Machtmittel Rakete
Von Nikolas Busse
30. Juli 2006 In Europa, wo die meisten Menschen seit Jahrzehnten in Frieden leben können, werden die bedrückenden Bilder aus dem Libanon und Israel mit jener Mischung aus Empörung, Kopfschütteln und Ermahnungen aufgenommen, die man sich hier als Reaktion auf die Eruptionen des Nahost-Konflikts angewöhnt hat. Der Krieg scheint fern und vor allem fremd - Ausdruck einer Zivilisationsstufe, die Europa für überwunden hält. Dabei gibt es einen Aspekt der gegenwärtigen Auseinandersetzung, der nicht unsere Vergangenheit, sondern womöglich unsere Zukunft beschreibt: der fortgesetzte Raketenbeschuß Haifas und anderer israelischer Städte. Sollte einmal eine europäische Großstadt dieses Schicksal erleiden müssen, dann wird man aber von Glück sprechen können, wenn es sich "nur" um Raketen mit konventionellem Sprengstoff handelt.
In der Welt von heute sind Raketen und raketenähnliche Wurfgeschosse das Machtmittel der Schwachen und Radikalen, nicht nur im Nahen Osten. Der nordkoreanische Diktator Kim Jong-il, ein Meister dieses Fachs, hat vor ein paar Wochen wieder vorgeführt, wie das funktioniert. Er ließ eine ballistische Rakete testen, die von Asien bis nach Alaska fliegen kann. Daß der Test erfolglos war, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, daß zum ersten Mal ein sogenannter "Schurkenstaat" eine Waffe präsentierte, mit der direkte Schläge gegen westliche Länder zu führen wären - und zwar womöglich mit Atombomben, denn die behauptet Kim schon zu besitzen. Im Vergleich dazu nehmen sich die Raketen der Hizbullah wie Blasrohrpfeile aus.
In Deutschland werden solche Entwicklungen primär als eine Bedrohung für Amerika gesehen. Das ist ein Irrtum. Denn die Europäer haben einen ähnlichen Fall vor der Haustür. Die Islamische Republik Iran hat nämlich nicht nur der Hizbullah die Kurzstreckenraketen geliefert, mit denen jetzt Israel beschossen wird. Das Land investiert auch viel Geld in den Aufbau eines eigenen Raketenarsenals mit größeren Reichweiten. Westliche Dienste schätzen, daß es nicht mehr lange dauern wird, bis das iranische Militär in der Lage ist, Ziele in Mitteleuropa zu erreichen. Gegenüber Iran sind die Europäer aber alles andere als neutrale Zaungäste der Weltpolitik: Ihre Verhandlungsführung im Atomstreit hat ihnen Feinde in Teheran geschaffen, und die Auseinandersetzungen über die Mohammed-Karikaturen haben gezeigt, daß Europa dort genauso zum öffentlichen Haßobjekt werden kann wie Amerika.
Bedauerlicherweise sind aus dieser Erfahrung in Brüssel, Berlin und anderen Hauptstädten in der EU keine grundlegenden Schlüsse gezogen worden. Die wenigen, die hierzulande noch über Landesverteidigung nachdenken, geben sich in der Regel mit der Erkenntnis zufrieden, daß der amerikanische Ansatz des Regimesturzes gescheitert ist - im Irak und damit für vergleichbare Fälle wie Iran oder Nordkorea. Doch mit einem Dialog der Völkerrechtler wird man auch nicht weiterkommen.
Tatsächlich haben multilaterale Verträge, auf die die Europäer große Stücke halten, weder verhindern können, daß Kim seine Raketen baut, noch daß das iranische Regime Anlagen zur Gewinnung atomwaffenfähigen Materials errichtet hat. Dabei gibt es internationale Abkommen, die beides verhindern sollen. Das wichtigste ist der Nichtverbreitungsvertrag, der nur den fünf offiziellen Atommächten - Amerika, Rußland, China, Frankreich und Großbritannien - den Besitz von Kernwaffen gestattet. Wie viel oder wie wenig ein solcher Vertrag wert sein kann, haben gerade die Regierungen in Teheran und Pjöngjang demonstriert: Iran führt die UN-Inspekteure, die das Abkommen überwachen sollen, schon lange an der Nase herum - bis heute ist nicht geklärt, ob es nicht doch ein geheimes Atomwaffenprogramm betreibt; und Kim kündigte einfach die Mitgliedschaft, als er technisch in der Lage war, die Bombe zu bauen.
Kaum besser sieht es bei den ein, zwei internationalen Verträgen aus, die den Export von Raketentechnik begrenzen sollen. Ihre Namen (Missile Technology Control Regime; Haager Verhaltenskodex) werden selbst vielen Diplomaten nicht geläufig sein. Vor allem aber haben sie nicht in jedem Fall verhindert, daß doch wieder einzelne Firmen, meist aus Rußland oder China, Bauteile an zwielichtige Kunden geliefert haben.
Die Europäer werden sich zu robusteren Antworten bequemen müssen. Einen ersten Schritt haben einige Regierungen, darunter die deutsche, schon getan: Sie sind der "Proliferation Security Initiative" beigetreten; das ist ein amerikanischer Versuch, den Handel mit Raketen und mit anderer brisanter Technik notfalls mit Gewalt zu unterbinden: zum Beispiel durch Aufbringen verdächtiger Schiffe auf hoher See.
Wichtiger ist allerdings, daß endlich etwas unternommen wird, um das Droh- und Erpressungspotential zu neutralisieren, das die Verbreitung der Raketentechnik überseeischen Despoten in die Hand gibt. Schon vor den Anschlägen des 11. September 2001 hatte die amerikanische Regierung beschlossen, eine Raketenabwehr zum Schutz des Heimatlandes und ihrer Verbündeten aufzubauen. Es war eine große "Leistung" des damaligen grünen Außenministers Fischer, daß er dieses Projekt in Verkennung der neuen Sicherheitslage so lange schlechtredete, bis die gesamte damalige Bundesregierung gegen eine deutsche Beteiligung war. Während die Amerikaner heute die ersten Abfangbatterien aufstellen, kann niemand der deutschen Bevölkerung sagen, wie sie im Ernstfall gegen eine Atomrakete aus dem Mittleren Osten oder aus Asien zu schützen wäre, die auf eine deutsche Großstadt zufliegt. Hier gibt es Entscheidungs- und Handlungsbedarf.
Text: F.A.Z., 31.07.2006, Nr. 175 / Seite 1
MfG kiiwii |