ZUWANDERUNGSGESETZ: 6 Lösungswege

Seite 1 von 1
neuester Beitrag: 18.12.02 13:39
eröffnet am: 03.04.02 16:23 von: Happy End Anzahl Beiträge: 14
neuester Beitrag: 18.12.02 13:39 von: Happy End Leser gesamt: 1001
davon Heute: 1
bewertet mit 1 Stern

03.04.02 16:23
1

95441 Postings, 8481 Tage Happy EndZUWANDERUNGSGESETZ: 6 Lösungswege

Für Unions-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber ist es ein klarer Fall: Bei der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz in der Länderkammer habe Bundesratspräsident Klaus Wowereit "kaltschnäuzig" die Verfassung gebrochen. Für Juristen ist vor allem die exakte Analyse der Details spannend. Ein Ausflug in den Paragrafendschungel.  

Berlin - Man kennt das ja: Weil die gewählten Volksvertreter in zentralen Fragen keinen Konsens finden, ruft die unterlegene Partei nach dem Verfassungsgericht. Euro-Einführung, Bundeswehreinsätze im Ausland, Homo-Ehe - fast jedes umstrittene Gesetz landet früher oder später in Karlsruhe. Ob es ihnen gefällt oder nicht - die Verfassungsrichter werden damit immer mehr zu einer Art letzter Instanz im Gesetzgebungsverfahren.
Beim Zuwanderungsgesetz liegt der Fall ein wenig anders. Zwar ist auch hier der Inhalt des Gesetzes zwischen den Parteien heftig umstritten - doch im Zentrum der derzeitigen Auseinandersetzung steht weniger der Inhalt des Zuwanderungsgesetzes als vielmehr die Frage, ob das Gesetz verfassungskonform zu Stande gekommen ist. Floskeln wie "Wowereit durfte das" oder "Verfassungsbruch" helfen hier nicht weiter. Ein Blick ins Grundgesetz und die einschlägigen Kommentare schon eher.

Auf die Frage, ob das Zuwanderungsgesetz nach den Vorschriften des Grundgesetzes zu Stande gekommen ist, gibt es sechs mögliche Antworten.  

1. Nein - denn mit Schönbohms "Nein" war die Sache gelaufen.

2. Ja - denn nach Schönbohms "Nein" wurde die Abstimmung fortgesetzt, und die "Ja-Stimme" des Ministerpräsidenten war entscheidend.

3. Nein - denn Stolpes Stimme war nur eine von drei Stimmen aus Brandenburg.

4. Nein - denn die Abstimmung wurde zwar wiederholt, doch auch im zweiten Durchgang stehen sich Stolpes "Ja" und Schönbohms "Nein" gegenüber.

5. Ja - denn die gesamte Abstimmung wurde wiederholt, und es zählte Stolpes "Ja".

6. Ja - denn die Abstimmung wurde wiederholt, und Schönbohms Gemurmel war formal keine Stimmabgabe.

Herr Präsident, übernehmen Sie!

Nach Artikel 82, Absatz 1 des Grundgesetzes muss Bundespräsident Johannes Rau nun prüfen, ob das Gesetz "nach den Vorschriften des Grundgesetzes zu Stande gekommen" ist. Natürlich ist auch die Aufgabe des Bundespräsidenten im Gesetzgebungsverfahren unter Juristen umstritten.

Unterschiedliche Auffassungen gibt es vor allem darüber, ob der Bundespräsident auch befugt ist, Gesetze vor der Ausfertigung auf ihre materielle - also inhaltliche - Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen. Die wohl herrschende Auffassung bejaht ein eingeschränktes materielles Prüfungsrecht, nach dem der Bundespräsident bei offensichtlichen Verstößen gegen materielles Verfassungsrecht die Ausfertigung verweigern kann.

Im Fall des Zuwanderungsgesetztes geht es jedoch nicht um die materielle Frage, ob der Inhalt des Zuwanderungsgesetzes gegen das Grundgesetz verstößt, sondern nur um die formelle Frage, ob die Verfahrensvorschriften des Grundgesetzes eingehalten wurden. Bei solchen formellen Fragen hat der Bundespräsident ein umfassendes Prüfungsrecht - darin sind sich die meisten Juristen (ausnahmsweise) einmal einig. Herr Bundespräsident, übernehmen Sie!


