitzer, Todesstrafen-Anwälte, der Produzenten von Kulturschrott, religiösen Fanatiker, Analphabeten, Drogensüchtigen, Kriminellen und nationalen Chauvinisten, die auf Kranken- und Arbeitslosenversicherung sowie ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit verzichten. Andere sehen in den USA das positive Stereotyp des Landes der „unbegrenzten Möglichkeiten“, der Freiheit, Gleichheit wirtschaftlicher Startchancen, der technologischen Überlegenheit, kulturellen und ethnischen Vielschichtigkeit, ideologischen Toleranz, ungebrochenen staatlichen Identität und grenzenlosen materiellen und geistigen Ressourcen. Globalisierung und die USA Deutsche Globalisierungsgegner kritisieren die USA als Land des rücksichtslosen Profitstrebens. Die Amerikakritiker von Berlin nutzten den Staatsbesuch des USPräsidenten, um die Argumente der Globalisierungsgegner auf die Vereinigten Staaten zu projizieren. Ziel ist der Neoliberalismus amerikanischer Provenienz: Der Staat sei global auf dem Rückzug, die Freihandelsideologie von Ronald Reagan werde durch George W. Bush erneuert. Seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Wirtschaftssysteme hätten Markt und Konkurrenzgedanke gesiegt: Die Vereinigten Staaten seien Symbol für Freihandel, globale Konkurrenz, Vernichtung des Sozialstaates, Privatisierung und „ungezügelten Kapitalismus“. Der soziale Kahlschlag im Namen der Globalisierung gehe von den USA aus. Die Globalisierungsgegner konzentrieren sich auf die Person von George W. Bush: Der amerikanische Präsident wird zum Sündenbock für die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, politischen und psychologischen Wirkungen der Globalisierung. Die Globalisierungsgegner sehen die Vereinigten Staaten als Motor und Nutznießer der Globalisierung. Amerikanische und multinationale Konzerne sind überzeugt, dass der Kapitalismus des freien Marktes das wirksamste Instrument für Wirtschaftswachstum und steigenden Lebensstandard bleibt. Henry Kissinger warnt: Wie der wirtschaftliche Liberalismus des 19. Jahrhunderts den Marxismus hervorbrachte, so könnte eine aggressive Version der Globalisierung im 21. Jahrhundert einen weltweiten Angriff auf die freie Marktwirtschaft bewirken. Seite 75 Die politische Meinung US-Präsident Bush und der Antiamerikanismus Die Globalisierung akzeptiert die Tatsache, dass die freie Marktwirtschaft die Tüchtigen von den Untüchtigen trennt – auf Kosten wirtschaftlicher und sozialer Erschütterungen. Die Demonstrationen gegen die Globalisierung folgten dem linksgerichteten, antiamerikanischen und antikapitalistischen Drehbuch der sechziger und frühen siebziger Jahre: „Trotz allem dürfen die Führer der industrialisierten Welt nicht das emotionale Vakuum ignorieren, das den Protesten mindestens teilweise zu Grunde liegt, damit die Globalisierung nicht im politischen Sturm untergeht“, schreibt Kissinger in Die Herausforderung Amerikas: Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Konflikte in den Beziehungen Die deutsch-amerikanischen Beziehungen werden durch Konflikte belastet. Während des Kalten Krieges waren die Beziehungen eindeutig: Westdeutschland hatte sich eng an Amerika gebunden – durch NATO, transatlantischen Handel, Austausch, Truppenpräsenz und Eindämmung sowjetischer Expansion. Ostdeutschland unterlag der antiamerikanischen Propaganda. Seit Ende des Kalten Krieges lockern sich die transatlantischen Bindungen. Die Amerikaner verringerten ihre Truppen von zweihundertzwanzigtausend auf etwa fünfundfünfzigtausend, Deutschland verlor den Status als Frontstaat, die Amerika-Häuser in Stuttgart, München, Hamburg und Hannover wurden geschlossen. Strategisch verlagerten die Amerikaner ihre Interessen nach Osten – in die Türkei, die Ukraine und die einst sowjetischen Republiken in Asien. Militärstrategisch bleibt Deutschland ein „Flugzeugträger“ in Europa für Einsätze am Golf, auf dem Balkan und im Nahen Osten. Die Amerikaner fordern mehr Ausgaben für Rüstung und Personal, Modernisierung der Waffensysteme und Kauf neuer Militärtechnologien. Zugleich wollen sie den technologischen Vorsprung bei Waffensystemen nicht preisgeben. Hinter der allseits bekundeten Bündnistreue zur NATO streiten Amerikaner und Europäer so heftig wie selten: Die NATO müsse sich konsequent im Krieg gegen den Terrorismus hinter die Amerikaner stellen, oder sie werde irrelevant. Seit dem 11. September reden deutsche Politiker von der „uneingeschränkten Solidarität“ im Kampf gegen den Terrorismus. Das war angebracht, als der Schock tief saß. Doch dann erklärte der Präsident den Krieg gegen den Terrorismus – Bomben auf Afghanistan; Somalia, Iran, Irak im Visier, Truppenpräsenz in Georgien, aggressive Töne über die „Achse des Bösen“ und wachsende Bereitschaft, einen Regimewechsel im Irak zu erzwingen. Nicht jeder deutsche