FINANZEN
Schnelle Entscheidungen im Ausnahmejahr
Die Corona-Pandemie beschert Drägerwerk eine nie da gewesene Nachfrage. Für den CFO ist das eine massive Herausforderung.
Maike Telgheder Frankfurt
Normalerweise ist das Geschäft von Drägerwerk für Finanzchef Gert-Hartwig Lescow verlässlich planbar. Saisonale Schwankungen der Nachfrage sind vorhersehbar, die Kapazitätsauslastung gut zu berechnen. Doch dieses Jahr gab es durch die Corona-Pandemie bei dem Medizintechnik- und Sicherheitskonzern gleich im ersten Quartal einen mehr als doppelt so hohen Auftragseingang. "Ein Ausnahmejahr", sagt Lescow. "Insbesondere wenn man bedenkt, dass das Gros dieser Aufträge in den letzten beiden März-Wochen bei uns einging."
Vor allem Beatmungsgeräte und Schutzausrüstung wie FFP2-Masken von Dräger sind gefragt: Nicht nur die üblichen Kunden, auch viele Regierungen haben im großen Stil bei Dräger geordert. Wo möglich, hat das Lübecker Unternehmen in den Werken die Kapazitäten ausgebaut. In Lübeck etwa werden mittlerweile im Schichtbetrieb Beatmungsgeräte gebaut - die Produktionsmenge soll in diesem Jahr vervierfacht werden. Mehr als 400 neue Mitarbeiter wurden in der Produktion eingestellt.
Ausbau der Kapazitäten
Der Nachfrageboom fordert auch den Finanzchef und seine Abteilung massiv heraus: Es galt und gilt, immer wieder sehr schnell Entscheidungen zu treffen. "Zum einen müssen wir sicherstellen, dass die Investitionen für den Ausbau der Kapazitäten getätigt werden können", sagt Lescow. "Und mit den Lieferanten musste die Versorgungssicherheit für Maschinen und Material abgesichert werden."
Lescow ist seit April 2008 Vorstand Finanzen bei Drägerwerk, seit 2016 zusätzlich verantwortlich für IT. 2015 wurde er zum stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden berufen. Das mehr als 130 Jahre alte Unternehmen mit zuletzt 2,78 Milliarden Umsatz baut Beatmungstechnik und Überwachungssysteme für Kliniken, aber auch für Feuerwehr und Industriebetriebe. An der Spitze steht seit 15 Jahren Stefan Dräger, der das börsennotierte Unternehmen in fünfter Generation führt und über eine Kommanditgesellschaft auf Aktien kontrolliert.
"Ein erheblicher Teil der Arbeit ist derzeit, abzuschätzen, wie die Aufträge durchwirken und mit welchen Zahlungszielen man rechnen kann", sagt Lescow mit Blick auf die Frage, wann der Kunde bezahlt. Drägerwerk hat Fristen von 30 bis über 300 Tagen und geht auch in Vorleistung. Schließlich hat auch die Liquiditätsplanung eine sehr viel höhere Bedeutung bekommen. "Unsere Finanzplanung ist granularer geworden", sagt der 53-jährige Finanzchef. "Der aktuelle Investitions- und Working-Capital-Bedarf weicht auf Monatssicht erheblich von unserer gewöhnlichen Entwicklung und unserer Jahresplanung ab."
Die Herkunft aus dem hohen Norden ist bei dem in Rendsburg geboren Manager unüberhörbar. Er gilt als umgänglich und als jemand, der die Ruhe bewahrt. Als Naturwissenschaftler sei er analytisch und genau, sagen Mitarbeiter. Lescow hat Physik in Hamburg studiert, machte seinen MBA an der MIT Sloan School of Management in Cambridge/USA und arbeitete dann einige Jahre als Berater für McKinsey in Boston. Mit der Geburt des ersten Sohnes wechselte er mit der Familie wieder nach Deutschland.
