"Soll ich jetzt Ihren Arzt anrufen?"

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eröffnet am: 11.11.02 12:17 von: Hill Anzahl Beiträge: 6
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2875 Postings, 8797 Tage Hill"Soll ich jetzt Ihren Arzt anrufen?"

"Soll ich jetzt Ihren Arzt anrufen?"



In München exerziert Vermittlungscoach Peter Heinle längst vor, was mit dem Hartz-Papier gerade mühsam zum Gesetz gemacht werden soll: Mehr Härte gegenüber Arbeitslosen

Von Peter Wenig
Am Anfang ist das Bild. Thomas Heinle, 39, drückt jedem Neuen Buntstifte in die Hand und sagt: "Malen Sie bitte Ihren Wunschberuf, in dem Sie gern arbeiten möchten."

Klingt nach Toskana-Töpfer-Fraktion, die Jobsuchenden mit verklärter Sozialromantik helfen will, ist aber in Wahrheit knallhart. Denn Heinle, wenn auch in den Achtzigern friedensbewegt, sagt auch Sätze wie: "Mit Freiwilligkeit erreichen Sie bei Arbeitslosen gar nichts." Und zuweilen erinnert der Ton in seinen Büros, untergebracht in einer ehemaligen Kaserne im Münchner Norden, verdächtig an Kommiss: Sozialhilfeempfängern, die auch nur eine Minute zu spät zur Schulung kommen, streicht er schon mal den Sozialamt-Zuschuss für die komplette Woche. Und wenn wieder mal jemand putzmunter eine Krankmeldung einreicht, zerreißt er den gelben Schein gern mit den Worten: "Soll ich jetzt Ihren Arzt anrufen?"

Thomas Heinle, studierter Sozialpädagoge, ist "Vermittlungscoach", so sein korrekter Titel, und Leiter eines bundesweit einmaligen Projektes von Arbeits- und Sozialamt der Stadt München. Während in Berlin die Koalition mit sich und den Gewerkschaften derzeit über die Umsetzung des Hartz-Konzeptes zur Reform des Arbeitsmarktes ringt, während um Bezahlung der Leiharbeiter gefeilscht wird, während die Neuorganisation der Bundesanstalt für Arbeit und etwas schärfere Zumutbarkeitsregeln erst noch durch den Bundestag gebracht werden müssen, praktiziert Heinle in München bereits die Hardcore-Version des Kanzler-Spruchs "Fördern und fordern" im Bonsai-Format.

Neben Arbeitslosen werden rund 100 Sozialhilfeempfänger jeden Monat ultimativ aufgefordert ("Sie sind verpflichtet, alles zu tun, um baldmöglichst zu einem eigenen Einkommen zu gelangen"), die bis zur Arbeitsaufnahme befristete Maßnahme bei Heinle zu besuchen. Wer nicht erscheint, verliert zunächst 25 Prozent der Sozialhilfe. Wer sich im zweiten Mahnverfahren immer noch weigert, erhält künftig keinen einzigen Cent.

So einfach geht das, auch ohne Hartz. Ober-Coach Heinle ist überzeugt, dass sein Modell, bundesweit umgesetzt, die Arbeitslosenzahl binnen sechs Monaten um eine Million reduzieren könnte: "Und das ohne eine einzige Gesetzesänderung. Die bestehenden Zumutbarkeitsregeln müssten nur eng genug ausgelegt werden."

Trotz der drohenden Einbußen schwänzen aber auch bei Heinle erst mal 80 Prozent den Kurs. Was ins Klischee von den Stütze-Beziehern passt, die sich lieber in der sozialen Hängematte räkeln. "Falsch", sagt Heinle, "jeder Mensch will arbeiten. Viele können es nur schlicht nicht mehr." Gerade die Dauer-Alimentierung stoße aber Arbeitslose in den Teufelskreis aus Passivität und Perspektivlosigkeit.

Heinles Klienten sind Männer wie der ehemalige Bauingenieur Jochen Amsel (alle Namen von der Redaktion geändert), 47, arbeitslos seit der Insolvenz seiner Firma. Beim obligatorischen Interessentest mit 250 Fragen erreichte Amsel bei Heinle ausgerechnet in der Gastronomie die höchste Punktzahl: "Da ist mir wieder klar geworden, wie lange ich schon davon träume, mit meiner brasilianischen Frau ein Lokal zu eröffnen." Mit Hilfe von Heinle schrieb Amsel einen Businessplan und schuftet seit Juni im eigenen "Bistro Brasil". Sieben Tage die Woche von morgens um neun bis nachts um eins: "Das macht aber nichts, denn ich war noch nie so glücklich."

Gerade die zunächst bizarr wirkende Kombination aus Druck und Vision ist der Schlüssel für Heinles Projekt. Er hält nicht viel davon, einen arbeitslosen Handwerker auf Kosten des Arbeitsamtes einfach zum Computer-Experten umzuschulen: "Ich hatte mal einen hier, der konnte als angeblich ausgebildeter Netzwerk-Administrator nicht mal einen Drucker anschließen. So eine Umschulung macht nur bei einem wirklich Computer-Verrückten Sinn."

