RENTE, GESUNDHEIT, ARBEITSLOSENGELD
"Da ist noch Saft drin!"
Von Markus Deggerich
Die Koalition steht vor der ersten Woche der Wahrheit. Mit harten Sofortmaßnahmen will sie in die sozialen Sicherungssysteme eingreifen. Gesundheitswesen, Rente und Arbeitslosengeld - alles steht auf dem Prüfstand. Aus den Millardentöpfen sollen alle verfügbaren Euros herausgepresst werden. Berlin - SPD und Grüne suchen nicht nur Geld, sondern auch eine gemeinsame Position. In der kommenden Woche sollen die ersten Schnell-Gesetze auf den Weg gebracht werden, um die Finanzkrater bei Rente und Gesundheit zu stopfen und den Arbeitsmarkt in Schwung zu bringen. Doch hinter dem Ringen um die Einzelpunkte stecken auch politische Fernziele. Vor allem bei der Rente sträuben sich die Grünen noch gegen die schlichte Erhöhung der Beiträge. Ulla Schmidt will sie von 19,1 aus 19,5 Prozent hochschrauben. Nicht dass die Grünen irgendetwas gegen mehr Cash in der Rentenkasse hätten. Aber sie wollen über den Finanzdruck in der Altersversorgung noch mal eine ihrer Lieblingsideen reaktivieren. Zwar hatte die SPD im Koalitionsvertrag durchgesetzt, dass die Ökosteuer nach 2003 keine weiteren Stufen erklimmt. Doch da diese Abgabe in das Rentensystem floss, hoffen die Grünen, dass sich ihr Partner in der Frage doch noch überzeugen lässt: Immerhin hatte die SPD im Wahlkampf versprochen, die Beiträge stabil zu halten. Über eine neue Form der Ökosteuer Arbeit nicht zu verteuern, Energieverbrauch zu besteuern und Geld für die Rente einzunehmen, lautet der grüne Plan. Verbraucherschutzministerin Renate Künast geht auch schon in Stellung: "Vereinbart ist 19,3 Prozent. Das diskutieren die Fraktionen noch. Auch bei den Sofortmaßnahmen in der Gesundheitspolitik müssen sich SPD und Grüne bis kommende Woche einigen. Nachdem Grüne-Fraktionschefin Krista Sager noch Zweifel anmeldete an den Schmidtschen Plänen, hatten die betroffenen Interessengruppen bereits wieder Hoffnung geschöpft, einen Keil in die Koalition treiben zu können und das "Schlimmste" für sie zu verhindern.
Doch Schmidt hat die Einwände der Grünen abgefangen. Über das Wochenende will sie ihrem Partner die Details erläutern. "Das Konzept halte ich nach wie vor für richtig und sozial ausgewogen", begegnete sie am Freitag der Kritik aus dem grünen Lager. Zum geplanten Einfrieren der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung und der daran geäußerten Kritik von Sager wies Schmidt auf vorgesehene Ausnahmeregelungen hin. Sollte die Leistungsfähigkeit einer Kasse existenziell betroffen sein, seien ausnahmsweise weitere Beitragserhöhungen möglich.
"Alle sollten auf den Boden der Vernunft zurückkehren"
Die Kritik der Ärzteschaft an der geplanten Honorar-Nullrunde hält sie für überzogen und Panikmache. Die Ärzte müssten im Monat auf lediglich 158 Euro Zuwachs durchschnittlich verzichten. "Alle sollten auf den Boden der Vernunft zurückkehren", versucht sie zu beruhigen. Das Sparpaket insgesamt bedrohe niemanden in der Existenz. Krankenhäuser, die bereits mit dem Fallpauschalensystem (DRG-System) arbeiten, seien von der Nullrunde ausgenommen, sagte Schmidt. Dies gelte auch bei den Sonderregelungen im Osten, wo die Honorare und Arbeitsbedingungen für Ärzte noch immer schwieriger sind.
Schmidt kennt das Sankt-Florians-Prinzip. Die Betroffenen hielten in der Regel 95 Prozent des Sparpakets für gut - kritisierten aber immer den sie selbst betreffenden Teil. Doch sie will das durchziehen: "Wir brauchen Luft, um im nächsten Jahr die große Strukturreform auf den Weg zu bringen", begründet die Ministerin ihre Sofortmaßnahmen, die bereits kommenden Donnerstag in erster Lesung beraten werden sollen.
Doch Sager beurteilt die geplante Nullrunde mit Blick auf die gerade stattfindende Wettbewerbsorientierung in den Krankenhäusern skeptisch. "Wir brauchen auf der Einnahmeseite die Einbeziehung aller Einkommensarten und auf der Ausgabenseite mehr Wettbewerb und die Stärkung der Patientenrechte", erklärt sie.
Mit den im Beitragssicherungsgesetz geplanten Maßnahmen hätten die Kassen die Möglichkeit, die Beiträge im nächsten Jahr stabil zu halten: "Wenn diese Pläne schnell umgesetzt werden, sind dirigistische Akte wie die Festschreibung der Beiträge per Gesetz nicht mehr notwendig", hofft Sager. Doch Schmidt sieht das anders und die Kassen wollen in einer Hauruck-Aktion am Wochenende eventuell ihre Beiträge erhöhen. Das dürfte Schmidt als Kriegserklärung empfinden.
