"Ich hoffe, dass ich mich irre"
Der Euro gefährdet Europa, der Weltwirtschaft droht eine Depression - und die US-Notenbank riskiert alles. Ein ZEIT-Gespräch mit dem amerikanischen Nobelpreisträger Milton Friedman
Von Petra Pinzler (Gesprächsführung)
DIE ZEIT: Professor Friedman, Sie leben in San Francisco, der Heimat der New Economy. Haben Sie am Internet-Boom verdient?
MILTON FRIEDMAN: Nein, ich spekuliere nicht. Das kostet zu viel Zeit.
ZEIT: Beobachtet haben Sie das Ganze aber schon. Sie prophezeiten das Platzen der Spekulationsblase bereits vor zwei Jahren.
FRIEDMAN: Und ich lag falsch, ich hatte zu früh an den Crash geglaubt. Wäre ich beim Spekulieren meinem Ratschlag gefolgt, dann wäre ich heute mein letztes Hemd los.
ZEIT: Warum irrten Sie?
FRIEDMAN: Keine Ahnung. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis vieler Internet-Werte war schon lange vor dem Ende des Booms untragbar. Unternehmen verloren Geld und wurden trotzdem fantastisch beurteilt. Jeder wusste, dass das so nicht weitergehen konnte. Anfang und Ende von Spekulationsblasen lassen sich aber einfach nicht logisch erklären.
ZEIT: Sie haben auch bezweifelt, dass wirklich eine neue Ökonomie entstanden ist.
FRIEDMAN: Alle Argumente, die man in den neunziger Jahren hören konnte, wurden auch in den zwanziger Jahren angeführt. Und beide Male stimmten sie, denn in beiden Fällen gab es einen technologischen Durchbruch - in den Zwanzigern durch die Automobilindustrie und die Elektrizität, in den Neunzigern durch Telekommunikation und Computer. Beide Male wuchs zudem die Wirtschaft stark, und auch der Aktienmarkt boomte besonders bei den High-Tech-Aktien. Es entstand also durchaus eine neue Wirtschaft; und gleichzeitig war es doch die alte, denn sie funktionierte immer noch nach den bewährten ökonomischen Regeln.
ZEIT: Die Zwanziger endeten ziemlich böse mit der Weltwirtschaftskrise. Was ist heute anders?
FRIEDMAN: Wir haben inzwischen sogar drei ähnliche Episoden erlebt: die Zwanziger, die Achtziger in Japan und die neunziger Jahre in den USA. Der erste Boom endete in Desaster und Depression, der zweite immerhin noch in einer langen Rezession. Nun müssen wir abwarten, was diesmal passiert. Für Vorhersagen ist es zu früh. Man kann eine Geschichte nicht vom Ende her erzählen.
ZEIT: Sie machen die Geldpolitik für die ersten beiden Krisen verantwortlich.
FRIEDMAN: Mit den Wirtschaftsaufschwüngen hatte die Geldpolitik nichts zu tun, die wurden von echtem technologischem Fortschritt genährt. Aber nach dem Crash handelten die Notenbanker jedes Mal falsch, sie reduzierten die Geldmenge. Es ist also höchst interessant zu beobachten, wie sie heute experimentieren. Diesmal nämlich unterscheidet sich die Geldpolitik grundlegend von der der Vergangenheit. Sie ist sehr ungewöhnlich. Denken Sie einmal über folgendes Szenario nach: Die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa vier Prozent, die Produktion wächst um vier Prozent, die Inflationsrate liegt bei etwa zwei Prozent. Was würden Sie tun?
ZEIT: Wahrscheinlich nicht die Zinsen senken, sondern eher eine restriktive Geldpolitik betreiben.
FRIEDMAN: Genau. Sie würden jedenfalls keine expansive Geldpolitik betreiben. Genau das aber geschieht in den USA seit langer Zeit - mit der Gefahr, in eine Inflation zu geraten.
ZEIT: Der Grund dafür ist doch wohl die Hoffnung, in Amerika auf diese Weise die Rezession zu verhindern. Geben Sie dieser Strategie eine Chance?