Lösungsweg 1


Die erste Frage, die sich stellt, lautet: Hat das Zuwanderungsgesetz im Bundesrat die notwendige einfache Mehrheit erreicht oder nicht? Präziser ausgedrückt: Wurden für das Zuwanderungsgesetz ausreichend viele "Ja"-Stimmen abgegeben? Und die Antwort darauf ist eigentlich ganz einfach: Wenn die vier Stimmen des Landes Brandenburg "Ja" lauteten, dann hatte das Gesetz die erforderliche Mehrheit.
Wenn die Stimmen des Landes Brandenburg hingegen "Nein" oder "Enthaltung" lauteten oder wenn die Stimmen des Landes Brandenburg ungültig waren, hatte das Zuwanderungsgesetz im Bundesrat keine Mehrheit - in all diesen Fällen muss eine Gegenzeichnung und Ausfertigung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten unterbleiben. Der Bundespräsident hätte hierbei keinen Ermessensspielraum. Wenn die Prüfung des Gesetzes einen solchen Verfahrensmangel offen legen würde, müsste er seine Unterschrift verweigern. Denn erstens ist auch der Bundespräsident gemäß Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes an die Verfassung gebunden und zweitens eröffnet Artikel 82 Absatz 1 des Grundgesetzes keinen solchen Ermessensspielraum.

Die entscheidende Frage ist also: Lauteten die vier Stimmen des Landes Brandenburg auf "Ja"?

Es mag für den Nichtjuristen befremdlich klingen, diese Frage so ausführlich zu erörtern. Doch genau darin besteht ein wesentlicher Teil der juristischen Arbeit: herauszufinden, auf welche Fragen es wirklich ankommt und dann auch nur diese Fragen zu beantworten. Juristische Gutachten sind keine Besinnungsaufsätze über die Welt an sich, sondern sezieren komplexe Sachverhalte.

Zurück zur alles entscheidenden Frage: Hat das Land Brandenburg einheitlich mit "Ja" gestimmt? Nur wenn wir diese Frage bejahen können, ist das Gesetz nach den Vorschriften des Grundgesetzes zu Stande gekommen.

An dieser Stelle drängt sich nun die Frage auf: Warum müssen denn alle vier Stimmen des Landes Brandenburg einheitlich sein? Warum können nicht zwei Stimmen "Ja" und zwei Stimmen "Nein" lauten? Wenigstens diese Frage wird von allen Juristen einheitlich beantwortet: weil der Grundgesetz-Artikel 51, Absatz 3, Satz 2, erster Halbsatz es zwingend so vorschreibt, dass selbst dem gewieftesten Winkeladvokaten keine andere Auslegungsmöglichkeit einfällt. Der entsprechende Satz lautet nämlich: "Die Stimmen eines Landes können nur einheitlich abgegeben werden."

Auf die Details kommt es an

Schauen wir uns jetzt noch einmal den Film der umstrittenen Abstimmung an. Wie wir noch sehen werden, ist der genaue Verlauf der Bundesratssitzung entscheidend für die juristische Lösung des Falles.

Alles fing damit an, dass der Schriftführer fragte: "Brandenburg?", und Alwin Ziel (SPD) antwortete: "Ja", dicht gefolgt vom "Nein" des brandenburgischen Innenministers Jörg Schönbohm (CDU). Bundesratspräsident Klaus Wowereit stellte daraufhin fest, "dass das Land Brandenburg nicht einheitlich abgestimmt hat."

Halten wir den Film an dieser Stelle an und rekapitulieren: Sicher ist, dass die durch Schönbohm und Ziel abgegebenen Stimmen nicht einheitlich auf "Ja" lauten. Jedenfalls eine Stimme des Landes Brandenburg, nämlich die von Schönbohm abgegebene, lautet auf "Nein." Bis hierhin wäre die Antwort also ganz einfach: da nicht alle vier Stimmen einheitlich auf "Ja" lauteten, hatte zu diesem Zeitpunkt das Zuwanderungsgesetz keine Mehrheit im Bundesrat (wenn man fiktiv schon einmal die weiteren Stimmen der anderen Bundesländer hinzuzählt).

Doch jetzt steuert der Bundesrats-Krimi seinem ersten Höhepunkt entgegen. Wir erinnern uns an den letzten Satz von Wowereit, bevor wir den Film angehalten haben: "Damit stelle ich fest, dass das Land Brandenburg nicht einheitlich abgestimmt hat. (...)." Was sollte Wowereit jetzt tun? Er hatte drei Möglichkeiten: Entweder er wiederholt die Abstimmung oder er setzt die Abstimmung fort (zum Unterschied zwischen Wiederholung und Fortsetzung kommen wir später) oder er stellt die Ungültigkeit der Stimmen fest.

Wiederholung, Fortsetzung oder Ungültigkeit?

