Die Kreuzchen und das Glück Selbst (meistens) recht vernünftige Zeitgenossen - wie zum Beispiel meine Frau - äußern in diesen Tagen am Frühstückstisch erstaunliche Sätze. Sie beabsichtigen, ihren Fuß an einen Ort zu setzen, den sie niemals zuvor aufgesucht haben: die Lottoannahmestelle. Diese Menschen sind von einem Fieber erfasst, das parallel zum Anwachsen des Jackpots von Woche zu Woche steigt und am heutigen Mittwoch bei dem Schwindel erregenden Messwert von 25 Millionen Euro angelangt ist. Ihre Hoffnung auf das große Glück indes, sie unterliegt den quälenden Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Diese räumt dem Fall, sechs Richtige zu tippen, eine Chance von eins zu 14 Millionen ein. Soll auch die Superzahl stimmen - dann lockt das ganz große Geld -, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit auf eins zu 140 Millionen. Das Verhältnis rückt die Hoffnung auf einen Lottogewinn klar in den Bereich des Irrationalen. Auf der anderen Seite gibt es aber Spieler, die in den Genuss dieses verrückten Glückes gekommen sind. Genau dies macht die eigentümliche Aura der Lotterie aus: Auf sie zu setzen, ist zutiefst unvernünftig - und entbehrt doch nicht eines wenn auch noch so winzigen Kerns von Vernunft. Von Wahrscheinlichkeit eben.
Der Lottospieler sieht sich einem riesigen Meer von Zufällen gegenüber, das sich in seinem Fall als Zahlenmeer darstellt. Er kann darauf ebenso zufallsgesteuert reagieren und seine Kreuzchen irgendwohin setzen. Psychologisch einleuchtender ist es, Zahlen zu wählen, die individuelle Bedeutung besitzen: Geburtsdaten, Trikotzahlen der Lieblingsfußballer, die eigene Telefonnummer. Solche Zahlen suggerieren die Macht, die Gewalt des Zufalls zu bannen und Orientierungsbojen in seinem grauen Meer zu verankern. Vielleicht führen sie ans Ziel . . .
In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung wird der „Pursuit of Happiness“, das Streben nach Glück, proklamiert. Ein jeder soll die Möglichkeit haben, in dieser Welt seine Ziele zur eigenen Zufriedenheit in die Tat umzusetzen. Dieses Streben aber setzt eine Tätigkeit voraus, also Arbeit. Alles, wovon ein Lottogewinn befreit.
Der Lottogewinn, erst recht einer von 25 Millionen Euro, ist die Verheißung, mit geringstmöglichem Einsatz den größtmöglichen Gewinn zu erzielen, das eigene Leben mithin (fast) ohne eigenes Zutun zum Guten zu wenden. Grundlage dieser Hoffnung sind nicht mehr das Arbeitsethos und die calvinistische Diesseitigkeit der amerikanischen Gründungsväter, die letztlich zur Ausweitung des Kapitalismus geführt haben. Grundlage ist vielmehr der Glaube an das Schicksal: Der Lottogewinn und die damit verbundene Freiheit, sich schlagartig von allen Zwängen des Alltags loszusprechen, gleicht der Verwirklichung des Paradieses schon im irdischen Dasein. Insofern ist Lottospielen so etwas wie ein Religionsersatz.
Der lustigste und zugleich meist gehörte Satz im Zusammenhang mit Lotto ist dieser: „Ich weiß gar nicht, ob ich an meinem Leben etwas ändern würde.“ Pardon, das ist Unsinn. Selbst wenn man in seinem Beruf weiter arbeitet, auch fürderhin in einer Etagenwohnung haust und immer selber kocht: Der Hauptgewinner ist Millionär, ist frei. Die Geschichten zahlreicher Lottogewinner, die nach kurzem Saus und Braus im Ruin enden, zeigen aber wohl, dass diese vom Schicksal gewährte Freiheit keine geringe Bürde sein kann.
So long (oder doch besser short?) Kalli |