FRIEDMAN: Ja, aus einem Grund - wegen des Respektes, den ich für den US-Notenbankchef Alan Greenspan hege.
ZEIT: Mit diesem Kompliment verstoßen Sie aber gegen Ihre eigene Theorie, dagegen, dass Geldpolitik nicht aktiv betrieben werden sollte, sondern Zinssätze am besten langfristig festgeschrieben werden sollen.
FRIEDMAN: Stimmt. Ich stecke da in einem Dilemma. Mein Instinkt sagt mir, diese Politik ist viel zu expansiv. Gleichzeitig aber erleben wir eine außergewöhnliche Situation. Versetzen Sie sich in die Lage von Greenspan. Der kennt die Vergangenheit und wird sich ständig sagen: Wir wollen nicht die gleichen Fehler machen wie damals. Wir werden es nicht so enden lassen.
ZEIT: Also macht er etwas, das noch nicht ausprobiert worden ist ...
FRIEDMAN: ... und wenn er damit Erfolg hat, dann verdient er einen Orden.
ZEIT: Was sagen Sie zur Politik der Europäischen Zentralbank? Sie folgt Ihren geldpolitischen Ideen viel strikter und muss gleichzeitig viel mehr Kritik hinnehmen.
FRIEDMAN: Im Großen und Ganzen hat die Zentralbank alles richtig gemacht. Sie hat eine sehr stabile Geldpolitik verfolgt. Europa geht es doch vergleichsweise gut. Es geht zwar Furcht vor der Rezession um, aber die ist ja nicht da.
ZEIT: Dennoch haben immer noch wenige internationale Kapitalanleger Vertrauen zur europäischen Währungszone und dem Euro gefasst.
FRIEDMAN: Der Euro ist seit einiger Zeit deutlich unterbewertet und der Dollar überbewertet. Allerdings habe ich den Euro immer für einen Fehler gehalten und glaube, die Mitgliedsländer mit ihrer unterschiedlichen Wirtschaftspolitik werden künftig viele Probleme bekämpfen müssen. Ich hoffe aber, dass ich mich auch hier irre. Möglicherweise wird er ein großer Erfolg. Wenn die Länder ihre Volkswirtschaft ausreichend reformieren, könnte er eine wunderbare Sache sein.
ZEIT: Genau da liegt aber ein grundlegendes Problem: Die Europäer sind ja gerade stolz darauf, ihre Märkte nicht so stark liberalisiert zu haben wie die Vereinigten Staaten - mit dem Argument, das sorge für größere soziale Gerechtigkeit.
FRIEDMAN: Und die Folge? Am Ende haben sie weniger soziale Gerechtigkeit. Denn: Ist das durchschnittliche Einkommen der Bürger so hoch, wie es sein könnte, wenn die Regierung nicht so viel davon wegnähme?
ZEIT: Der Durchschnitt ist wenig relevant, denn der verschleiert die Kluft zwischen Arm und Reich.
FRIEDMAN: Schauen wir doch mal in die Vergangenheit. Den Superreichen geht es heute, mal abgesehen von der Gesundheitsvorsorge und den Transportmöglichkeiten, doch nicht besser als vor hundert Jahren. Große Häuser besaßen sie immer, und fließendes Wasser hätten sie damals gar nicht gebraucht, denn sie hatten ja eilende Sklaven. Die Armen hingegen konnten ihren Lebensstandard enorm verbessern, sie haben Autos, Fernseher, fließendes Wasser.
ZEIT: ... und diese Privilegien haben sie sich heftig erkämpfen müssen.
FRIEDMAN: Nein, die haben sie dem Kapitalismus zu verdanken. Die Regierung hat die Waschmaschine nicht erfunden. Es lässt sich schlicht nicht beweisen, dass es in Europa heute durch den Wohlfahrtsstaat größere Gleichheit zwischen Arm und Reich gibt als ohne ihn.
ZEIT: Wenn das alles stimmen sollte, warum akzeptieren es die Menschen und wählen Regierungen, die ihnen einen Sozialstaat europäischer Prägung bieten?
FRIEDMAN: Weil sie glauben, sie bekommen etwas kostenlos.
