Daniel Barenboim Der Pianist und Dirigent Daniel Barenboim setzt sich wie kaum ein anderer Künstler von Weltruhm für Versöhnung im Nahostkonflikt ein. Er ist in den Palästinensergebieten in Konzerten aufgetreten und hat das West-Eastern Divan Orchestra aus jungen israelischen und arabischen Musikern gegründet. In Israel hat er sich für die dort heftig umstrittene Aufführung von Werken Richard Wagners eingesetzt. Barenboim, 1942 in Buenos Aires in einer vor den Pogromen im zaristischen Russland geflohenen jüdischen Familie geboren, war ein musikalisches Wunderkind: Er hat sein Klavierdebüt mit sieben Jahren gegeben. Von 1991 bis 2006 war er Chefdirigent des Chicago Symphony Orchestra, seit 1992 ist er Generalmusikdirektor der Staatsoper Berlin. ... ZEIT: Die israelische Regierung argumentiert mit ihrem Recht auf Selbstverteidigung. Barenboim: Natürlich. Wenn du ein anderes Land besetzt, dann musst du dich die ganze Zeit verteidigen. ZEIT: Halten Sie die israelische Bedrohungsanalyse nur für Einbildung oder Paranoia? Barenboim: Nein, die Israelis müssen sich in der Tat verteidigen, aber nur deshalb, weil sie so agieren, wie sie es getan haben und weiterhin tun. Sehen Sie, man kann mit Blick auf die Palästinenser bezweifeln, ob sie wirklich das Existenzrecht Israels akzeptieren und ob sie wirklich mit den Juden zusammenleben wollen. Nur hat das, anders als eine verbreitete israelische Interpretation unterstellt, mit den Nazis und dem Holocaust nichts zu tun. Wenn ein Palästinenser, dessen Familie ein Haus in Jaffa oder in Nazareth seit dem 11. Jahrhundert besitzt, nun nicht mehr das Recht hat, dort zu leben, und dieser Mensch hasst dann die Israelis – das hat doch mit Adolf Hitler nichts zu tun. ZEIT: Sie meinen, Israel verteidigt nicht sich selbst, sondern die eigene Besatzungspolitik? Barenboim: Wenn die Blockade des Gaza-Streifens nicht da wäre, müsste man sie auch nicht auf diese übertriebene Weise sichern und aufrechterhalten. Ich würde heute hinfliegen, wenn ich wüsste, ich könnte hineinkommen und spielen. ... Barenboim: Wir waren jetzt die Mehrheit. Es gab nicht mehr nur mehr jüdische Künstler oder jüdische Bankiers, sondern auch jüdische Räuber, jüdische Prostituierte, jüdische Soldaten und jüdische Bauern – alles, was dazugehört. Diesen Übergang hat Israel, wenn ich es jetzt nur von israelischer Seite aus betrachte, gut gemeistert. Meine Generation in Israel wollte wirklich eine neue Gesellschaft, nicht ein Ghetto, nicht die Diaspora – sie wollte wirklich auch ein Teil des Nahen Ostens sein. ZEIT: Und wann hat sich das geändert? Barenboim: Der Sechstagekrieg von 1967 war der Wendepunkt. Nach dem Sieg über die Araber begann die Besetzung arabischen Landes, die Herrschaft über eine andere Minderheit. Diesen zweiten Übergang hat man weder intellektuell noch emotional vollzogen. Wenn ich Jude bin im Warschauer Ghetto und ich habe ein uraltes Stück Brot, das man nicht mehr essen kann, und vor mir läuft ein Offizier der SS, und ich werfe dieses Stück Brot vor seine Füße und sage: "Das ist gut genug für dich, aber nicht für mich" – dann ist das ein fantastischer Akt des Widerstands. Aber jetzt bin ich israelischer Soldat im besetzten Westjordanland, ich habe auch so ein Stück Brot, und da läuft ein verhungerter palästinensischer Flüchtling vorbei – und ich werfe es auch? Und sage das Gleiche? Das geht eben nicht. ZEIT: Wenn man in der Position der Stärke ist… Barenboim: …dann wird es zynisch. Mit der Zeit ist die israelische Besetzung mehr und mehr kolonialistisch geworden. Kolonialmächte sind aber verantwortlich für die Lebensqualität der lokalen Bevölkerung. Wo sind die Schulen und Krankenhäuser, die die Israelis in Ramallah errichtet haben, um nur von einer Stadt zu reden? Warum haben sie keine erschwinglichen Wohnungen gebaut für die Flüchtlinge? ZEIT: Die israelische Politik sagt: Wir haben keine Partner auf palästinensischer Seite. Barenboim: Meinen Sie, die Palästinenser haben einen Partner? In Palästina haben Sie Fatah und Hamas, und Sie haben den dritten Weg der Mubadara, geleitet von einem Politiker wie Mustafa Barghouti, der sagt: "Widerstand, aber ohne Gewalt". Einen dritten Weg, einen Mustafa Barghouti – das gibt es in Israel nicht. Wenn es so weitergeht, sind die Tage von Israels Existenz gezählt. Die demografische Entwicklung zeigt uns, dass die Juden nicht in der Mehrheit bleiben werden. Was dort passiert, das ist Apartheid, das ist nicht haltbar. Und was mich wirklich wütend macht, ist, dass viele israelische Regierungen, nicht nur die jetzige, davon überzeugt sind, sie hätten das Recht, Leute umzubringen, weil sie Israels Existenzrecht nicht anerkennen. Das kann doch nicht sein. ZEIT: Sie meinen die sogenannten "gezielten Tötungen". Barenboim: Ja. Dafür gibt es keine Rechtfertigung. Barenboim: Als ich einen meiner ersten Besuche in Ramallah im Westjordanland machte und vor 200 palästinensischen Kindern gespielt habe, da kam ein Mädchen, und ich habe sie gefragt: "Sag mal: Freust du dich, dass ich hier bin?" – "Ja, sehr", sagt sie. "Warum?", habe ich gefragt, und sie hat mir eine Antwort gegeben, die ich nie vergessen werde: "Weil du das erste Ding aus Israel bist, das kein Soldat und kein Panzer ist". Verstehen Sie? "Das erste Ding" … Damit hatte sich mein Besuch schon gelohnt. Und deswegen würde ich auf jeden Fall nach Gaza gehen und spielen wollen, wenn es möglich wäre. Ich möchte, dass die Menschen in Gaza wissen, dass es Menschen gibt, die anders denken. ZEIT: Aber Hamas lehnt die Existenz Israels ab. Barenboim: Beide Seiten müssen das Recht der anderen, dort zu sein, anerkennen. In irgendeiner Form. Aber der größere Teil der Verantwortung dafür liegt auf israelischer Seite. ... mehr http://www.zeit.de/2010/24/Barenboim-Interview?page=1 ----------- 'The fight is finished before it is begun' Morihei Ueshiba |