Bevor wir zu der Alternative Wiederholung/Fortsetzung kommen, zuerst einmal zur Alternative Feststellung der Ungültigkeit: Das Grundgesetz sagt zwar in Artikel 51 Absatz 3, dass die Stimmen eines Landes nur einheitlich abgegeben werden können, aber es sagt nicht ausdrücklich, wie nichteinheitliche Stimmen zu bewerten sind. Da jedoch das "Ja" Ziels und das "Nein" Schönbohms weder einheitlich mit "Ja" noch einheitlich mit "Nein" oder "Enthaltung" gewertet werden können, kommt man zum logischen Schluss, dass man die Stimmen von Brandenburg gar nicht werten kann.

Der Fachausdruck dafür, dass man die Stimmen von Brandenburg nicht werten kann, lautet Ungültigkeit der Stimmen. Und auch da sind sich alle Juristen einig: wenn der Minister Ziel und der Minister Schönbohm einmal "Ja" und einmal "Nein" stimmen, dann sind die vier Stimmen des Landes Brandenburg ungültig.

Streit gibt es nur darüber, welche Folgen es hat, wenn ein Ministerpräsident "hü" sagt und ein Landesminister "hott". Entscheidet dann das Votum des Ministerpräsidenten allein? Aber dazu später.

Hätte Wowereit also nach dem "Ja" und dem "Nein" von Ziel und Schönbohm nicht nur festgestellt, "dass das Land Brandenburg nicht einheitlich abgestimmt hat", sondern fortgesetzt: "Also sind die Stimmen des Landes Brandenburg als ungültig zu werten", hätte sich keiner über diese Entscheidung beschweren können.

War die Abstimmung schon gelaufen?

Doch Wowereit fuhr anders fort: "Ich frage Herrn Ministerpräsident Stolpe, wie das Land Brandenburg abstimmt." Nanu? Geht denn das? Das ist die erste große Frage. War die Abstimmung nicht schon vorbei? Das Grundgesetz sagt hierzu ausdrücklich nichts, auch in der Geschäftsordnung des Bundesrates ist expressis verbis nichts zu finden. Aber die Frage brennt, und im SPIEGEL 13/2002, S. 24, erklärt der Staatsrechtler Denninger hierzu: "Das ist sicher ein schwacher Punkt der Sache." Mit anderen Worten: Die Juristen sind sich nicht einig.

Denninger vertritt dann die Auffassung, dass Wowereit nachfragen durfte, weil "ein Bundespräsident für ein Verfahren zu sorgen hat, das die verfassungsmäßigen Beteiligungsrechte der Länder angemessen zur Geltung bringt. Also musste er erforschen, was bei diesem verwirrenden Vorgang wirklich gelten soll." Aber ist Denningers Argument überzeugend? Man könnte einwenden: Was ist daran verwirrend, wenn einer "ja", und der andere "nein" sagt, also keine Einheitlichkeit vorliegt und damit die Stimmen von Brandenburg nicht gewertet werden können?

Auch die Mehrheit der juristischen Kommentare, die dieses Problem überhaupt ansprechen, sollen gegen eine "Wiederholung" der Abstimmung sein, so jedenfalls fasst Blumenwitz im Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Artikel 51, Randnummer 29 den Stand der juristischen Diskussion zusammen und auch Bauer im Kommentar zum Grundgesetz, herausgegeben von Horst Dreier, schlägt in seiner Kommentierung zu Artikel 51, Randnummer 22 in dieselbe Kerbe. Gelegentlich wird der Grundgesetz-Kommentar von Mangoldt/Klein als Beleg dafür angeführt, dass eine "Wiederholung" der Abstimmung zulässig sein soll - die aktuelle vierte Auflage des Kommentars sagt hierzu nichts. Und der Grundgesetz-Kommentar von Maunz/Dürig/Herzog führt ebenso - etwas versteckt - in der Fußnote 1 zur Kommentierung von Art. 51, Randnummer 27 aus, dass eine Wiederholung der Abstimmung ausgeschlossen sei.

Fazit:

Die Abstimmung war nach dem "Ja" und dem "Nein" von Ziel und Schönbohm beendet. Eine Wiederholung der Abstimmung ist unzulässig, Stolpes "Ja" spielt also gar keine Rolle mehr. Wegen der Uneinheitlichkeit der Stimmabgabe durch die gleichrangigen Minister Ziel und Schönbohm kommt es auch nicht darauf an, ob gegebenenfalls eine "Ja"-Stimmabgabe des Ministerpräsidenten die "Nein"-Stimme von Schönbohm aufhebt. Wegen der Uneinheitlichkeit der Stimmen sind die Stimmen des Landes Brandenburg ungültig.

Keine Mehrheit für das Zuwanderungsgesetz.


