Bagdad ist nur der Anfang
Während die US-Militärs den Angriff auf den Irak planen, denkt Amerikas neokonservative Elite viel weiter. Von Syrien bis Iran sollen die Regierungen gestürzt werden.
Von Bernhard Odehnal und Martin Kilian
Das Pentagon ist nicht gerade als Ort der Offenheit und Kommunikationsfreude bekannt. Auf dem Weg durch die kilometerlangen Gänge stößt man vor allem auf unendlich viele „No entry!“-Schilder, auf Türen mit geheimnisvollen Codes und auf strenge Wachsoldaten, deren finstere Blicke in etwa besagen: In fünf Sekunden bist du verschwunden oder tot. Unwahrscheinlich, dass aus dieser Festung des amerikanischen Verteidigungsministeriums etwas nach außen dringt, das nicht nach außen dringen soll.
So war es wohl auch kein Fehler im System, sondern politische Strategie, dass die „Washington Post“ Anfang August die Mitschrift eines Briefings mit explosivem Inhalt erhielt. In dem Vortrag mit dem Titel „Wie man die Saudis aus Arabien entfernt“ entwarf der Politologe Laurent Murawiec von der konservativen Denkfabrik Rand Corporation den Mitgliedern des Ausschusses für Verteidigungspolitik eine große Strategie für die Neuordnung des Nahen Ostens. Seine knappe Zusammenfassung: Der Irak sei dabei der taktische, Saudi-Arabien der strategische Angelpunkt, „und Ägypten ist der Preis“. Im Fokus amerikanischer Interessen müsse der Sturz der saudischen Regimes und die Installierung eines haschemitischen Königs sein. Das Geschlecht der Haschemiten regiert heute Jordanien und gilt als besonders amerikafreundlich.
Natürlich beeilte sich das Pentagon, sofort festzustellen, Murawiec’ Vortrag habe nichts mit der politischen Linie der Regierung zu tun, das Königreich sei weiterhin enger Verbündeter. War die Veröffentlichung des geheimen Briefings jedoch als Schuss vor den Bug der Saudis gemeint, so hat sie ihre Wirkung nicht verfehlt: Ein in Panik geratenes saudisches Königshaus betont seither in Vorträgen, Anzeigen und Zeitungskommentaren seine Nähe zu den amerikanischen Freunden und die Reformfreudigkeit im eigenen Land.
Die engagierte PR-Kampagne könnte zu spät kommen. Im Pentagon und im Weißen Haus hat nach den Terrorattacken vom 11. September eine Gruppe außenpolitischer Hardliner das Ruder übernommen, die im Angriff auf den Irak den Beginn einer umfassenden Neuordnung des Nahen Ostens sehen. Sie rechnen mit einem Dominoeffekt: Fällt das Regime von Saddam Hussein, werden sich auch in den Nachbarstaaten die Völker gegen die Diktatoren erheben, notfalls mit amerikanischer Hilfe. Dann könnten das Königshaus Saud ebenso wie die Mullahs im Iran, die Baat-Partei in Syrien und vielleicht sogar Präsident Hosni Mubarak in Ägypten durch amerikafreundliche, prowestliche Regierungen ersetzt werden. Großer Nutznießer dieser Umstürze wäre Israel, das als verlässlichster Bündnispartner in der Region freie Hand zur Lösung des Palästinenserproblems bekäme.
Dass Saddam Hussein nun einlenkt und die Waffeninspektoren ins Land lässt, ist in diesen Planspielen nicht vorgesehen. Sämtliche Zugeständnisse des Irak werden folgerichtig als Tricks und Taktik interpretiert. Die Regierung Bush hat die Kriegsmaschinerie in Bewegung gesetzt. Es sieht nicht so aus, als wäre sie noch zu stoppen. ,,Mit dem Essen kommt eben der Appetit“, sagt John Bunzl, Nahostexperte des Österreichischen Instituts für internationale Politik: ,,Weil der Krieg in Afghanistan so leicht gewonnen wurde, glauben nun die Falken in der US-Regierung, dieselbe Strategie sei überall anwendbar.“
Auch an der ideologischen Front wird mobil gemacht. Seit dem Saudi-feindlichen Briefing im Pentagon erschienen in konservativen Magazinen und auf den Meinungsseiten der Tageszeitungen unzählige Artikel ähnlichen Inhalts: Amerika habe jetzt im Interesse seiner Sicherheit und der sicheren Versorgung mit Öl die Pflicht, in Arabien neue, mit Washington sympathisierende Regierungen zu installieren.