Politiker ist für eine militärische Intervention am Golf. Die Bush-Regierung kündigt das Klimaschutzprotokoll, opponiert gegen den internationalen Strafgerichtshof, entwickelt ein Raketenabwehrsystem, vernachlässigt internationale Verträge und verpflichtet die Europäer, die NATO bis an die Grenzen Russlands zu erweitern. Diese Themen sind umstritten. Zu militärischen und politischen Differenzen kommt der Streit um den Wirtschaftsprotektionismus. Die Bush-Regierung hat Einfuhrzölle auf europäischen Stahl erhoben. Die Europäer sehen darin eine wirtschaftliche Kriegserklärung. Die USA erscheinen nicht als „wohlwollende“ Weltmacht; sie zeigen ihre „Arroganz der Macht“ nicht nur im politischen und militärischen Bereich: Der Stahlkrieg verschärft die Konkurrenz zwischen Amerikanern, Europäern und Asiaten. Da Amerikaner und Deutsche militärisch Verbündete und wirtschaftlich Konkurrenten sind, ist der Stahlkrieg Symbol für die Krise der transatlantischen Beziehungen. Gut sind diese Beziehungen nur, wenn die Interessen übereinstimmen. Friederich Mielke Seite 76 Die politische Meinung Im kulturellen Bereich sind die Konflikte vielleicht am kleinsten. Beide Völker haben europäisch-abendländische Wurzeln. Da die Hälfte der Deutschen angeblich Englisch spricht, ist vielen das amerikanische Englisch vertraut. Die Kulturgegensätze sind eher peripher als zentral. Etwa ein Viertel der Amerikaner hat deutsche Vorfahren, Millionen von GIs waren in Deutschland stationiert, Amerikaner und Deutsche gelten als geschäftstüchtig, diszipliniert und fleißig. Die beiden Weltkriege waren für die Amerikaner vergleichsweise kurz und verlustarm, der Wiederaufbau der deutsch-amerikanischen Freundschaft gelang zügig. Amerikaner und Europäer Nach der Wahl von George W. Bush zum neuen US-Präsidenten tobte ein transatlantischer Kulturkampf: Sensationsheischend wurde in den Medien der „kulturelle Gegensatz“ zwischen Europa und Amerika vermarktet. Todesstrafe, Cowboy- Kapitalismus und „Unilateralismus“ waren die Vorwürfe diesseits des Atlantiks. Im Oktober 2001 warf ein deutscher Leitartikler den Amerikanern „Patriotismus, Wehrhaftigkeit und Religiosität“ vor. Europäer hätten kein Verständnis für ein amerikanisches Volk, das angesichts von nine eleven zur Kirche gehe, die Fahne hisse und nach Schutz durch Armee, Marine und Luftwaffe rufe. Wer nicht versteht, dass Amerikaner in Krisenzeiten religiös, wehrhaft und patriotisch sind, hat sie nie gekannt. Amerikaner sind keine Europäer, keine Deutschen. Amerikaner haben ihre eigene Geschichte, Ideologie, Identität – seit Jahrhunderten. Sie sind stolz auf eine ungebrochene Verfassungstradition, auf ihre Grundwerte, Freiheiten und religiösen, politischen, sozialen, ethnischen und kulturellen Eigenarten. Diese Unterschiede gilt es zu kennen und zu verstehen. Die Vereinigten Staaten haben ihre geistigen, philosophischen, kulturellen und politischen Wurzeln in Europa. Präsident George W. Bush hat vor dem Bundestag die Gemeinsamkeit von Amerikanern und Europäern unterstrichen: „Die Vereinigten Staaten und die Nationen Europas sind mehr als militärische Verbündete; wir sind mehr als Handelspartner; wir sind die Erben der gleichen Zivilisation.“ Bush betonte die gemeinsamen Werte, die „allgemein gültig und richtig“ seien – freie Märkte, offene Gesellschaften, Wert und Würde jeden Lebens. Die oft beschworene „Wertegemeinschaft“ sei besonders wichtig angesichts der Gefahr durch antidemokratische, totalitäre, intolerante und kriminelle internationale Terroristen. Wer in Deutschland „antiamerikanisch“ ist, opponiert auch gegen die europäischen geistigen und politischen Wurzeln der USA. Die US-Verfassung entspringt europäischem Gedankengut, sie ist ein Vorbild an Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, republikanischer Staatsform, Föderalismus und Gewaltenteilung. Wenn es ein „amerikanisches Geschenk an die Welt gibt“, so ist es die US-Verfassung. Heute lassen sich Amerikaner und Deutsche wieder von Klischees verführen. Für viele Deutsche ist Amerika zunehmend das Land des „Raubtierkapitalismus“, Hegemonialstrebens und der Arroganz der Macht – „the insolence of office“, wie Shakespeare schreibt. Wir brauchen mehr Informationen, mehr Wissen und persönliche Kontakte zu einem Land, das im 21. Jahrhundert dominiert. Unser europäisch-französisch-deutscher Kultursnobismus ist hinfällig. Das 21. Jahrhundert wird erst recht ein „amerikanisches Jahrhundert“. Mit Klischees, Vorurteilen und negativen Stereotypen werden wir die Amerikaner nie verstehen. [b]Der heutige Antiamerikanismus ist überflüssig und ärgerlich und Ausdruck intellektueller Überheblichkeit und Oberflächlichkeit.[/b] Seite 77 Die politische Meinung US-Präsident Bush und der Antiamerikanismus
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