Lösungsweg 2


Bei diesem Lösungsweg gehen wir davon aus, dass die Abstimmung des Landes Brandenburg nach dem "Nein" von Innenminister Schönbohm weder vorbei war, noch wiederholt, sondern fortgesetzt wurde. Das Grundgesetz und die Geschäftsordnung des Bundesrates sagen nichts dazu, wann eine Abstimmung vorbei ist, oder wann schon eine Wiederholung einer Abstimmung vorliegt oder lediglich eine Fortsetzung.
Wenn Geschäftsordnungen jedoch schweigen, wird man dem Versammlungsleiter, hier also dem Bundesratspräsident Wowereit zubilligen müssen, die Bundesratssitzung zweckdienlich zu leiten. Da ja bislang erst Ziel und Schönbohm abgestimmt hatten, könnte man durchaus vertreten, dass Wowereit die begonnene Abstimmung nur fortsetzt (und nicht wiederholt), wenn er die weiteren Bundesratsmitglieder des Landes Brandenburg, insbesondere Herrn Stolpe, mit folgenden Worten zur Stimm-abgabe auffordert: "Ich frage Herrn Ministerpräsident Stolpe, wie das Land Brandenburg abstimmt."

Doch wie ging es tatsächlich weiter im Bundesrat? Auf die Nachfrage von Wowereit antwortete Stolpe: "Als Ministerpräsident des Landes Brandenburg erkläre ich somit: Ja." Jetzt halten wir den Film wieder an, denn die folgende Äußerung von Brandenburgs Innenminister Schönbohm spielt für diesen Lösungsweg keine Rolle. Die Abstimmung wurde fortgesetzt und somit bleibt Schönbohms erstes "Nein" bestehen.

Wir haben jetzt also drei Stimmen, nämlich zweimal "Ja" (von Stolpe und Ziel) und einmal "Nein" (von Schönbohm).

Erst an dieser Stelle der Prüfung kommt es also auf die Frage an, die zurzeit am meisten diskutiert wird: Kann der Ministerpräsident eines Bundeslandes die anderen Mitglieder seines Landes im Bundesrat überstimmen, hebt also Stolpes "Ja" das "Nein" von Schönbohm auf? Dazu ist auch in der Tagespresse schon vieles gesagt und geschrieben worden. In der ganzen juristischen Literatur gab es bislang nur einen einzigen Autoren, der ein solches Ober-Entscheidungsrecht des Ministerpräsidenten bejahte, nämlich Klaus Stern auf Seite 137 in Band II seines Werkes "Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland".

Alle anderen lehnten die Stern'sche Auffassung ab, nämlich zum Beispiel: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Artikel 51, Randnummer 10 und die Grundgesetz-Kommentare von: von Mangoldt/Klein, Artikel 51 Randnummer 21; Jarass/Pieroth, Artikel 51 Randnummer 6; Dreier, Artikel 51, Randnummer 22.

Manchmal wird auch der Bonner Kommentar mit seinem Bearbeiter Blumenwitz als Anhänger der Stern'schen Meinung zitiert, wonach auch Blumenwitz angeblich die Auffassung vertrete, die Stimme des Ministerpräsidenten entscheide im Konfliktfall. Wer aber die Passage im Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Artikel 51 Randnummer 29, liest, stellt fest, dass Blumenwitz nur alle vertretenen Auffassungen darstellt und sich gar keiner Meinung anschließt.

Nun muss ja eine Meinung nicht schon deshalb falsch sein, weil man der Einzige ist, der sie vertritt. Deshalb sollten wir uns mit den Argumenten von Stern auseinander setzen, die dieser für seine Auffassung, die Stimme des Ministerpräsidenten entscheide, anführt. Lassen wir Stern selbst zu Wort kommen: "Die Ungültigkeitsfolge bei uneinheitlicher Stimmabgabe hätte schwer wiegende Folgen für die Stimmabgabe des Landes und (...) auch für die Gesamtentscheidung (...). Unter diesen Umständen erscheint die Annahme der Ungültigkeit höchst zweifelhaft." Das ist also das Stern'sche Argument: Die Ungültigkeit hätte die Folge, dass - wie beim Zuwanderungsgesetz - gerade die ungültigen Stimmen die ausschlaggebenden sein können und dann das Gesetz wegen der Ungültigkeit der Stimmen scheitert.

Gegen Stern könnte man einwenden: Na und? Viele Gesetze scheitern daran, dass sie nicht die notwendige Mehrheit erhalten. Doch wir könnten Stern auch so interpretieren, dass die Feststellung der Ungültigkeit nicht nur nachteilig für das Gesetzgebungsverfahren selbst ist, sondern vielmehr einen schwer wiegenden Nachteil für das betroffene Bundesland darstellt. Schließlich heißt es bei Stern: "Die Ungültigkeitsfolge bei uneinheitlicher Stimmabgabe hätte schwer wiegende Folgen für die Stimmabgabe des Landes und (..)". Stern hebt also vor allem auf die Chancen eines Bundeslandes ab, überhaupt (gültige) Stimmen abzugeben.

Im konkreten Fall hätte Stolpe freilich auch eine ganz andere Möglichkeit gehabt, für eine einheitliche Stimmabgabe und damit für gültige Stimmen seines Landes Brandenburg zu sorgen: Er hätte seinen widerspenstigen Minister, der ja vor der Abstimmung keinen Hehl aus seiner Gesinnung gemacht hatte, einfach entlassen können.

Trotzdem folgen wir für diesen Lösungsweg der Auffassung von Stern, der sich im SPIEGEL-Interview (13/2002, S. 24) wenigstens auch Erhard Denninger anzuschließen scheint.

Fazit:

Die Abstimmung war nach dem "Ja" und dem "Nein" von Ziel und Schönbohm noch nicht vorbei, sondern lief weiter (Fortsetzung der Abstimmung). Als dann Stolpes "Ja" hinzukam, entschied dies, vernichtete also das "Nein" von Schönbohm. Folgt man dieser Auffassung von Stern, so hat das Land Brandenburg vier "Ja"-Stimmen abgegeben.

Das Zuwanderungsgesetz ist wirksam zu Stande gekommen.


Lösungsweg 3


Auch bei dieser Variante gehen wir davon aus, dass die Abstimmung des Landes Brandenburg nach dem "Nein" von Innenminister Schönbohm weder vorbei war, noch wiederholt, sondern fortgesetzt wurde.
Auch hier spielt es keine Rolle, was Schönbohm gesagt hat, nachdem Stolpe gesagt hatte: "Als Ministerpräsident des Landes Brandenburg erkläre ich somit: Ja." Denn die Abstimmung wurde fortgesetzt und Schönbohms "Nein" ist nicht aus der Welt zu schaffen.

Wir haben jetzt also wieder drei Stimmen, nämlich zweimal "Ja" (von Stolpe und Ziel) und einmal "Nein" (von Schönbohm).

Knackpunkt dieses Lösungsweges ist erneut die Frage: Kann der Ministerpräsident eines Bundeslandes die anderen Mitglieder seines Landes im Bundesrat überstimmen, hebt also Stolpes "Ja" das "Nein" von Schönbohm auf? Wie bereits in Lösungsweg 2 ausführlich beschrieben, gibt es in der ganzen juristischen Literatur bislang nur einen einzigen Autor, der ein solches Ober-Entscheidungsrecht des Ministerpräsidenten bejaht, nämlich Klaus Stern auf Seite 137 in Band II seines Werkes "Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland". Alle anderen lehnen die Stern'sche Auffassung ab.

Doch welche Argumente führt Stern ins Feld? Lassen wir den Verfassungsrechtler selbst zu Wort kommen: "Die Ungültigkeitsfolge bei uneinheitlicher Stimmabgabe hätte schwer wiegende Folgen für die Stimmabgabe des Landes und (...) auch für die Gesamtentscheidung (...). Unter diesen Umständen erscheint die Annahme der Ungültigkeit höchst zweifelhaft." Das ist das einzige Stern'sche Argument: Die Ungültigkeit hätte die Folge, dass - wie beim Zuwanderungsgesetz - gerade die ungültigen Stimmen die ausschlaggebenden sein können und dann das Gesetz wegen der Ungültigkeit der Stimmen scheitert.

Na und? Das ist - vorsichtig formuliert - kein besonders starkes Argument. Warum sollte nur deshalb eine gültige Stimmabgabe erzwungen werden, weil sonst ein Gesetz nicht zu Stande kommt? Viele Gesetze scheitern daran, dass sie nicht die notwendige Mehrheit erhalten.

Es spricht also viel dafür der herrschenden Meinung zu folgen, die immerhin das Argument für sich in Anspruch nehmen kann, näher am Wortlaut des Grundgesetzartikels 51, Absatz 3, Satz 2 zu sein: Der schreibt die einheitliche Stimmabgabe vor, wenn also einer mit "Nein" und zwei mit "Ja" stimmen, haben wir keine einheitliche Stimmabgabe, womit die Stimmen nicht entsprechend den Vorschriften der Verfassung abgegeben wurden, und damit jedenfalls nicht als einheitliche "Ja"-Stimme gewertet, aber eben auch nicht als einheitliche "Nein"-Stimme oder "Enthaltung" gewertet werden können, womit nur noch die Möglichkeit der Ungültigkeit bleibt.

Fazit:

Die Abstimmung war nach dem "Ja" und dem "Nein" von Ziel und Schönbohm noch nicht vorbei, sondern lief weiter (Fortsetzung der Abstimmung). Als dann Stolpes "Ja" hinzukam, lagen zwei "Ja"-Stimmen und eine "Nein"-Stimme vor. Folgt man der herrschenden Auffassung, wonach die Stimme des Ministerpräsidenten im Konfliktfall nicht entscheidet, so sind die Stimmen des Landes uneinheitlich abgegeben worden. Wegen der Uneinheitlichkeit der Stimmen sind die Stimmen des Landes Brandenburg ungültig.

Keine Mehrheit für das Zuwanderungsgesetz.


Lösungsweg 4


Für diese Variante gehen wir davon aus, dass die Abstimmung des Landes Brandenburg nach der Stimmabgabe der Minister Ziel und Schönbohm vorbei> war, eine Wiederholung der Abstimmung aber zulässig ist. Davon geht bisher allerdings nur eine kleine Minderheit von Staatsrechtlern aus.
Unter dieser Voraussetzung beginnt der Abstimmungsvorgang von neuem. Wowereit fragte: "Ich frage Herrn Ministerpräsident Stolpe, wie das Land Brandenburg abstimmt." Stolpe antwortete: "Als Ministerpräsident des Landes Brandenburg erkläre ich somit: Ja." Und Schönbohm warf (ungefragt) ein: "Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident."

Wenn man diese Aussage von Schönbohm jetzt als "Nein" interpretiert, ist das Ergebnis wie beim 3. Lösungsweg: Also nach herrschender Auffassung kein formell wirksames Zuwanderungsgesetz.

Fazit:

Die Abstimmung war nach dem "Ja" und dem "Nein" von Ziel und Schönbohm beendet. Eine Wiederholung der Abstimmung ist aber zulässig. Stolpe stimmte mit "Ja". Die nachfolgende Aussage von Schönbohm war ein "Nein", und damit sind die Stimmen des Landes Brandenburg uneinheitlich abgegeben worden.

Keine Mehrheit für das Zuwanderungsgesetz.


Lösungsweg 5


Auch bei dieser Variante gehen wir davon aus, dass die Abstimmung des Landes Brandenburg nach der Stimmabgabe der Minister Ziel und Schönbohm vorbei war, eine Wiederholung der Abstimmung aber zulässig ist. Davon geht bisher allerdings nur eine kleine Minderheit von Staatsrechtlern aus.
Der Abstimmungsvorgang beginnt also von neuem: Wowereit fragte: "Ich frage Herrn Ministerpräsident Stolpe, wie das Land Brandenburg abstimmt." Stolpe antwortete: "Als Ministerpräsident des Landes Brandenburg erkläre ich somit: Ja." Und Schonböhm warf (ungefragt) ein: "Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident."

Auch wenn man Schönbohms Aussage jetzt als "Nein" interpretiert, kann man zu dem Ergebnis kommen (siehe Lösungsweg 2), dass dieses "Nein" durch das "Ja" des Ministerpräsidenten vernichtet wurde. So interpretiert jedenfalls der Verfassungsjurist Klaus Stern (und wohl auch Erhard Denninger im SPIEGEL-Interview) die Vorschriften der Grundgesetzes.

Fazit:

Die Abstimmung war nach dem "Ja" und dem "Nein" von Ziel und Schönbohm beendet. Eine Wiederholung der Abstimmung ist aber zulässig. Stolpe stimmte mit "Ja". Die nachfolgende Aussage von Schönbohm war ein "Nein", doch in diesem Fall entscheidet die Stimme von Stolpe als Ministerpräsident (Richtlinienkompetenz, siehe Lösungsweg 2)

Das Zuwanderungsgesetz ist verfassungsgemäß zu Stande gekommen.


Lösungsweg 6


Wie bei Lösungsweg 4 und Lösungsweg 5 gehen wir wieder davon aus, dass die Abstimmung des Landes Brandenburg nach der Stimmabgabe der Minister Ziel und Schönbohm vorbei war, eine Wiederholung der Abstimmung aber zulässig ist. Davon geht bisher allerdings nur eine kleine Minderheit von Staatsrechtlern aus.
Nun stellt sich aber die Frage, ob Schönbohms Aussage: "Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident" überhaupt eine "Nein"-Stimme" war?

Denn wir erinnern uns: Wenn wir der Auffassung folgen, dass es sich um eine zulässige Wiederholung und nicht um eine Fortsetzung der Abstimmung handelt, ist die vorherige "Nein"-Stimme von Schönbohm gelöscht und "nicht mehr in der Welt" - die Abstimmung beginnt ja von vorn.

Man könnte ja auch auf die Idee kommen, dass die Aussage von Schönbohm nicht die Abgabe einer "Ja-", "Nein-" oder "Enthaltung"-Stimme ist, sondern nur der Hinweis an den Bundesratspräsidenten auf die in der Sache abweichende Meinung von Schönbohm.

Ein solcher Hinweis wäre aber keine "Nein"-Stimme (vergleiche hierzu Grundgesetz-Kommentar von Mangoldt/Klein, Artikel 51, Randnummer 21: "Artikel 51, Absatz 3, Satz 2 des Grundgesetzes verlangt nur die Einheitlichkeit bei der Abgabe der Stimmen, kein Bundesratsmitglied ist gehindert, seine persönliche Auffassung in den Bundesratsverhandlungen darzulegen.").

Wenn man also die Aussage von Schönbohm nicht als die Stimmabgabe interpretiert, sondern nur als persönliche Einlassung zur Sache, dann hätten wir nur die "Ja"-Stimme von Stolpe. In einem solchem Fall wären sich alle Juristen wieder einig: Wenn nur einer "Ja" sagt und alle anderen keine Stimmen abgeben, so gilt derjenige, der die Stimme abgibt, als Stimmführer, der dann alle Stimmen des Bundeslandes einheitlich abgibt. Artikel 51 Grundgesetz sagt nämlich nicht, dass das Bundesland so viele Mitglieder in den Bundesrat entsenden muss, wie es Stimmen hat, sondern nur, dass es so viele Mitglieder in den Bundesrat entsenden kann. Daraus wird zu Recht gefolgert, dass auch nur ein einziges Mitglied in den Bundesrat entsandt werden kann, das dann alle Stimmen des Landes einheitlich abgeben kann.

Es gibt auch ein gutes Argument, das dafür spricht, Schönbohms Satz: "Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident" nicht als Stimmabgabe, sondern als persönliche Einlassung zur Sache zu werten: wenn Schönbohm mit "Nein" hätte stimmen wollen, so hätte er es klar sagen können und müssen. Wenn man mit "Ja", "Nein" oder "Enthaltung" stimmen kann und stattdessen Reden zur Lage der Nation hält, ist das eben keine Stimmabgabe.

Fazit:

Die Abstimmung war nach dem "Ja" und dem "Nein" von Ziel und Schönbohm beendet. Eine Wiederholung der Abstimmung ist aber zulässig. Stolpe stimmte mit "Ja". Wenn man die Aussage von Schönbohm nicht als "Nein" interpretiert, sondern nur als persönliche Stellungnahme zur Sache, dann haben wir nur die "Ja"-Stimme von Stolpe, der dann als Stimmführer die vier Stimmen des Landes Brandenburg einheitlich mit "Ja" abgegeben hätte.

Das Zuwanderungsgesetz ist verfassungsgemäß zu Stande gekommen.

Gruß
Happy End
spiegel.de


 

03.04.02 17:50

95441 Postings, 8481 Tage Happy EndZu lang oder schon allumfassend? ;-))

04.04.02 11:20

95441 Postings, 8481 Tage Happy EndVogel greift Wowereit an

Der Streit um die Bundesratsabstimmung zum Zuwanderungsgesetz geht unvermittelt weiter. In einem Brief machte Thüringens Ministerpräsident Bernhard Vogel (CDU) dem derzeitigen Länderkammer-Präsidenten Klaus Wowereit (SPD) heftige Vorwürfe.

Berlin/Erfurt - Durch Wowereits Verhalten seien die "Verfassungsorgane der Bundesrepublik direkt und unmittelbar in Gefahr (...), Schaden zu nehmen", schrieb Vogel. Bundespräsident Johannes Rau werde in eine der Sache nicht zuträgliche Entscheidungslage gedrängt. Berlins Regierender Bürgermeister Wowereit hatte die Stimme Brandenburgs nach dreimaliger Nachfrage als Ja gewertet, wodurch das Gesetz die erforderliche Mehrheit erhielt.

Die FDP forderte unterdessen ein Allparteiengespräch beim Bundespräsidenten. Der innere Friede müsse wiederhergestellt werden, sagte FDP-Vize Rainer Brüderle in Berlin. "Es gibt niemanden, der besser für den Rechtsfrieden einstehen könnte als der Bundespräsident. Wir brauchen einen Bürgerpräsidenten und keinen Notar."

Die Union kündigte erneut an, dass sie vor dem Bundesverfassungsgericht klagen wird, wenn Rau das Gesetz unterschreibt. Der Leiter der bayerischen Staatskanzlei, Erwin Huber (CSU), sagte im ZDF-"Morgenmagazin", insgesamt sei klärungsbedürftig, wie bei unterschiedlicher Stimmenabgabe im Bundesrat die Verfassung künftig auszulegen sei.