Kommt die Kriegserklärung der Kassen? Sager versucht zu vermitteln. Sie warnt die Kassen davor, "jetzt noch hastig flächendeckend die Beitragssätze zu erhöhen", bevor es am Donnerstag kommender Woche zu der ersten Beratung des Vorschaltgesetzes im Bundestag kommt. Sonst müssten sie "sich nicht wundern, wenn der Gesetzgeber doch eingreifen muss", drohte auch Sager am Freitag.
Dass es bei den Not-Gesetzen nur um den schnellen Euro geht und die eigentlichen Reformen noch ausstehen, kündigt auch der Grünen-Vorsitzende Fritz Kuhn an. Er will weitere Einschnitte bei der Arbeitslosenhilfe sowie weitergehende Reformen der Sozialversicherungen: "Wenn sie den Bundeshaushalt kennen und um die Arbeitslosenhilfe einen Bogen machen, dann werden sie nicht sparen", sagte Kuhn und machte die finanzielle Dimension klar, die rund vier Millionen Arbeitslose für den Bundeshaushalt bedeuten. Deshalb werde auch über die Veränderungen beim Arbeitslosengeld noch bis kommende Woche verhandelt, kündigte Kuhn an.
Blinder Fleck bei den Renten
Wie Schmidt sieht der Wirtschafts- und Finanzexperte der Grünen bei Rente und Gesundheit weiteren Reformdruck: "Wenn das Sparpaket irgendwo einen blinden Fleck hat, dann bei den Renten." Wenn in Deutschland in der Praxis wenigstens annähernd das reguläre Rentenalter erreicht würde, ergäbe sich eine enorme Kostenreduktion.
Woran die Grünen denken, es aber ebenso wie die SPD nicht wagen auszusprechen, ist die Schieflage in den Sozialsystemen: Ganze Bevölkerungsgruppen wie Beamte und Selbständige zahlen nicht in das System ein. Doch solche Fragen sollen im Rahmen der Schnell-Gesetze noch nicht diskutiert werden.
Denn auch auf der dritten Baustelle nach Rente und Gesundheit gibt es noch Abstimmungsbedarf für die kommende Woche. Das Spar- und Reformpaket von Bundeswirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement (SPD) ist in Zeitnot geraten. Obwohl das Gesetzespaket, das auch Teile der Hartz-Reform enthält, am kommenden Montag den Koalitionsfraktionen zur Beschlussfassung zugeleitet werden muss, waren wesentlichen Abschnitte am Freitag noch nicht abschließend geregelt.
Im neuen Doppelministerium wurde bei der Ausarbeitung des Gesetzespakets noch fieberhaft nach Sparpositionen gesucht. "Der Beratungsprozess ist im Gange, er läuft auf Hochtouren", sagt Clements Sprecherin Sabine Maass. Details nannte sie nicht. Für Montagabend ist eine Koalitionsrunde im Kanzleramt zur Feinabstimmung angesetzt.
Clement unter Zeitdruck
Nachdem Clement unter dem Druck aus den eigenen Reihen kurzfristig pauschale Leistungskürzungen für Arbeitslose mit Kindern im Volumen von etwa 200 Millionen Euro fallen ließ, muss er nach alternativen Einsparmöglichkeiten suchen. Dem Vernehmen nach war noch ein Betrag von 700 Millionen Euro im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit offen. Insgesamt will Clement satte 6,5 Milliarden Euro einsparen. Rund 1,85 Milliarden soll die Umsetzung der Hartz-Vorschläge bringen. Allein die Verkürzung der durchschnittlichen Dauer der Arbeitslosigkeit um eine Woche brächte eine Milliarde Euro.
Noch unklar sind nach Informationen aus der Koalitionsspitze auch die steuerlichen Regelungen für die Förderung von haushaltsnahen Minijobs sowie für Gründer einer Ich-AG, zwei zentralen Elementen der Hartz-Reform zum Abbau der Arbeitslosigkeit. Auch an den tarifvertraglichen Regelungen für Leiharbeiter bei den neuen Personal-Service-Agenturen - auf die vor allem die Gewerkschaften großen Wert legen - wird noch gefeilt. Diese Elemente sind Teil des ersten Gesetzes zur Reform des Arbeitsmarktes, das am Donnerstag kommender Woche in den Bundestag eingebracht werden soll.
Arbeitgeber warnen vor Rohrkrepierer
Am Freitag startete als erster Baustein aus dem Katalog der Hartz-Reformvorschläge das Mittelstands-Förderprogramm "Kapital für Arbeit". Es soll Unternehmen über zinsverbilligte Kredite bis zu 100.000 Euro - von denen die Hälfte der Stärkung des Eigenkapitals dient - Anreize zur Einstellung von Erwerbslosen bieten. Die Regierung hofft damit auf bis zu 50.000 neue Jobs.
Weniger optimistisch über dieses neue Mittelstandsprogramm äußerte sich Gesamtmetall-Präsident Martin Kannegiesser: "Ich fürchte, das wird ein Rohrkrepierer". Ein weiteres Förderprogramm für den Mittelstand werde angesichts der vielen Programme, die schon existierten, nicht gebraucht. Dagegen warnte die DGB-Vize-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer davor, das Programm "madig zu machen". Wenn es gelinge, über billigere Kredite Unternehmen zur Einstellung von Arbeitskräften zu mobilisieren, könne dies "Hilfestellung leisten".
Die Koalition geht in eine harte Sitzungswoche, in der die ersten Weichen gestellt werden. Dass da noch mehr kommt, kündigt auch Fritz Kuhn an: "Was wir jetzt machen, ist mehr aus der Zitrone herauszupressen. Da ist noch Saft drin."
Quelle: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,220949,00.html |