Wissen Sie eigentlich, was am kommenden Montag los ist? Richtig: Endlich mal ein Feiertag, an dem weder ein katholischer noch ein evangelischer Pastor uns ein schlechtes Gewissen wegen Endlich- Mal- Ausschlafens verpassen kann. Auch richtig: Tag der Deutschen Einheit - und seit der Wiedervereinigung kann uns da auch keiner aufgrund irgendeiner Kundgebung das Endlich- Mal- Ausschlafen versauen. Ebenfalls richtig: 17. Todestag von Franz- Josef Strauß. Auch kein Grund aufs Endlich- Mal-Ausschlafen zu verzichten. Allerdings steht am 3. Oktober 2005 ein weiteres Ereignis auf der Tagesordnung, das durchaus dazu angetan sein dürfte, dem Einen oder Anderen unter uns den Schlaf zu rauben: Der offizielle Beginn der Verhandlungen über einen EU- Beitritt der Türkei. Ein ziemliches Reizthema für einen Haufen Leute. Ich erinnere nur an Joschka Fischers Wahlrede, in der er am 7. September vor dem Bundestag zur Türkei- Politik der Union Stellung nahm: Aber jetzt der Türkei die Tür vor der Nase zuzuschlagen, weil Herr Stoiber kulturelle Einwände hat, oder weil Frau Merkel meint, es wär weniger wichtig. An dem Punkt, Frau Merkel, versündigen Sie sich an den Sicherheitsinteressen Europas und Deutschlands mit Ihrer Türkeipolitik. Jawohl, Sie lagen in der Irak- Politik falsch. Sie haben nicht die Analyse, die man braucht in solchen Situationen. Was Sie jetzt in der Türkeipolitik machen, halte ich für noch viel gefährlicher. Die Angesprochene hatte in ihrer Ansprache zuvor Folgendes zum Besten gegeben: Ich werde mich nicht davon abbringen lassen, den Menschen zu sagen, dass ich eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union für falsch halte, dass wir eine privilegierte Partnerschaft anbieten und dass wir bei den ergebnisoffenen Verhandlungen, die wahrscheinlich beginnen werden, so die Türkei die Vorbedingungen erfüllt, genau auch auf diesen Punkt weiter hinweisen werde. Und ich sage Ihnen, dies ist die verantwortungsvollste Position, die man sich denken kann. Auch wenn man mal von den sprachlichen Unzulänglichkeiten des Bundestagsprotokolls absieht ist das starker Tobak auf beiden Seiten. Vielleicht wäre es mal ne gute Idee nachzusehen, wie es um die Fakten steht. Beginnen wir mit der Geschichte des EU- Beitritts der Türkei: Die beginnt nämlich vor 42 Jahren, im Jahr 1963 (als Frau Merkel noch etwas zu klein für die FDJ war). Damals schloss die Türkei mit der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ein Assoziationsabkommen, in dem erstmals explizit von einem Beitritt die Rede war. Dieses so genannte Abkommen von Ankara wurde 1970 um ein Zusatzprotokoll erweitert, in dem die grundsätzlichen Ziele der Heranführung der Türkei an die EU festgelegt wurden. Darin ging es um die ständige und ausgeglichene Stärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen und die Einführung einer Zollunion in drei Stufen. Im Zuge dieser Zollunion übernahm die Türkei bis 1996 wichtige Teile der Handels-, Wettbewerbs- und Zollpolitik der EU und begann so mit der Rechtsangleichung der Türkei an das System der Europäischen Gemeinschaft. 1987 bewarb sich die Türkei offiziell um die Vollmitgliedschaft in der EU. Zwar wurde dieser Antrag im Dezember 1997 EU- Gipfel in Luxemburg abgelehnt, am 11. Dezember 1999 erkannte der EU- Gipfel in Helsinki der Türkei dann allerdings doch den Status eines offiziellen Beitrittkandidaten zu. Seit 2001 gilt die Türkei offiziell als Beitrittspartner der EU. Sinn der Beitrittspartnerschaft ist es, dem Kandidaten zu ermöglichen, die Voraussetzungen für einen EU Beitritt zu schaffen. Diese Vorsaussetzungen sind seit 1993 als "Kopenhagener Kriterien" verbindlich definiert und bestehen aus drei Kernbereichen: Das "politische Kriterium" fordert institutionelle Stabilität, eine demokratische und rechtstaatliche Ordnung, die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten. Das "wirtschaftliche Kriterium" setzt eine funktionsfähige Marktwirtschaft und damit die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck innerhalb des EU-Binnenmarktes standzuhalten, voraus. Das "Acquis-Kriterium" schließlich erwartet die Fähigkeit, sich die aus einer EU-Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen und Ziele zu Eigen zu machen. Konkret bedeutet das die Übernahme des gemeinschaftlichen Regelwerkes, des "Acquis communautaire" (gemeinschaftlicher Besitzstand), ein Konvolut von etwa 80.000 Seiten mit Rechtstexten. Wohlgemerkt: Die Kopenhagener Kriterien sind ein klar definiertes Regelwerk, das für alle Beteiligten verbindlich ist. Folglich haben die EU- Staats und Regierungschefs nichts anderes getan als verbindliche Verträge zu erfüllen, als sie am 17. Dezember 2004 der Empfehlung der EU- Kommission (die zuvor treu und brav alle Checklisten abgehakt hatte) folgten und den Beginn der Beitrittsverhandlungen am kommenden Montag beschlossen. Bleibt also festzuhalten, dass die Union sich mit ihren Stammtisch- Parolen gegen einen EU- Beitritt der Türkei zunächst mal am Diktum des seligen FJS versündigte: "pacta sunt servanda," pflegte der stets zu wiederholen. Auch die Formulierungen, die man sich inzwischen zurechtgelegt hat, sind nicht sonderlich überzeugend: Wie soll denn bitteschön eine "privilegierte Partnerschaft" aussehen, wenn die Türkei im Rahmen der Zollunion schon so gut wie alle Privilegien einer EU- Mitgliedschaft genießt? Lediglich die Freizügigkeit und der Anspruch auf Agrar- Subventionen fehlen noch. Und es steht nicht zu erwarten, dass die Union einen dieser beiden Gimmicks aus der Tüte ziehen will, um sich eine "privilegierte Partnerschaft" zurechtzuzimmern. Und das mit den "ergebnisoffenen Verhandlungen" ist schlicht eine Lachnummer: Wenn Verhandlungen nicht ergebnisoffen sind, sind's nun mal keine Verhandlungen. Übrigens ist der Beitrittsprozess der Türkei tatsächlich ergebnisoffen. Die Türkei hat seit dem Beginn der Beitrittspartnerschaft im Jahr 2001 ihr Bruttosozialprodukt von 143 Milliarden US- Dollar auf 293 Milliarden im Jahr 2004 mehr als verdoppelt. Gleichzeitig sank die Inflationsrate von 54% auf um die 10%. Das CIA World Factbook beziffert das reale Wirtschaftswachstum der Türkei für das vorige Jahr auf 8,2% - dieselbe Quelle nennt für die EU ein reales Wirtschaftswachstum von 2,4%. Die Beitrittsverhandlungen werden sich über gut und gerne zehn bis 15 Jahre hinziehen. Sollte sich die Türkei weiter im selben Tempo entwickeln, besteht durchaus die Chance, dass die Türken nicht die mindeste Lust verspüren werden, sich mit einer lendenlahmen EU zu liieren. Quelle: http://www.schandmaennchen.de/pcmain.html |