Die Hizbullah ist überall
Von Adrien Jaulmes, Mardschajun
Rauchfahnen erheben sich über den libanesischen Hängen des Dschebel al Scheich, den die Israelis Berg Hermon nennen. In den steinigen Tälern und den Olivenplantagen des Südlibanons, zwischen dem Fluß Litani und der israelischen Grenze, die am Kamm des höchsten Berges der Region entlangführt, grollen die Explosionen der 155-Millimeter-Artilleriegeschosse wie Donner.
Seit dem Anfang der israelischen Offensive gegen die Hizbullah vor neun Tagen ist die von 1978 bis 2000 von der israelischen Armee besetzte Sicherheitszone das hauptsächliche Schlachtfeld in diesem Duell, das von Artillerie und Luftwaffe geführt wird. Die kleinen Straßen, die sich zwischen den Hügeln durchschlängeln, sind verlassen. Die leeren Straßen der schiitischen Dörfer sind mit Siegerkränzen der Hizbullah geschmückt, mit gelben Fahnen, blumengezierten Bildern von „Märtyrern“ und riesigen Fotos von Scheich Hassan Nasrallah.
„Fast alle sind weg“
Am Rand der Straße, die aus Kilya herausführt, treibt ein Bauer seine Ziegen vor sich her, als ob er allein auf der Welt wäre in dieser biblischen Landschaft. „Fast alle sind weg“, sagt Ahmad Hussein Schalubund und stützt sich auf seinen Stab.
Sein Gesicht ist von der Sonne verbrannt. „Ich bleibe hier. Die Bomben fallen sowieso überall im Libanon.“ Die Kämpfer der Hizbullah? „Man sieht praktisch keine. Aber sie haben überall ihre Häuser“, fügt der Bauer hinzu, bevor er mit seinen Tieren auf einem Hang verschwindet. Israel nimmt auch die letzten Brücken und Straßen ins Visier Am klaren Himmel hallt der Lärm der israelischen Düsenjäger. Die F-16 jagen nach Lastwagen und kleineren Transportfahrzeugen, die sich noch auf die Straße wagen. Jedes Fahrzeug steht im Verdacht, Waffen oder Kämpfer der Hizbullah zu transportieren. Die Hauptstraßen, die die Gegend durchqueren, wurden systematisch durch präzise Bombardierungen abgeschnitten, im allgemeinen durch einen oder zwei Einschläge, die die Straße an wichtigen Stellen zerstörten.
Auch die letzten Straßen zerstört
Eine der letzten Straßen, die zuletzt noch offen war, zwischen Sohmor und Mardschajun im Litani-Tal, ist am Dienstag durch eine Bombe zerstört worden, die in einer Kurve einen tiefen Krater geschlagen hat. Ein Kleinbus mit Flüchtlingen, die nach Norden fahren, hält an, um eine Gruppe von Frauen abzuladen. Sie umgehen das Hindernis zu Fuß, während der Fahrer durch die Felder fährt, um hinter dem Krater wieder auf die Straße zurückzukehren.
Unaufhörlich beschießen Israelis Stellungen der Hizbullah „Wir kommen aus Zeleniah“, sagt eines der Mädchen der Familie Abbas unter Tränen. „Wir flüchten Richtung Syrien“, fügt sie mit schreckgeweiteten Augen hinzu. Die Frauen steigen wieder in ihren Kleinbus ein, sie murmeln Gebete, halten den Koran in der Hand und Kinder auf dem Arm.
Am Ortsausgang von Kilya stehen quergestellte, verlassene Panzer der libanesischen Armee mit übergezogenem Kanonenschutz, den Turm nach Süden gerichtet. Anderswo sitzen libanesische Soldaten im Schatten mit ratlosen Gesichtern in der Nähe ihrer verlassenen Kontrollpunkte.