Flaggschiffe der neokonservativen Medien sind die Meinungsseiten des „Wall Street Journal“ sowie das Wochenmagazin „The Weekly Standard“ unter Leitung des neokonservativen Gurus William Kristol. Beide Publikationen fordern lautstark einen Krieg gegen den Irak, notfalls auch ohne den Segen der Vereinten Nationen. Viel gelesene neokonservative Kolumnisten wie Charles Krauthammer oder Robert Kagan sind eifrige Verfechter einer Politik des Alleingangs.
Lobbyisten des Kriegs
Publizistische Trommeln für den Irak-Krieg und die „große Strategie“ im Nahen Osten rühren auch drei neokonservative Think Tanks, die alle gute Verbindungen zur israelischen Regierung und zu Beamten im Pentagon haben: das American Enterprise Institute (AEI), das Washington Institute und das Middle East Forum. Michael Ledeen, Mitarbeiter des AEI, ist gern gesehener Gast in TV-Talkshows, wenn es um den Kampf gegen den Terror geht. In seinem unlängst erschienenen Buch über den Krieg gegen die Herren des Terrors („The War against Terror Masters“) erklärt er vier Staaten des Nahen Ostens zu Unterstützern des internationalen Terror-Netzwerks: Iran, Irak, Saudi-Arabien und Syrien. „Wir werden diesen Krieg gewinnen, und danach wird es keinen Irak mehr geben“, prophezeite Ledeen unlängst in einem Fernsehinterview für den konservativen Sender Fox-TV. Sein Lieblingsprojekt ist jedoch der Sturz des Mullah-Regimes im Iran. Dort sei die Bevölkerung bereit zum Aufstand und würde nur auf Unterstützung aus den Vereinigten Staaten warten. Nicht zuletzt war es sein Einfluss, der die Bush-Regierung vor ein paar Wochen dazu bewegte, den Reformkurs von Präsident Mohammed Khatami für gescheitert zu erklären und nun die Revolution der Zivilgesellschaft zu fördern.
Mindestens ebenso medial präsent wie Ledeen ist Daniel Pipes, Leiter des Middle East Forum, der im Interview mit profil eine „viel entschiedenere Politik gegenüber Saudi-Arabien“ fordert. Die amerikanische Politik, so Pipes, „war bisher in Geiselhaft einiger saudischer und amerikanischer Geschäftsleute, Lobbyisten und Politiker“.
Ideen zur großen Neuordnung des Nahen Ostens sind an sich kein Monopol konservativer Hardliner. Auch Liberale und gemäßigte Republikaner denken seit Jahren über Methoden und Chancen nach, die arabische Welt zu öffnen und zu demokratisieren. Sie denken dabei jedoch eher an eine massive Unterstützung demokratischer Kräfte – so wie in Westeuropa nach 1945 und in Osteuropa nach 1989. Im Frühjahr 1999 veröffentlichten drei Nahostexperten der Rand Corporation, die dem Pentagon nahe steht, eine Studie über politische Stabilität im Nahen Osten. Das Urteil über den Zustand der Staaten in der Region ist vernichtend: „Auf jeder Ebene fehlt es in der Region an verantwortungsvollen Führungskräften. Die herrschenden Eliten verhindern jede politische Öffnung, die ihre Macht bedrohen könnte.“ Aber auch die Perspektiven sind für die Rand-Experten ernüchternd: Vielleicht habe der Nahe Osten das Potenzial zu einer positiven Entwicklung, so wie Osteuropa, Südostasien oder Lateinamerika: „Aber für die meisten Nationen im Nahen Osten scheinen politische Reformen in naher Zukunft nicht realistisch zu sein.“
Vom Krieg war damals noch nicht die Rede. Nur von einer Strategie, „Saddam in die Enge zu treiben“. Und im Übrigen sollten die Amerikaner „politische Reformen ebenso vorantreiben wie Verbesserungen im Gesundheits- und im Schulsystem, und wir sollten in der gesamten Region Arbeitsmöglichkeiten schaffen“.
