"In Krisen zeigt sich oft der wahre Charakter von Menschen. Das lässt sich in Zeiten der Coronavirus-Pandemie sehr gut beobachten - nicht nur am Klopapierregal im Drogeriemarkt. Aber warum sind die einen Menschen so ätzend und die anderen so wunderbar?
Deutschland ist in diesen Tagen ein zweigeteiltes Land. Das hat nichts mit alten politischen Grenzen zu tun oder mit Corona-Ansteckungsgebieten, auch nichts mit der geografischen Ausrichtung. Sondern einfach damit, was man gerade sieht: Den Toilettenpapierhamsterkäufer oder die Nachbarn, die für die ältere Dame im Haus mit einkaufen. Die Firma, die jetzt kündigt, wem zu kündigen ist oder die, die alle Mitarbeiter gut ausgerüstet ins Homeoffice schickt. Die Partypeople, die bei schönem Wetter einfach weiterfeiern oder die Stammkunden, die ihrem Friseur den Haarschnitt bezahlen, den sie zwar dringend nötig hätten, aber gerade nicht bekommen können.
Carolin Kebekus empfindet diese Zeit als gute Justierung ihres "Arschloch-Radars", weil sich so viele Menschen gerade mit ihrem schlechten Benehmen outen. Gleiches ließe sich auf jeden Fall auch für das "Helden-Radar" sagen, weil so viele gerade zeigen, welche guten Eigenschaften in ihnen stecken. Aber warum ist das so? Psychotherapeut Dr. Christian Lüdke fasst im Gespräch mit ntv.de die Lebenserfahrung vieler Menschen zusammen: "In solchen Krisensituationen kommt oft der wahre Charakter von Menschen zum Vorschein."
Da gibt es eben die Ruhigen und Gelassenen und dann gibt es die anderen. Zu welcher Seite man gerade tendiert, hat viel mit dem Leben zu tun, das man bisher geführt hat. War man privat und beruflich ziemlich zufrieden, dann kann man jetzt auch leichter entspannt bleiben. "Der zweite Risikofaktor sind Vortraumatisierungen", sagt Lüdke. Wer schon geliebte Menschen durch Unfälle oder schwere Erkrankungen verloren hat, wird durch die aktuellen Ereignisse generell schwerer belastet und kann dann nicht immer angemessen sozial reagieren. Komplexe Belastungssituation
Hinzu kommt laut Lüdke der "Egoismus der Gene", wie es der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins nannte. Geht es nach den egoistischen Genen, gelten nur sehr wenige Regeln, erklärt Lüdke: Sei nett zu allen Nahestehenden. Sei gemein zu allen Fernstehenden. Wie du mir, so ich dir. Betrüge, wo du nur kannst. Halte man sich daran, habe man zumindest bessere Chancen, sein körperliches und seelisches Überleben sicherzustellen. Dawkins wird schon lange sehr kontrovers diskutiert, aber Egoismus ist durchaus eine starke menschliche Antriebskraft.
Normalerweise können die Menschen diese Kraft halbwegs gut kontrollieren, und bleiben sozial kompatibel zum Rest der Gesellschaft. In Krisen- oder Belastungssituationen wie der aktuellen Corona-Pandemie allerdings schlägt das Pendel durchaus mal in die entgegengesetzte Richtung aus. Dann müssen es die letzten beiden Familienpackungen Klopapier aus dem Drogerieregal sein, um die eigene Familie zu versorgen. Schuld ist die komplexe Belastungssituation, in der die Wirtschaft, das Familienleben, die Arbeitsverhältnisse, die Gesundheit und vielleicht sogar das eigene Überleben betroffen sind. "Am Ende ist es reine Biochemie, was der Körper dann daraus macht." Man kann sich das vorstellen wie Verlieben, nur eben auf dem anderen Ende der Charakterskala.
Sich dieser Tendenz zu entziehen, ist gar nicht so einfach. Denn Menschen sind genetisch gesehen Herdentiere aus der Savanne. Bis heute zeigen sie deshalb auch den Herdentrieb und kopieren das Verhalten der anderen. Dabei ist es egal, ob dieses Verhalten selbstlos oder ziemlich eigennützig ist. Die Corona-Krise vergleicht Lüdke dabei mit Situationen, in denen Zivilcourage angebracht wäre. Man sieht die Notwendigkeit, auf eine bestimmte Weise zu handeln, ist aber unsicher, was jetzt angemessen wäre. Dem Schicksal zusammen trotzen
In der jetzigen Situation helfe es, sich klarzumachen, dass sich Zusammenarbeit in Krisenzeiten eindeutig als das erfolgreichere Modell erwiesen habe, so der Psychotherapeut. Begreife man sich als Teil einer Schicksalsgemeinschaft, sei es leichter, sich unterstützend und freundlich zu verhalten. "Geteiltes Leid ist halbes Leid", weiß schon der Volksmund.
Carolin Kebekus' "Arschloch"-Radar bezieht sich übrigens auf das Buch "The No As(s)hole Rule" des US-amerikanischen Management-Professors Robert I. Sutton. Es beschäftigt sich mit dem "geschickten Umgang mit Aufschneidern, Intriganten und Despoten im Unternehmen", wie der Untertitel der deutschen Ausgabe lautet. Darin erläutert Sutton, dass sich jeder mal schlecht benimmt, beispielweise, weil er schlecht geschlafen oder sich geärgert hat.
Die meisten merken das aber und können diese schlechten Tage wieder ausgleichen. Sutton weist nebenher auch nach, dass die "Arschlöcher" Unternehmen keineswegs mehr einbringen als nette Mitarbeiter. Ein US-Unternehmen rechnete die Gesamtkosten aus, die das unmögliche Benehmen eines eigentlich erfolgreichen Mitarbeiters auslöste. Die Berechnung ergab 160.000 US-Dollar. Darunter fielen beispielsweise Erkrankungen von Angestellten und die teure Suche und Einarbeitung einer neuen Assistentin. Am Ende sind also die rücksichtslosen Egoisten für eine Gesellschaft nicht nur anstrengend, sondern auch teuer. Und das gilt nicht nur angesichts der Corona-Krise."
Quelle: ntv.de |