Erst der Crash, dann die Rallye – jetzt investieren oder verkaufen?
Stand: 11:48 Uhr | Lesedauer: 7 Minuten Von Daniel Eckert, Holger Zschäpitz Noch notieren viel Aktien deutlich niedriger als Ende 2019. Es wäre als noch Gelegenheit, günstig zuzuschlagen. Doch ist das in Zeiten wie diesen überhaupt ein Kriterium?Noch notieren viel Aktien deutlich niedriger als Ende 2019. Es wäre als noch Gelegenheit, günstig zuzuschlagen. Doch ist das in Zeiten wie diesen überhaupt ein Kriterium? Noch notieren viel Aktien deutlich niedriger als Ende 2019. Es wäre also noch Gelegenheit, günstig zuzuschlagen. Doch ist das in Zeiten wie diesen überhaupt ein Kriterium? Quelle: Getty Images Nach dem schnellsten Absturz aller Zeiten tobt an den Börsen ein Turbo-Aufschwung. Sparer stehen jetzt vor der Frage aller Fragen: neu investieren oder alles verkaufen, bevor das ganz dicke Ende kommt? Für ein Szenario gibt es die besseren Argumente. 64
Dieser Tage gehen bei Deutschlands Vermögensverwaltern zahllose Anrufe und E-Mails ein. Sie haben alle den gleichen Tenor: Ist das Schlimmste an der Börse schon überstanden? Soll ich jetzt wieder einsteigen? Die Frage liegt auf der Hand. Denn seit den schwärzesten Stunden des Corona-Aktiencrashs im März, in denen der Deutsche Aktienindex (Dax) 40 Prozent unter sein Hoch zurückgefallen war, hat sich der Leitindex schon um fast ein Viertel erholt.
Es war der schnellste Absturz in den Bärenmarkt aller Zeiten, gefolgt von einem Turbo-Aufschwung. Für Anleger stellt sich jetzt eine Frage: neu investieren oder raus mit allem, ehe das dicke Ende kommt?
Noch notieren viele Dax-Aktien deutlich niedriger als Ende 2019. Der Triebwerksbauer MTU steht aktuell gut 50 Prozent unter dem Stand von Ende Dezember, Lufthansa 46 Prozent, Daimler 43 Prozent. Es wäre also noch Gelegenheit, günstig zuzuschlagen. Doch ist „günstig“ in Zeiten wie diesen ein Kriterium?
Quelle: Infografik WELT Für manche Beobachter nämlich ist die Kurserholung eine Bärenmarktrallye, ein ebenso trügerischer wie kurzlebiger Aufschwung inmitten einer langen Leidensphase an der Börse. Bärenmärkte konnten in der Vergangenheit mehrere Jahre anhalten und zig Milliarden Euro oder Dollar an Anlegergeldern vernichten.
In solchen Baissephasen gab es immer wieder Gegenbewegungen, die allerdings nur trügerische Hoffnung nährten. Schon bald würden schlechte Wirtschafts- und Unternehmensmeldungen die Kurse wieder nach unten ziehen. In der großen Finanzkrise von 2008 erlebte der Dax nicht weniger als fünf tückische Gegenbewegungen ohne Substanz.
Die stärkste Bärenmarktrallye, die es im Herbst 2008 gab, trieb den Index um gut 40 Prozent nach oben, bevor es danach noch mal kräftig nach unten ging. Erst im März 2009 wurde das endgültige Tief erreicht. Auch diesmal könnten noch jede Menge Horrornachrichten auf die Investoren zurollen und den Dax wieder unter die Marke von 10.000 Punkten drücken.
Schlechte Kennzahlen bei den Unternehmen in Sicht „Fest steht: Wir werden eine Phase mit schlechten Wirtschaftskennzahlen durchlaufen, an denen sich die Anleger aus etwas größerer Perspektive kaum orientieren können“, sagt Henrik Drusebjerg, der Chefstratege der dänischen Danske Bank. Mangels Planungssicherheit würden Unternehmen noch lange nicht in der Lage sein, ihre Geschäftserwartungen für 2020 klar zu formulieren. Solche unklaren Aussichten sind eigentlich Gift für die Börse.
„Für die kommende Zeit ist mit weiterhin hoher Unsicherheit und erheblichen Kursschwankungen zu rechnen“, sagt daher Drusebjerg. Unterdessen könnten sich Anleger auf andere Dinge konzentrieren, zum Beispiel die Wirkung der staatlichen Hilfspakete sowie die Entwicklung der Infiziertenzahlen.