Christen und Drusen bisher weitgehend verschont
Mardschajun, die Hauptstadt des Südlibanons, ist eine befestigte mittelgroße Stadt, die bis zum Jahr 2000 das Hauptquartier der südlibanesischen Armee beherbergte, einer Miliz, die die israelische Armee unterstützte. Einige Krämerläden haben noch geöffnet. „Mardschajun ist nicht bombardiert worden“, sagt ein Ladenbesitzer, der hinter seiner Registrierkasse sitzt und seinen Namen nicht nennen will: „Schreiben Sie einfach, daß ich George Orwell heiße.“
Doch die schiitischen Städte wie Khiam, Diebbin, Blat, Kfar Kila, Daise, die auch der „Mittlere Sektor“ genannt werden, werden unaufhörlich mit israelischem Feuer belegt. Die christlichen Dörfer und die der Drusen im Südlibanon sind bisher weitgehend verschont worden, und dorthin strömen die Flüchtlinge aus der Gegend.
Schiiten „sind alle Sympathisanten der Hizbullah“
„Etwa 1250 Personen sind zu uns gekommen. Alles Schiiten“, sagt Jacqueline, die Leiterin des Büros der katholischen Hilfsorganisation Caritas in Klaya. Dieses christlich-maronitische Dorf liegt ganz nahe bei Mardschajun an einem Abhang über dem Litani, gegenüber liegen die Ruinen der Kreuzfahrerfestung von Beaufort. „Sie kommen aus den umliegenden Dörfern hierher, weil sie hoffen, daß Klaya nicht beschossen wird“, sagt Jacqueline. „Ein Teil der Flüchtlinge ist in einer Schule untergebracht worden, die anderen wurden von Familien aufgenommen.“
„Im Augenblick ist die Situation für die Flüchtlinge kritisch und für die Dorfbewohner schwierig“, sagt Pater Salmeh Fadi aus der St.-Georgs-Kirche in Klaya. „Wenn das noch ein, zwei Wochen dauert, wird es wirklich hochproblematisch für alle. Die meisten israelischen Angriffe in dieser Region zielen auf Khiam“, berichtet der Priester. Diese größere Stadt mit 30.000 Einwohnern, mehrheitlich Schiiten, beherbergte das israelische Gefängnis im Südlibanon. Es ist nach dem Rückzug der israelischen Armee im Jahr 2000 zum Hauptquartier der Hizbullah geworden.
Die radikale Schiitenmiliz hat die ganze Region zu ihrer Festung gemacht. „Man hatte nicht die Erlaubnis, in die Wälder zu gehen, nicht einmal die Jäger durften das. Die Schiiten sind in den vergangenen sechs Jahren scharenweise in die Region zurückgekehrt. Sie sind alle Sympathisanten der Hizbullah. Sie schikanieren die Christen, spionieren sie aus, sperren sie manchmal ein“, sagt der Priester. „Die libanesische Armee, die in Mardschajun stationiert ist, durfte nie Stellungen in der südlichen Zone entlang der israelischen Grenze beziehen.“
Streit um Scheeba-Farmen
Von Mardschajun aus sieht man auf den Hängen des Dschebel al Scheich/Hermon die Gegend der Scheeba-Farmen. Diese paar Quadratkilometer voller Steine und mit einigen Hütten, die an den Berghang geklebt sind, haben die Israelis bei ihrem Abzug aus dem Libanon im Jahr 2000 nicht geräumt.
Die Hizbullah hat sie als eine Art libanesische „Irredenta“ benutzt, als symbolische Herausforderung, welche die Aufrechterhaltung autonomer Milizen im Namen des „Widerstandes“ erlaubt. Die Scheeba-Farmen legitimieren in ihren Augen die Angriffe gegen Israel und verwandeln den Südlibanon in einen großen Stützpunkt, gespickt mit Raketenwerfern, die nach Galiläa zielen.
Katjuscha-Regen über Israel
Dieses „Hizbullah-Land“ versuchen die Israelis seit acht Tagen zu zerstören, mit 155-Millimeter-Artillerie und Luftangriffen. „Die Israelis kennen den Libanon wahrscheinlich besser als wir“, sagt Pater Salmeh Fadeh spöttisch. „Sie wissen, wer in welchem Haus wohnt, und greifen unaufhörlich an.“
Doch ein wenig später, zwischen dem Donner zweier Geschützsalven, wird die Luft im Zentrum von Mardschajun zerrissen vom Pfeifen dreier Raketen, die über die Stadt hinweg in Richtung Israel fliegen. Aus versteckten Stellungen am gegenüberliegenden Hang des steinigen Litani-Ufers regnen die Katjuschas der Hizbullah weiterhin auf Israel herab.
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung |