New Yorks unsichtbare Ölpest
Von Marc Pitzke, New York
Unter einem New Yorker Arbeiterviertel verbirgt sich die größte Umweltkatastrophe der USA: Mehr als 65 Millionen Liter Öl verseuchen den Grund. Dahinter steckt der Energiemulti Exxon, der gerade den größten Gewinn der Geschichte einfuhr - und trotzdem wenig tut, um das Debakel zu beseitigen.
New York - Ein scharfer Eiswind kräuselt das Schlackwasser des Newtown Creek. Gelber Schaum dümpelt auf dem Seitenarm des East River, der Brooklyn von Queens trennt. Drüben rumpelt der Verkehr des Long Island Expressway auf Betonstelzen über die Dächer. Am Ufer, gesäumt von morschen Lagerhallen und Brachflächen, sind Schlamm und Müll zu einer harten Kruste gefroren. Es stinkt nach Öl.
"Willkommen im geografischen Zentrum von New York City", sagt Basil Seggos. Am Horizont flimmert die Skyline Manhattans: der Citi-Tower, das Empire State Building. Rechts, jenseits der Pulaski Bridge, erstreckt sich das triste Häusermeer der Vorstädte. Kahle Bäume klammern sich an den Uferhang.
Seggos, 32, kommt oft an den Newtown Creek hier in Greenpoint, an Brooklyns entlegener Nordspitze. Für den Umweltaktivisten sind der dreckige Creek und das angrenzende Arbeiterviertel zum Lebensinhalt geworden. Tag und Nacht beschäftigt er sich damit. In seinem Golf, mit dem er über die Schlaglöcher zuckelt, stapeln sich Ordner, Akten und Karten.
Denn Greenpoint ist Schauplatz der größten Umweltkatastrophe der USA: Der Boden unter den Häusern und Fabriken ist mit Rohöl verseucht, aus Raffinerien und lecken Tanks. Dieser unterirdische Ölteppich, der langsam in den Creek sickert, erstreckt sich über mehr als 22 Hektar. Insgesamt sind hier, unweit der Uno-Zentrale am anderen Ufer des East Rivers, mindestens 65 Millionen Liter ausgelaufen, nach Schätzung von Experten sogar das Doppelte. Selbst die geringere Menge wäre noch anderthalbmal so viel wie 1989 beim Tankerunglück der "Exxon Valdez" in Alaska.
"Der Creek ist tot"
"Viele Leute wissen bis heute nicht, dass sie auf einer Zeitbombe sitzen", sagt Seggos, der der Sache als Chefforscher der Umweltgruppe Riverkeeper seit 2001 nachgeht. "Sie atmen toxische Gase ein. Sie werden krank."
Riverkeeper
Brooklyns Ölpest: "So etwas sieht man sonst nur in der Dritten Welt" Wie damals im Prinz-William-Sund steckt auch am Newtown Creek der Ölmulti ExxonMobil dahinter. Auf dessen altem Brooklyner Firmengelände ist jahrzehntelang Öl in den Grund gesickert und hat sich dort zu einer unsichtbaren Giftschicht ausgebreitet - direkt unter einem Wohnviertel mit rund 1000 Menschen. "Wir haben uns verpflichtet, unserer Verantwortung voll nachzukommen", bestätigt Exxon-Sprecherin Premlata Nair.
Dazu hat Exxon begonnen, das Öl abzusaugen. Viel zu spät jedoch, völlig unzureichend und ohne Rücksicht auf die Gesundheit der Menschen, finden Basil Seggos und Hunderte Anwohner, die Exxon in mehreren Zivilklagen vor Gericht gezwungen haben. Der Kampf der Davids gegen Goliath währt schon länger, spitzt sich jetzt aber zu: Der US-Kongress will eingreifen.
"So was sieht man sonst nur in der Dritten Welt", murmelt Seggos, über die Böschung des Creeks kraxelnd. "Es ist wie eine Zeitreise in die Vergangenheit." An einigen Stellen kapseln Gummiringe das Ufer ab, um zu verhindern, dass Öl in den Fluss rinnt; davor staut sich ein dünner Ölfilm. "Es hilft nicht viel", seufzt Seggos. "Weiter hinten ist der Creek tot."
Rostende Öltanks am Ufer
Die Kontaminierung von Greenpoint begann bereits Ende des 19. Jahrhunderts. Damals saßen auf der Landzunge über 50 Raffinerien, die meisten betrieben von Standard Oil, dem Exxon-Vorläufer. Schon in jener Zeit leckten die Tanks und Rohre; von Umweltschutz war da noch keine Rede. Im Oktober 1950 dann drang Öl ins Abwassersystem von Greenpoint und explodierte. Die Detonation riss einen Krater auf, jagte Kanaldeckel in die Luft und zerschmetterte die Fenster an 500 Häusern.
1966 wurde die letzte Raffinerie stillgelegt. Amoco (heute BP ) übernahm einen Teil der Liegenschaften, den Rest nutzte Mobil bis 1993 als Lager. Drei der alten Öltanks rosten heute noch am Ufer des Creek, hinter Stacheldraht an der Kingsland Avenue. "Illegale Substanzen verboten", steht auf einem Warnschild.
