In Renaissance und Humanismus bildeten die Sibyllen eine willkommene Verbindung zwischen den neu entdeckten geistigen Wurzeln der Antike und einem aus dieser Sicht neu interpretierten christlichen Verständnis. Die Grundlage dieser christlichen sibyllinischen Tradition bildete das „Sibyllinische Orakel“, eine im 6. Jahrhundert n. Chr. zusammengestellte Sammlung, die auf jüdische, christliche und heidnische Quellen aus der Zeit von 150 v. Chr. bis bis 300 n. Chr. zurückgeht und mit den römischen „Sibyllinischen Büchern“ nicht identisch ist.
Orlando di Lasso schrieb seine Prophetiae Sibyllarum als junger, jedoch bereits berühmter Komponist etwa in der Mitte der 1550er Jahre. Das Werk fand Eingang in eine prachtvolle Handschrift, die für den privaten Gebrauch seines Fürsten, des kunstsinnigen Herzogs Albrecht V. von Bayern, bestimmt war; zu Lebzeiten Albrechts konnte es also nicht im Druck erscheinen. Tatsächlich hat erst Lassos Sohn Rudolph 1600, sechs Jahre nach dem Tod des Vaters, die Prophetiae Sibyllarum im Druck erscheinen lassen.
Lasso vertont 12 am „Sibyllinischen Orakel“ ausgerichtete Dichtungen in vierstimmigem homophonem Satz, wobei er ausgiebigen Gebrauch von chromatischen Harmonieverbindungen machte, die selbst auf unsere heutigen an Dissonanz bis hin zur Kakophonie gewöhnten Ohren immer wieder einen frappierenden Eindruck machen.
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