ZEIT: Menschen wollen soziale Gerechtigkeit doch nicht nur für sich. Schauen Sie sich die Bewegung der Antiglobalisierer an. Die hat sich nicht nur den Kampf für die Armen im eigenen Land, sondern weltweit auf ihre Fahnen geschrieben.
FRIEDMAN: Kein Zweifel. Es gibt Altruisten. Hinter der Antiglobalisierungsbewegung stecken aber vor allem die Gewerkschaften, die den Enthusiasmus von jungen Leuten missbrauchen.
ZEIT: Abgesehen von den Chaoten - würden sie den Demonstranten nicht zumindest zugestehen, sich um tatsächlich bestehende Probleme zu kümmern, beispielsweise um die Armut in der Dritten Welt?
FRIEDMAN: Gut, nehmen wir deren Einsatz für die Dritte Welt. Da boykottieren wohlmeinende Menschen Läden, die Waren verkaufen, die in der Dritten Welt hergestellt worden sind. Wem helfen sie damit? Geht es den Arbeitern in den sweat shops besser, wenn sie dort nicht mehr arbeiten können?
ZEIT: Die Demonstranten wollen nicht die Arbeitsplätze vernichten, sondern die Arbeitsbedingungen verbessern.
FRIEDMAN: Indem sie die Nachfrage reduzieren? Gerade der Preiswettbewerb kommt den armen Ländern doch zugute. Wenn man in der Dritten Welt die Löhne erhöht, gibt es keinen Grund mehr, ausgerechnet dort fertigen zu lassen. Wenn ein amerikanischer Unternehmer dort genauso viel zahlen muss wie in den USA, kann er auch gleich zu Hause produzieren. Und außerdem: Wer von den jungen Demonstranten will denn selbst hohe Preise für Textilien zahlen? Stellen Sie sich beispielsweise vor, die amerikanische Bekleidungskette Gap hätte zwei Läden: Der eine verkauft Textilien, die unter besten Arbeitsbedingungen produziert werden. Der andere lässt dort produzieren, wo es am billigsten ist. Wo würde wohl eingekauft werden?
ZEIT: Das wäre einen Versuch wert.
FRIEDMAN: Sie wissen genauso gut wie ich, was passieren würde. Ein oder zwei Tage würden alle in den ersten gehen, dann aber würden sie bei dem anderen vorbeischauen ...
ZEIT: Wie lautet Ihr Rezept gegen Armut? Der Markt wird es richten? Das stellt die Geduld gerade unter den Ärmsten auf eine sehr harte Probe.
FRIEDMAN: Kennen Sie ein Land, in dem ohne Markt viel verbessert wurde? Schauen Sie sich beispielsweise Indien an, eine Nation mit weitgehend staatlich geplanter Wirtschaft - und desaströsen Ergebnissen. An den Menschen dort liegt es nicht. Indern außerhalb Indiens geht es ökonomisch meist sehr gut.
ZEIT: Gibt es denn keinen einzigen Bereich, wo Sie den Staat für sinnvoll halten?
FRIEDMAN: Am meisten gefällt er mir, wenn er Bürgern Geld zurückgibt. Außerdem sollte er natürlich die Regeln des Spiels bestimmen, man braucht ein Rechtssystem, Schutz gegen Gewalt. Aber der Staat ist eben ein miserabler Unternehmer, er sollte das erst gar nicht versuchen. Fragen Sie doch mal einen normalen Bürger nach den Dingen, die er täglich benutzt. Danach fragen Sie ihn, wie viele dieser Dinge vom Staat kommen. Und dann sagen Sie ihm noch, dass er ein Leben lang die Hälfte seines Einkommens an die Staatskasse zahlt.
ZEIT: Der Ökonom Paul Samuelson hat einmal über Sie gesagt: Gott hat ihm so viel gegeben, aber nicht die Gabe des Zweifels. Kommt Ihnen bei manchen Ihrer Aussagen nach all den Jahren nicht doch ein Zweifel?
FRIEDMAN (lacht): Na klar. Aber ich werde Ihnen nicht sagen, bei welchen.
(c) DIE ZEIT 26/2001 |