„Hier und jetzt sind es nicht die Unternehmensgewinne im Jahr 2020, die den Anlegern am meisten Sorgen bereiten. Entscheidender ist die Frage, wann die Konjunktur wieder in Schwung kommt und wie stark die Corona-Krise zwischenzeitlich die Firmen und die Gesamtwirtschaft beeinträchtigt.“
Quelle: Infografik WELT Der Blick auf das, was über die Gewinnentwicklung 2020 bekannt ist, wirkt verstörend: „Die Zeit der Pein hat gerade erst begonnen“, umreißt Andreas Hürkamp, Chefanlagestratege der Commerzbank, das, was auf Aktionäre in den nächsten Wochen und Monaten zukommt.
Seit Jahresanfang haben Analysten ihre Dax-Gewinnprognosen bereits um rund 18 Prozent zurückgestutzt. Hürkamp erwartet eine Reihe weiterer Abwärtsrevisionen: „Nicht weniger als 28 der 30 Dax-Konzerne mussten in letzter Zeit eine Senkung der Gewinnerwartungen hinnehmen.“
Übel zurechtgestutzt wurden die Ertragsprognosen beim Autobauer Daimler, dem die Auguren heute weniger als die Hälfte der Profite zutrauen, die noch Anfang des Jahres möglich erschienen. Bei Volkswagen sind es 39 Prozent weniger, bei BASF 25 Prozent weniger.
Das ist die Liste der unverwüstlichen Dividenden-Aktien Die Gewinnrevision haben dazu geführt, dass viele Dax-Titel trotz der noch immer heftigen Abschläge keine wirklichen Schnäppchen sind. Gemessen am sogenannten Kurs/Gewinn-Verhältnis (KGV), das die aktuellen Notierungen in Relation zu den erwarteten Gewinnen setzt, ist der Leitindex sogar hoch bewertet. Das KGV von 14 liegt deutlich über dem historischen Schnitt, ganz zu schweigen von Krisenzeiten, in denen der Quotient in der Regel einstellig war.
Doch das Index-KGV hat in diesen Tagen keine wirkliche Aussagekraft. Einige Unternehmen machen weiterhin gute Geschäfte, bei anderen ist ein beträchtlicher Teil der Umsätze weggebrochen. Und außerdem kann niemand aufrichtig vorhersagen, wie schnell die Ökonomie aus dem politisch verordneten Koma herausfindet. Klar ist nur: Weltweit pumpen Regierungen und Notenbanken historische Summen in den Wirtschaftskreislauf, und zwar in Rekordzeit. Damit lässt sich die aktuelle Krise schwer mit vorherigen vergleichen.
Die Europäische Zentralbank hat innerhalb von nur einem Monat fast eine halbe Billion Euro in die Märkte gepumpt. Die amerikanische Notenbank Fed hat sogar rund 1,7 Billionen Dollar mobilisiert. Derartig riesige Summen werden nicht ohne Wirkung bleiben. Die amerikanische Großbank JPMorgan hält das Tal an den Börsen für durchschritten.
Barclays: Höhepunkt der Krise an der Börse ist vorüber Ähnlich sehen das die Auguren der britischen Bank Barclays. „Nach unserer Ansicht haben die Angst und die Unsicherheit in der Krise ihren Höhepunkt gesehen“, sagt Barclays-Stratege Emmanuel Cau.
Notenbanken und Regierungen hätten mit ihren beherzten Interventionen die Risiken deutlich reduziert. „Auf Sicht von sechs bis zwölf Monaten bieten Aktien ein attraktives Chance-Risiko-Verhältnis“, schlussfolgert Cau.
Selbst die deutlich pessimistischeren Strategen der Investmentbank Goldman Sachs kommen auf diesen Zeithorizont zu einer ähnlichen Einschätzung. Zwar rechnen die Experten damit, dass der amerikanische Leitindex S&P500 noch mal 20 Prozent auf 2200 Punkte fallen könnte.
Doch bis zum Jahresende rechnen sie wieder mit einer deutlichen Erholung. Auch für Europa zeigen sich die Goldman-Experten optimistisch. Die Investoren würden das laufende Jahr abschreiben und bereits auf die Gewinnerwartungen im kommenden Jahr schauen. Und gemessen daran sähe die Situation sehr vorteilhaft aus.
