Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) übergibt die Schatzkammer des Staates nach der voraussichtlichen Bundestagswahl am 18. September besenrein an seinen Nachfolger. Im nächsten Jahr soll nach Eichels Haushaltsentwurf, den das Kabinett zur Kenntnis genommen, aber nicht offiziell beschlossen hat, noch einmal ordentlich Kasse gemacht werden.
Hans Eichel veräußert die letzten wertreichen Aktienpakete des Bundes, macht nochmals Forderungen gegenüber den Postnachfolgeunternehmen vorzeitig zu Geld und profitiert vom Vorziehen der Beitragspflicht für die Sozialbeiträge - was nach seiner Rechnung einen Zuschuß zum Haushalt der Bundesagentur für Arbeit entbehrlich macht.
Eine „nie dagewesene, kritische Lage”
Durch diese Einmalmaßnahmen soll der Bundeshaushalt im Jahr 2006 um 32 Milliarden Euro entlastet werden. Dieser Weg zu einem verfassungskonformen Haushaltsentwurf ist nach Eichels Worten nur noch dieses eine Mal möglich: „Am Ende des Jahres 2006 werden die Einmaloptionen erschöpft sein”, teilte er Mitte Juli mit. Was das bedeutet, macht er gleichzeitig deutlich: „Ab dem Jahr 2007 weist der Finanzplan daher einen erheblichen strukturellen Handlungsbedarf in einer Größenordnung bis zu 25 Milliarden Euro aus.”
Der Minister, der vor sechs Jahren als eiserner Sanierer angetreten war, hinterläßt eine Finanzlage, die ernster ist als je zuvor. Daß die Situation in vielen Bundesländern nicht anders ist, macht die Sache nicht besser. Bundespräsident Köhler hat die Finanzlage des Staates in seiner Begründung, warum er den Bundestag aufgelöst hat, dezidiert als eine der Aufgaben genannt, für die die Bundesregierung eine verläßliche, handlungsfähige Mehrheit im Bundestag benötigt: „Die Haushalte des Bundes und der Länder sind in einer nie dagewesenen, kritischen Lage.”
Finanzpolitik aus dem Ruder gelaufen? Nach dem fluchtartigen Abgang seines Vorgängers Lafontaine hatte Eichel bei seinem Antritt im Jahr 1999 von der Notwendigkeit gesprochen, jährlich 30 Milliarden D-Mark, also umgerechnet etwa 15 Milliarden Euro, einzusparen. Die Kürzungen hatte er seinen Kollegen auch weitgehend abgetrotzt - dennoch fehlt, wenn das Tafelsilber verkauft sein wird, fast der doppelte Betrag. Irgend etwas ist offensichtlich in Eichels Amtszeit in der Finanzpolitik aus dem Ruder gelaufen.
Wenn Eichel nach der ersten rot-grünen Legislaturperiode als Bundesfinanzminister zurückgetreten wäre, hätte er eine berechtigte Chance gehabt, als ein ganz Großer seiner Zunft in die Geschichte einzugehen. Er hatte nicht nur das Sparpaket kurz nach Aufnahme der Amtsgeschäfte 1999 durchgesetzt, sondern auch einen Finanzplan vorgelegt, der stetig sinkende Defizite für den Bund vorsah. Bis Ende des Jahres 2001 lief auch alles nach Plan. Der Mann aus Kassel predigte wider die Sünde defizitären Lebens auf Kosten der Kinder und Enkel - und wurde damit zu einem der populärsten Politiker im Kabinett Schröder. Auch schaffte er es in den frühen Jahren seiner Amtszeit, Planung und Abschluß, Soll und Ist der Haushalte im Gleichgewicht zu halten. Krönender Abschluß sollte der erste ausgeglichene Etat nach 35 Jahren sein. Im Jahr 2006 sollte der Bund erstmals seit 1970 wieder ohne neue Schulden auskommen.
Wendepunkt 2002
Das Jahr 2002 wurde für Eichel zum Wendepunkt - weil er im Amt blieb, obwohl die Unterstützung für seine Sparpolitik schwand. Auch kündigte er seither regelmäßig mehr an, als er halten konnte. Vor der Bundestagswahl 2002 verhinderte Eichel eine Frühwarnung aus Brüssel angesichts der steigenden Neuverschuldung Deutschlands. Er versprach, daß die Defizitobergrenze von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht überschritten werde. Bis zur Bundestagswahl hielt er daran fest, obwohl seine Fachleute schon im Juli 2002 prognostiziert hatten, daß sein Budgetdefizit nicht wie geplant 21 Milliarden Euro, sondern 33 Milliarden Euro betragen werde. Noch Ende September meldete Eichel eine Defizitquote von 2,9 Prozent nach Brüssel. Erst nach der Bundestagswahl gestand er Mitte Oktober ein, dieser Wert sei nicht zu halten. Das hatte ihm und der rot-grünen Koalition den von der Opposition durchgesetzten sogenannten Lügen-Untersuchungsausschuß eingetragen.
Steigende Neuverschuldung, hohes Staatsdefizit
Eichel konnte oder wollte damals den Ernst der Lage nicht mehr vermitteln. In den Koalitionsverhandlungen wurde er abgekanzelt, wenn er Bedenken anmeldete, wie anschließend durchsickerte. Sein berüchtigtes Steuervergünstigungsabbaugesetz scheiterte am Widerstand in Bevölkerung und Bundesrat. Die Haushaltsergebnisse dieses und der nächsten Jahre sprechen für sich: 2002 stieg die Neuverschuldung auf letztlich fast 35 Milliarden Euro, die Defizitquote des Staates am Bruttoinlandsprodukt erreichte 3,7 Prozent, wozu auch die Sozialversicherungen, Länder und Kommunen ihr Teil beitrugen. 2003 verdoppelte Bundeskanzler Schröder kurzerhand die Nettokreditaufnahme, am Ende waren es 38,6 statt der geplanten 18,9 Milliarden Euro. Das Staatsdefizit erreichte nunmehr 3,8 Prozent.
Eichel: Opposition ist schuld
Für 2004 entsprach schon der Haushaltsentwurf nicht mehr der Vorgabe des Grundgesetzes, nach der die Neuverschuldung nicht höher sein darf als die Investitionsausgaben. Mitte 2003 hatte das Kabinett in Neuhardenberg beschlossen, die letzte Steuersenkungsstufe zur Konjunkturstimulierung vorzuziehen. Damit überstieg die absehbare Neuverschuldung mit rund 30 Milliarden Euro die Investitionen um etwa sieben Milliarden Euro. Auch das akzeptierte Eichel. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Das Defizit lag am Ende nur knapp unter 40 Milliarden Euro - und die Union zog mit der FDP gegen Eichels Haushaltspolitik vor das Bundesverfassungsgericht.
Schuld an dem beschleunigten Marsch in die Schuldenfalle gibt der SPD-Politiker der Opposition von Union und FDP. Sie habe die von ihm Ende des Jahres 2002 vorgeschlagenen Subventionskürzungen nicht mitgetragen. Das ist allerdings nur ein Teil der Wahrheit, denn auch die rot-grüne Koalition hatte in der zweiten Halbzeit ihrer Regierungszeit offenkundig die Lust am Konsolidieren verloren. Außenminister Fischer von den Grünen brachte es vor etwas mehr als einem Jahr auf den Punkt: „Nur sparen, streichen, kürzen bringt uns nicht das notwendige Wachstum.”
Konsolidieren, ohne zu sparen
Selbst Eichel hat sich mittlerweile vom bedingungslosen Konsolidieren verabschiedet. Anders als früher, als er sarkastisch bemerkte, daß die Politik stets Gründe gefunden habe, nicht zu sparen, obwohl es höchste Zeit gewesen sei, koppelte er eigene Anstrengungen nunmehr an ein ausreichendes Wachstum. Sein neues Motto hieß: Die Finanzpolitik dürfe die Konjunkturdelle nicht vertiefen. Konsolidieren, ohne zu sparen, lautet seither seine Zauberformel, da das Wachstum trotz - oder besser wegen - rekordverdächtiger Defizite nicht anspringen will.
So wird Deutschland mit dem Bund an der Spitze im Jahr 2006 zum fünften Mal nacheinander gegen das europäische Defizitkriterium verstoßen. Nach den Berechnungen, die das Bundesfinanzministerium dem Finanzplanungsrat vorlegte, wird das deutsche Staatsdefizit im nächsten Jahr 3,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen, nach 3,7 Prozent im Jahr 2005. Selbst im Jahr 2007 würde Deutschland nach seinen Berechnungen mit 3,1 Prozent knapp über der Obergrenze von 3 Prozent liegen.
EU-Sanktionen gegen Deutschland?
Die rot-grüne Koalition hat es somit nicht geschafft, die Defizite zu zügeln, statt dessen hat sie in Brüssel daran gearbeitet, die einst von den Deutschen durchgesetzten Regeln aufzuweichen. Sie hat erreicht, daß der Stabilitäts- und Wachstumspakt unverbindlicher wurde - doch existiert er noch. Aus Brüssel hat es unlängst Signale gegeben, daß auf Deutschland eine verschärfte Haushaltsüberwachung durch die Europäische Kommission zukommen dürfte. Sollte Deutschland dann die ihm auferlegten Auflagen nicht einhalten, müßte der frühere stabilitätspolitische Musterknabe sogar mit Sanktionen rechnen.
Eichel nutzte die jüngste Vorlage seines Haushaltsentwurfs für das kommende Jahr zu dem bemerkenswerten Eingeständnis, dies sei nicht die Finanzpolitik, wie er sie sich wünsche. Das bezog sich auf die Einmalmaßnahmen in Rekordhöhe, dürfte aber auf das gesamte Zahlenwerk zu übertragen sein.
Faz. |