Wunder kann natürlich auch Heinle nicht vollbringen. Erst recht nicht bei seiner Klientel. Denn Arbeits- und Sozialamt schicken ihm vor allem die, die keiner mehr will. Junkies, Alkoholkranke, Vorbestrafte, sogar ein Mörder war mal dabei. "Der Bodensatz der Gesellschaft", sagt Heinle. Ewige Verlierer wie Tobias Kracht, 42. Heimkind ohne Schulabschluss, zwei abgebrochene Lehren, Gelegenheitsarbeiter, zwischendurch obdachlos. Kracht malte zu Beginn eine Pyramide, unten dunkel, oben sonnig: "Da will ich hin mit meiner Frau und meinen drei Kindern." Die ersten Schritte sind geschafft, seit zwei Monaten arbeitet er als Pförtner in einem Obdachlosenheim: "Sogar mit Schichtdienst. Und davor hatte ich am meisten Angst."

Das zerstörte Selbstvertrauen eint fast alle der Teilnehmer. Die meisten müssen sich wieder mühsam an eine 40-Stunden-Woche gewöhnen. Deshalb ist jeder Tag zwischen 8 und 16 Uhr so präzise durchgeplant. Auch ein "Durchhänger" ist erlaubt, wenn er denn ordnungsgemäß im Wochenplan eingetragen wird. Im Mittelpunkt steht aber meist: Grundfertigkeiten am Computer erlernen, Bewerbungen schreiben, Stellen im Internet recherchieren. Und vor allem Praktika suchen und absolvieren. "In 70 Prozent der Fälle entsteht daraus später ein fester Job", sagt Heinle.

Keiner darf mit schmuddeligen Klamotten kommen - jeder muss jederzeit zu einem kurzfristig vereinbarten Bewerbungsgespräch erscheinen können. Der gelernte Diplom-Kameramann Torsten Weber, 44, spürte mit Heinles Hilfe im Internet bundesweit alle Film-Archive in Deutschland auf. Die 100. Bewerbung hatte Erfolg: Jetzt restauriert er in Düsseldorf zerkratzte Zelluloidstreifen.

Und zwischendurch immer wieder Druck - vor allem in Sachen Pünktlichkeit. Heinle: "Wenn ich jemanden in einen Bewachungsdienst vermitteln will, darf der auch nie zu spät kommen." Wer im Schulungsraum mit Alkohol erwischt wird, riskiert den Rauswurf - inklusive Verlust der Stütze. Da ist Heinle gnadenlos, obwohl jeder Gescheiterte für ihn auch einen finanziellen Verlust bedeutet. Denn die volle Vermittlungsgebühr von 2500 Euro kassiert er nur, wenn sein Kunde mindestens neun Monate in einem neuen Job arbeitet. Dass er trotzdem bereits sieben Mitarbeiter einstellen konnte, zeigt den Erfolg seiner Idee: Von 420 Teilnehmern haben 100 eine neue Stelle, 200 sind, so Heinle, auf "einem guten Weg" - angesichts seiner Problem-Klientel ein fast sensationeller Wert.

Thomas Heinle hat sein Konzept auch an die Hartz-Kommission geschickt. 40 Seiten. Gehört hat er nie wieder etwas von den Experten. Seine Vermutung: "Die glauben einfach nicht, dass es auch im Rahmen der jetzigen Gesetze möglich wäre, die Arbeitslosenzahl radikal abzubauen. Stattdessen wird lieber mit Dingen wie Zeitarbeitsagenturen mit Kanonen auf Spatzen geschossen." Auch Heinle hat ein klares Bild.

 

11.11.02 12:19

25196 Postings, 8577 Tage modMach das mal im

Osten.
Da gibt es keine freien Arbeitsplätze.

In Süddeutschland mag das gelten.  

11.11.02 12:38

21880 Postings, 8077 Tage utscheckso sieht es aus mod

hier bekommst du für den Weggang sogar noch Geld

utscheck  

11.11.02 12:41

21880 Postings, 8077 Tage utscheckund das Schärfste ist...

wenn du dir einen Arbeitsplatz im Goldenen Westen suchst bzw. angeboten bekommst-läßt du dich natürlich erst kündigen, um in den Genuss der Mobilitätsbeihilfe zu gelangen.

Der Osten wird ausbluten und vergreisen.

Schade drum
utscheck  

11.11.02 12:45

8299 Postings, 8522 Tage maxperformancewird ein riesiger Naturpark werden

durchzogen mit 6spurigen Autobahnen  

11.11.02 12:46

1148 Postings, 7881 Tage Desaster_MasterIst das die Sprache unserer Gesellschaft?

Mag ja sein, dass das Alimetierungsprinzip nicht zur Arbeit antreibt aber "Bodensatz der Gesellschaft" zu schreiben ist daneben. Journalisten sollten heutzutage vorsichtiger sein, denn wenn man sieht, wie stark die Zeitungen Personal abbauen müssen, ist der Boden nicht mehr so weit weg....  

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