Küssen verboten

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eröffnet am: 15.06.03 14:39 von: Nassie Anzahl Beiträge: 1
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15.06.03 14:39

16074 Postings, 8214 Tage NassieKüssen verboten

Aufgeklärt werden Jugendliche in Deutschland schon in der Musikzeitschrift "Bravo". Gleichaltrige in Saudi-Arabien haben es mit der ersten Liebe ungleich schwerer. Denn ein "Dr.Sommer-Team" ist in dem konservativen Königreich undenkbar. Der Wahabismus, eine zur Staatsreligion erhobene Strömung des Islam, verbietet in der Öffentlichkeit selbst Küsse und harmlose Flirts. Themen wie Sex sind offiziell völlig tabu, ebenso wie Rendezvous von Unverheirateten. Mann und Frau werden bis zur meist arrangierten Ehe strikt voneinander getrennt.

Allgegenwärtige Sittenwächter
Damit nicht genug, machen Mutawwas, eifrige Religionspolizisten in Zivil, Jungverliebten das Leben schwer. Die allgegenwärtigen Sittenwächter gehen religiös fragwürdigen Vorgängen in Wohnvierteln, auf Basaren und Straßen konsequent nach. "Verdächtigen" Paaren folgen sie auf Schritt und Tritt. Mit drastischen Mitteln sorgen die "Gralshüter der reinen Lehre" für die strikte Einhaltung vieler Glaubensregeln, die sich aus einer radikalen Auslegung des Korans ableiten. "Verstöße sind kein Kavaliersdelikt und können mit Haftstrafen und Auspeitschen geahndet werden", sagt der Freiburger Islamforscher Werner Ende. Strenge Regeln für ein junges Land: Immerhin ist die Hälfte der 16 Millionen Saudis nicht älter als 15 Jahre.

Doch Gelegenheit macht Liebe. Und wenn die Hormone verrückt spielen, enden Annäherungsversuche mitunter als groteske Jagdszenen, berichtet Jens Riewe. Als Manager in der Hauptstadt Riad konnte der 28-Jährige das gewöhnungsbedürftige Liebeswerben pubertierender Araber mit eigenen Augen beobachten. "Um sich der Angebeteten zu nähern, werden halsbrecherische Verfolgungen mit Luxuskarossen und Geländewagen veranstaltet." Im Fond des gejagten Wagens sitze meist ein Mädchen hinter getönten Scheiben. Ihr Fahrer gebe anstandshalber Gas, um die aufdringlichen Verehrer abzuhängen. "Frauen ist Autofahren schließlich nicht gestattet."

Saudische Form der Anmache
Stoppen die Wagen nach wilder Raserei mit quietschenden Reifen an einer Ampel, springt oft ein junger Bursche aus dem Auto. Er steckt dem Mädchen durch das Fenster hastig einen Zettel mit einer Telefonnummer oder einem Treffpunkt zu - die saudische Form der Anmache. Meist hat er seinen Schwarm vor dem ersten Treffen wegen ihres schwarzen Ganzkörperschleiers noch nie gesehen. So soll es vorkommen, dass junge Männer auf Freiersfüßen der eigenen Mutter oder Schwester nachstellen, ohne es zu merken. Riewes jordanischer Arbeitskollege Ibrahim (28) sieht zwar so manche moralische Beschränkung kritisch, hält sich aber an die Vorschriften seines Gastlandes: "Als Fremder muss man andere Sitten und Gebräuche respektieren." Allerdings gehe es in Sachen Liebe in seiner Heimat etwas liberaler zu.

Neben dem klassischen Katz und Maus-Spiel im Kreisverkehr schaffen E-Mails und Diskussionsforen im Internet Freiräume, die in dem nach westlichen Maßstab repressiven Wüstenstaat bislang unbekannt waren. Nach dem ersten schüchternen Online-Kontakt folgt meist das heimliche Treffen. Doch diese Verabredungen sind riskant und müssen sorgfältig vorbereitet werden. Wohin gehen in einem Land, in dem Kinos, Kneipen und Discotheken verboten sind?

"Gute Tarnung ist alles"
"Wollen Pärchen unbehelligt bleiben, ist gute Tarnung alles", sagt Riewe. Zum Schutz vor der Hitze flüchten viele Menschen in den Kingdom-Tower. In der "Familienzone" des Einkaufs- und Bürotempels ist die Gefahr, von Mutawwas erwischt zu werden, gering. Dort haben ausschließlich Ehepaare Zutritt. "Mann und Frau fallen kaum auf, selbst wenn sie nicht getraut sind." Ohnehin sind ledige von verheirateten Frauen kaum zu unterscheiden, da alle weiblichen Wesen trotz Temperaturen um 50 Grad bis an die Fingerspitzen mit der uniformen Abaya, einem schwarzen Gewand, verhüllt sind. Selbst beim Baden im Meer wird das traditionelle Kleidungsstück nicht abgelegt.

Doch zuletzt hat auch die islamische Hochburg Saudi-Arabien ihren Schleier vorsichtig gelüftet. Das Königshaus ist bestrebt, das Land auch gegen den Widerstand traditioneller Kräfte behutsam zu öffnen. Für junge Saudis ist diese Entwicklung vielleicht bald eine Chance für die Liebe.

Kai Fortelka
 

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