Nichts anderes hätten sie im Sinn, behaupten die neokonservativen Berater von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Vizepräsident Dick Cheney: Demokratie und Wohlstand für den Nahen Osten, freien Zugang für amerikanische Unternehmen zu den Ölquellen. Die Idee von einem sanften Wandel der Region halten sie jedoch für liberales Geschwätz. Sie verstehen sich als intellektuelle Speerspitze des amerikanischen Imperiums, sehnen den Krieg gegen Saddam herbei, stärken Israels Premier Ariel Sharon bedingungslos den Rücken und erfanden die „Achse des Bösen“.
Wer sind diese Neokonservativen oder „Neocons“, wie sie in den Vereinigten Staaten genannt werden, die in Washington derzeit den Ton angeben?
Das Geburtsdatum des Neokonservativismus als einer politischen Bewegung fällt in die späten siebziger Jahre, als desillusionierte Ex-Demokraten während der Präsidentschaft Jimmy Carters eine härtere Gangart gegenüber der Sowjetunion mitsamt einer wertkonservativen Gesellschaftspolitik verlangten.
Die New Yorker Intellektuellen Irving Kristol und Norman Podhoretz bildeten den frühen Kern des neokonservativen Aufstands gegen amerikanische Liberale und Linke. Bald setzten sich Neocons in der zunehmend konservativeren Republikanischen Partei fest. Sowohl unter Ronald Reagan als auch dem älteren George Bush spielten sie jedoch nur Nebenrollen.
Globale Machtspiele
Erstmals ins Rampenlicht gerieten die außenpolitischen Glaubenssätze der Neokonservativen in einem Anfang 1992 durchgesickerten Pentagon-Planungsdokument, dessen Verfasser, darunter der prominente Neocon und jetzige stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz, eine Verewigung globaler amerikanischer Hegemonie forderten. Die Vereinigten Staaten, so das Dokument, „müssen Mechanismen aufrechterhalten, um politischen Konkurrenten“ eine „globale Rolle“ zu verwehren. Im Klartext: Nie wieder dürfe Washington einen strategisch ebenbürtigen Widersacher wie die Sowjetunion dulden.
Besonders das Pentagon wurde mit dem Amtsantritt George W. Bushs zu einer Domäne der Neocons. Neben Wolfowitz bestimmen zwei neokonservative Falken die politische Diskussion im Verteidigungsministerium: der für politische Planung zuständige Staatssekretär Douglas Feith und Richard Perle, ehemaliger Staatssekretär in der Ära Reagan und Vorreiter einer kompromisslosen amerikanischen Außenpolitik. Heute leitet Perle jenes einflussreiche Beratergremium des Verteidigungsministeriums, in dem im Sommer der Experte der Rand Corporation seinen Vortrag über Saudi-Arabien als „Kern des Bösen“ halten durfte.
Nicht nur im Pentagon sitzen Neocons. Selbst in Colin Powells Außenministerium hat sich ein neokonservativer Falke eingenistet: der für Abrüstungsfragen und internationale Verträge zuständige Unterstaatssekretär John Bolton, ein erbitterter Feind jeglichen Multilateralismus. Der amerikanische Ausstieg aus dem Vertrag zur Schaffung eines Internationalen Gerichtshofs sei der glücklichste Moment seiner Karriere gewesen, bekannte Bolton. Ob Kioto, ABM-Vertrag oder Genfer Biowaffen-Protokoll: Stets schießt Bolton quer. Seine Ernennung nährte in Washington den Verdacht, er solle im Außenministerium als „Aufpasser“ wirken.
So viel Aufwand wäre nicht notwendig gewesen. Powell wurde zur Seite geschoben. Die Falken sind im Aufwind, in amerikanischen Umfragen stieg in den vergangenen Tagen die Zustimmung der Bevölkerung zu einem Militärschlag. Fast 60 Prozent halten den Krieg gegen Saddam für notwendig. Selbst in liberalen Denkfabriken wie dem Council on Foreign Relations (CFR) ist man überzeugt, dass der Konflikt nicht zu verhindern sei.
Die US-Regierung könne nicht mehr zurück, sagt CFR-Analytikerin Jessica Fugate. George W. Bush werde jedoch den NATO-Gipfel Ende November in Prag abwarten, um die Alliierten auf Linie zu bringen. Der Sieg im Irak, meint Fugate, könne tatsächlich weitere Regimewechsel auslösen. Aber um den Nahen Osten nachhaltig zu verändern, brauche man vor allem gute politische Führer und viel Zeit: „Wer Demokratie über Nacht erzwingen will, provoziert Unruhen und Chaos.“
Quelle: www.profil.at – Das Online-Magazin Österreichs, Heft 39/2002-09-25
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