Es folgten Stationen beim Mobilfunkunternehmen Mobilcom und dem Maschinenhersteller Voith, bevor es ihn nach Lübeck zu Dräger zog. "Technik für das Leben" zu machen, zitiert der Vater von fünf Kindern den Unternehmensslogan, das sei für ihn motivierend. "Teil eines solchen Unternehmens zu sein und den Menschen schnell helfen zu können, zumindest einen Teil dieser Coronakrise beherrschbar zu machen, das gibt meiner Arbeit Sinn", sagt er.
Gerade ist Lescow dabei, die Finanzplanung sicherzustellen für die Investitionen in den Aufbau gleich drei neuer Schutzmaskenfertigungen in den USA, in Großbritannien und in Frankreich. "Wir werden hier einen Betrag von rund 50 Millionen Euro investieren, das ist für uns eine nennenswerte Summe", sagte Lescow.
Der Nachfrageboom hat auch die Jahresziele verändert. Drägerwerk plant jetzt für 2020 mit einem währungsbereinigten Umsatzwachstum zwischen 14 und 22 Prozent. Für die Ebit-Marge wird eine Bandbreite zwischen sieben und elf Prozent prognostiziert. Dabei dachte das Management vor Jahresfrist angesichts des geringen Umsatzwachstums, einer negativen Marge und steigenden Kosten noch über Personalabbau nach.
Die Coronakrise hat die Lage für Drägerwerk also zum Positiven gewendet. Die Aussicht auf höhere Gewinne ermöglicht es dem Unternehmen auch, einen Schlussstrich unter das leidige Thema Genussscheine zu ziehen. Die waren in den 80er- und 90er-Jahren ausgegeben worden, um Drägerwerk mehr Finanzierungsspielraum zu geben. Mit der Einführung des neuen Bilanzierungsstandards IFRS verloren die Genussscheine ihre Bedeutung als Eigenkapitalinstrument. Was blieb, waren hohe Dividendenzahlungen an die Genussschein-Inhaber.
Im März, als der Aktienkurs von Dräger noch niedrig war, tüftelte Lescow mit Stefan Dräger den Rückkauf aus. Der wird das Unternehmen allerdings in den nächsten Jahren 500 Millionen Euro kosten. Deswegen initiierte Lescow auch noch eine Kapitalerhöhung. Über die Ausgabe neuer Vorzugsaktien wurden brutto mehr als 76,5 Millionen Euro eingenommen.
Bindeglied zum Kapitalmarkt
Die Vereinfachung der Kapitalstruktur zahlt auch auf das Ansehen von Lescow in der Finanz-Community ein. "Herr Lescow kann als Bindeglied zum Kapitalmarkt die beiden Welten Kapitalmarkt und Familienunternehmen gut miteinander versöhnen", sagt Thomas Schießle, Geschäftsführer der Research-Gesellschaft Equits GmbH. "Schon die Struktur einer KGaA bei Drägerwerk ist für internationale Investoren befremdlich. Genussscheine sind es noch mehr. Deswegen war der Rückkauf der Genussscheine und die Vereinfachung der Kapitalstruktur ein richtiger Schritt, um das Unternehmen wieder attraktiver für Investoren zu machen."
Was jenseits der Corona-Herausforderung noch zu tun ist, auch dafür hat Lescow eine klare Agenda: Das Unternehmen muss profitabler und innovativer werden. "Die Kritik der Investoren an der zu geringen Profitabilität von Drägerwerk ist berechtigt. Deswegen haben wir das Unternehmen umstrukturiert und von der regionalen Struktur auf die beiden Geschäftsbereiche Medizintechnik und Sicherheitstechnik neu ausgerichtet", sagt er. So sei man schneller in den Entscheidungen geworden, was dem Unternehmen auch in der Corona-Pandemie zugutekam. Die Herausforderung, rentabler zu werden, sieht der Finanzchef aber nach wie vor: " Es gilt insbesondere, die Innovationsgeschwindigkeit in der Medizintechnik zu steigern und die Erneuerung unseres Portfolios zu beschleunigen. Da sind wir auf dem Weg, aber noch nicht fertig."
CFO des Monats
Serie:Das Handelsblatt porträtiert regelmäßig die wichtigsten Finanzchefs in deutschen Unternehmen. |