Offiziell wurde der gigantische Ölspill aber erst 1978 entdeckt. Eine Hubschrauber-Patrouille der Küstenwache bemerkte Öl auf dem Creek. Bohrungen ergaben das ganze Ausmaß der Katastrophe. Die Versuche, das Problem zu beheben, blieben damals aber nur zaghaft.
1989 - im Jahr der Havarie in Alaska - übernahm der da noch von Exxon separate Mobil-Konzern die Verantwortung für die Verseuchung Greenpoints. Eine Geldstrafe gab es freilich nicht. Anders als bei der "Exxon Valdez", für deren Havarie Exxon letztendlich 2,5 Milliarden Dollar Bußgeld zahlen musste.
150.000 historische Aktenseiten
1990 begann Mobil, Öl aus dem verseuchten Boden abzusaugen. Nach Angaben von Sprecherin Nair wurden seither über 35 Millionen Liter beseitigt: "Unser Schwerpunkt liegt auf einem Sanierungsprogramm, das die öffentliche Gesundheit und die Umwelt schützt."
Die regierenden Demokraten im US-Kongress widersprechen. "Die Sanierung geht zu langsam voran und verletzt Umweltgesetze", schimpft der Brooklyner Abgeordnete Anthony Weiner. Auf Druck Weiners hat die US-Umweltbehörde EPA Ermittlungen eingeleitet.
Schon 2004 verklagte Riverkeeper ExxonMobil, Chevron und BP wegen Verstoßes gegen Umweltgesetze - die erste von mehreren Klagen. Vorige Woche schloss sich Brooklyns Stadtteilpräsident Marty Markowitz der Klage an. Trotzdem dümpelt der Fall weiter im Vorverfahren. Die Beklagten seien nicht gerade kooperativ, sagt Seggos. Erst jetzt habe Exxon 150.000 historische Aktenseiten freigegeben.
Die Reinigungsarbeiten seien bis heute nur "rudimentärst", so Riverkeeper. "Seit fünf Jahrzehnten sitzt das Öl unter Greenpoint, zerstört das Grundwasser, macht das Land nutzlos, setzt sich unter über 100 Häusern auf drei Wohnblocks fest, verseucht den Newtown Creek und bedroht Wassertiere und -pflanzen."
Blei, Benzol, Kerosin
"Schwarze Mayonnaise", so nennt Seggos die Ölschlacke tief im Boden. Er hält vor einem fensterlosen Bau: die Exxon-Klärstation. "Vorsicht, Gefahr", warnt ein Schild. Aus einem krummen Rohr tropft Schaum aufs Trottoir.
Gegenüber liegt der Reinigungsbetrieb Long Island Carpet Cleaners. Hier hat Exxon außen ein Ventilationsrohr installiert, da die Öl-Abgase durch den Boden kriechen und die Arbeiter betäuben. "Die Dinge gehen sehr langsam", klagt Firmenchef Barry Swindler.
Dahinter beginnt die Siedlung aus einfachen, doch gepflegten Holzhäuschen. Vor fast jedem weht ein Sternenbanner. "Seit 9/11", sagt Seggos. "Die sind sehr patriotisch." Ab und zu sind Eisendeckel im Gehweg eingelassen: die Bohrstellen, die zum Öl darunter führen.
"Einige von uns haben Asthma", berichtet Marion Tomczak, 77, die ihr ganzes Leben in Greenpoint verbracht hat. "Von den Abgasen kannst du todkrank werden", sekundiert Francis Flynn, 56. Am schlimmsten sei es, wenn das Barometer falle: Da krieche ein übler Geruch aus den Kellern und Gullis. Andere berichten von einem seltenen Knochensarkom. Ein Zusammenhang mit dem Öl bleibt unbewiesen.
"Eine Generation der Verschleppung"
Zwei neue Sammelklagen wollen nun auch Gesundheitsstudien erzwingen. "Unsere Hauptsorge sind Benzol und Methangas", sagt Justin Bloom, einer der Anwälte, dessen Klageschrift auf 158 Seiten insgesamt 392 Nebenkläger auflistet. Das Dokument benennt noch zahlreiche andere Schadstoffe: Petroleum, Petroleumzusätze, Benzin, Blei, Steinkohlenteeröl, Dimethylbenzol, Kerosin.
Bloom kooperiert dazu mit der Großkanzlei Girardi & Keese. Die hatte 1996 mit der Anwaltsgehilfin Erin Brockovich die größte Abfindungssumme der Industriegeschichte erzwungen: Der Energiekonzern PG&R musste wegen Trinkwasserverschmutzung 333 Millionen Dollar zahlen. Der Fall wurde später mit Julia Roberts verfilmt; die echte Erin Brockovich kam Ende 2005 nach Greenpoint und trat auf einer Bürgerversammlung auf.
Während die Zivilklagen nur schleppend vorankommen, erwägen jetzt aber auch der Bundesstaat New York und der US-Kongress Schritte gegen ExxonMobil. New York hat eine Umweltstudie eingeleitet, nachdem gütliche Verhandlungen mit dem Konzern gescheitert waren. Das Justizministerium erwägt Klage.
Der Kongressabgeordnete Weiner will derweil Anhörungen zu Greenpoint abhalten und hat die Abgeordneten zum Ortstermin eingeladen. Dies sei "das größte Umweltdesaster in der Geschichte New Yorks", sagt er. "Einer Generation der Vertuschung durch die Firmen folgte fast eine Generation der Verschleppung."
Link zur Quelle:
http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,463640,00.html |