vwd Extra/Lehren aus dem Börsenjahr ... (zwei)
Doch woher rührt diese Unsicherheit? Im wesentlichen lassen sich zwei Faktoren unterscheiden. Der erste verweist darauf, dass Unberechenbarkeit und Volatilität eher zuzunehmen scheinen. Das hat sowohl fundamentale als auch börsenpsychologische Gründe. In fundamentaler Hinsicht sind Risiken und Chancen durch neue Technologien gestiegen, durch Internet, Biotechnologie oder Telekommunikation. Überall handelt es sich um Unternehmensmodelle, deren Gewinnträchtigkeit unklar ist und die gerade deshalb Phantasie wecken.
Jeder weiß mittlerweile, dass hier nach wie vor mit Krisen und Pleiten zu rechnen ist, vielleicht aber auch mit der einen oder anderen Perle. In jedem Fall ähnelt das "Fundament" solcher Unternehmen einem Kaffeesatz. Und auch die Old Economy ist durch die neuen technischen Mögichkeiten weniger berechenbar geworden. Viele haben in neue Technologien investiert, von denen nicht so recht klar ist, ob sie einzträglich sein werden.
Gleichzeit nimmt die psychologische Unsicherheit zu. Das gewaltige Ausmaß an Liquidität hält die Investoren stets auf der Lauer, nervös, die Sinne angespannt, wachen sie über jedes Signal. Sie stecken psychologisch in der Klemme zwischen der Furcht, eine neue Aufwärtsbewegung zu versäumen, und der Angst vor einer erneuten Abwärtsrunde. Sie sind bereit, sofort ein- oder auszusteigen.
Der zweite Faktor ist noch schlichter als der erste, wenn nicht banal: Unsicherheit gehörte immer schon zur Börse, wenn auch in geringerem Ausmaß. Mehr noch: sie ist ihr Lebenselixier. Trotz aller Prognoseversuche: Eine berechenbare Börse würde nicht funktionieren. Denn sie ist in erster Linie eine gigantische Umverteilungsmaschine. Das Geld, das der Anleger verdienen will, muss von anderen Anlegern aufgebracht - sprich: verloren - werden. Von Anlegern, die sich irren, weil sie falschen Signalen geglaubt haben. So zynisch es klingt: nur durch ein gewisses Ausmaß an Irritation, Verwirrung und Verstörung ist der Austausch möglich.
Der Einwand liegt auf der Hand: Börse ist nicht nur Umverteilung. Sie spiegelt die Wirtschaft. Alle können im Ausmaß des gesamtwirtschaftlichen Wachstums profitieren. Zudem kommen neue Unternehmen an die Börse, die Liquidität aufsaugen. Auch durch angeblich notwendige veränderte Kurs-Gewinn-Verhältnisse lassen sich Buchgewinne für alle Anleger gleichzeitig erzielen. Doch diese Faktoren würden bei weitem nicht die Steigerungsraten liefern, die ein Großteil der Anleger von der Börse erwartet. Der Wille, in kurzer Zeit viel Geld zu verdienen, hat zugenommen. Die alte Weisheit, die Börse erbringe im langfristigen Schnitt zehn Prozent im Jahr, ist für viele Anleger uninteressant.
Da sich aber die Flut von Prognosen mehrt, und damit die Versuche, der Börse auf die Schliche zu kommen und Zukunft vorherzusagen, sind - um Unberechenbarkeit zu garantieren - stets neue "Spiele" notwendig. Sobald eine Mehrheit der Anleger glaubt, Gesetzmäßigkeiten aufgedeckt zu haben, muss sich die Börse gewissermaßen wehren und das Gesetz brechen. So finden angekündigte Rallys nicht statt, und erst wenn sie für unwahrscheinlich gehalten werden, kommen sie doch noch.
Wer aber nun glaubt, diesem Problem mit antizyklischer Methode beikommen zu können, der irrt. Denn auch Antizyklik ist der Versuch, Börse in Gesetze zu pressen. Und im selben Moment, da ein großer Teil von Investoren an sie glaubt, ist sie schon verschwunden, weil sie dann in psychologischer Hinsicht gar nicht mehr antizyklisch ist. Börse, das ist das wohl einzig sichere Gesetz, entzieht sich der Berechnung. vwd/23.12.2001/rz/zwi |