„Das Aufwärtspotenzial ist größer als das Abwärtsrisiko“, sekundiert auch Drusebjerg. Nach den großen Kurseinbrüchen im März dürfte momentan das Aufwärtspotenzial an den Aktienmärkten größer sein als das Abwärtspotenzial, auch wenn es durchaus möglich sei, dass noch weitere Phasen mit erheblichen Kursrückgängen kommen.
Allerdings sollten Anleger eines nie vergessen: „Erfahrungsgemäß vollziehen die Aktienmärkte einige Zeit vor der Wirtschaft eine Kehrtwende – nämlich dann, wenn die Anleger so langsam die ersten Silberstreifen am Horizont erkennen.“
Unternehmen ohne nennenswerten Geschäftseinbruch Eines macht den Wirtschaftseinbruch von 2020 einzigartig: Die Börsenfirmen sind so ungleich vom Abschwung betroffen wie noch nie. Teils trifft die Rezession Unternehmen, die schon vorher schwer in der Defensive waren. Sie werden auch durch die Notenbankmilliarden nicht gerettet werden.
Andere Gesellschaften erleben durch den Lockdown keinen nennenswerten geschäftlichen Einbruch. Nach aktuellen Schätzungen kann im Dax zum Beispiel der Pharma- und Agrochemiekonzern Bayer auf ein beinahe ebenso gutes Geschäftsjahr 2020 hoffen, wie vor Ausbruch der Corona-Krise erwartet. Auch die Deutsche Telekom muss keinen Rückgang ihrer geschäftlichen Aktivitäten verkraften.
Bei beiden Konzerne geht das mit einer erwarteten Dividendenrendite von mehr als fünf Prozent einher. Für den Wohnungskonzern Vonovia gehen die Analysten derzeit sogar von einer besseren Gewinnentwicklung aus als vor drei Monaten avisiert. Auch der kleinere Wettbewerber LEG aus dem MDax muss nach aktuellem Stand kein Minus befürchten. Zu den Unternehmen mit krisenresistentem Business zählen außerdem Merck und SAP.
Quelle: Infografik WELT Anders sieht es bei der Deutschen Lufthansa oder dem Triebwerkspezialisten MTU Aero Engines aus. Ob Reisegeschäft und Flugverkehr auf absehbare Zeit an alte Erfolge anknüpfen, scheint fraglich.
Doch auch bei den Geldhäusern haben sich die Aussichten nachhaltig verschlechtert, zumal die weiter intensivierte Nullzinspolitik Teile ihres Geschäftsmodells erodiert. So darf es kaum verwundern, dass die 2020er-Gewinnerwartungen für die Deutsche Bank längst in 2020er-Verlusterwartungen umgeschlagen sind.
Pessimistische Charttechniker Charttechniker erleben die Krise in einer ganz eigenen Welt. Ihnen ist egal, wohin die Gewinne gehen. Entscheidend sind allein Kursverläufe. Positiv merken die Profis an, dass der Buchwert, eine wichtige Unterstützungslinie beim Dax gehalten hat.
In Dax-Punkte umgerechnet, beträgt der aktuelle Buchwert knapp 8400 Stellen. Allerdings hätten andere wichtige technische Marken nicht gehalten.
„Beim Kursrutsch wurde viel Porzellan zerschlagen“, mahnt André Rain, Technischer Analyst bei Goldmode Trader. Da der Deutsche Aktienindex 2018 und 2020 ein Doppeltop gebildet habe, herrsche prinzipiell die Gefahr gegeben, dass es zu einem längeren Bärenmarkt kommt.
Das rechnerische Ziel für einen weiteren Rückschlag liege im „Unterstützungsbereich 7200 bis 7600 Punkte. Unterhalb von 7100 Zählern würden ganz düstere Wolken aufziehen, dann stünde einem längeren Bärenmarkt nichts mehr im Wege.“
Umgekehrt gelte aus charttechnischer Sicht: „Eine weitere Erholung über 10.600 hinaus wäre eine Zugabe, welche den Index bis 11.300 bis 11.600 Punkte tragen könnte“, sagt Rain.
Erst oberhalb von 11.600 Stellen helle sich die charttechnisch angeschlagene Situation aber wieder so auf, dass ein neuer Anstieg zu den Allzeithochs ins Gespräch komme. |