Der Grünen-Innenexperte Cem Özdemir sagte: "Ich glaube, wir sind alle weiterhin gut beraten, dem Bundespräsidenten keine Vorschläge zu machen, da auch gut gemeinte Vorschläge völlig fehl angebracht sind." Die Union müsse sich damit abfinden, eine politische Entscheidung verloren zu haben, ansonsten werde das Spiel, das sie betreibe, "langsam absurd".

Das Bundespräsidialamt hatte zuletzt deutlich gemacht, dass Rau noch nicht entschieden habe, ob er das Gesetz unterschreiben werde oder nicht. "Wie alle Gesetze" werde das Zuwanderungsgesetz zunächst sorgfältig geprüft. Die Überprüfung wird wahrscheinlich noch einige Zeit dauern. Die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" hatte berichtet, Rau sei fest entschlossen, das Zuwanderungsgesetz zu unterzeichnen.
 

20.06.02 06:05

95441 Postings, 8481 Tage Happy EndRau will offenbar am Donnerstag unterzeichnen

Die Anzeichen verdichten sich, dass Bundespräsident Johannes Rau voraussichtlich an diesem Donnerstag das umstrittene Zuwanderungsgesetz unterzeichnen wird - am Weltflüchtlingstag der UN.

Berlin - Von Raus Entscheidung erfuhr die Deutsche Presse-Agentur am Mittwoch aus Koalitionskreisen. Im Bundespräsidialamt war dafür jedoch keine offizielle Bestätigung zu erhalten. "Ich kann dazu - heute so wie in den vergangenen Wochen - nichts sagen", teilte eine Sprecherin SPIEGEL ONLINE mit.
Auch Bundeskanzler Schröder sagte in einem NDR-Rundfunkinterview, er wisse nicht, ob Johannes Rau das umstrittene Zuwanderungsgesetz unterzeichnen werde. Er kenne die Absichten Raus nicht. Auch werde von Seiten der Bundesregierung kein Druck auf Rau ausgeübt. Allerdings steht das Thema Zuwanderung auf dem bevorstehenden EU-Gipfel in Sevilla auf der Tagesordnung. Dort wird eine klare Position der Bundesregierung erwartet - über die machbare Zuwanderungspolitik im eigenen Land.

Starker Druck der Union

Der Bundespräsident war in den vergangenen Wochen jedoch unter erheblichen Druck aus Reihen der Union geraten, das Gesetz nicht zu unterzeichnen. Zudem hatten Unionspolitiker den Gang zum Bundesverfassungsgericht angedroht. Gerüchte über eine baldige Unterzeichnung hatte es mehrmals gegeben. Experten hatten jedoch schon seit längerem vermutet, dass Rau den CDU-Parteitag noch abwarten werde, um dann vor seiner Asienreise am Wochenende reinen Tisch zu machen. Am Freitag findet das traditionelle Sommerfest des Bundespräsidenten statt, dies wäre ein idealer Anlass für ihn, dort seine Entscheidung zu begründen.

Rau hatte sich zwischenzeitlich mit mehreren Fachjuristen und Politikern aller involvierten Parteien getroffen, um seine Entscheidung vorzubereiten. Kürzlich hatte er sich auch mit Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) und dessen Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) zusammengesetzt. Beide sind unterschiedlicher Auffassung über das Gesetz geblieben. Sie hatten mit ihrem öffentlichen Streit bei der Abstimmung im Bundesrat über das Zuwanderungsgesetz den Bundespräsidenten in Zugzwang gebracht, sich für oder gegen eine Unterschrift zu entscheiden.

Andeutungen auf der Homepage?

Auf seiner Homepage (www.bundespraesident.de) stellte Johannes Rau am Mittwoch unter anderem drei seiner Grundsatzaussagen zum Thema Zuwanderung ins Netz. So aus seiner Antrittsrede als Bundespräsident vom 23. Mai 1999: "Es ist für mich nicht nur eine selbstverständliche Pflicht, sondern auch eine persönliche Verpflichtung, von dem Tag an, an dem ich das Amt des Bundespräsidenten wahrnehme, über alle Grenzen und über alle Unterschiede hinweg der Bundespräsident aller Deutschen zu sein und der Ansprechpartner für alle Menschen, die ohne einen deutschen Pass bei uns leben und arbeiten."

Raus zweites Zitat stammt aus seiner Berliner Rede 2000: "Wir müssen die Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen, wenn wir sie erfolgreich gestalten wollen - ohne Angst und ohne Träumereien. Gelungene Integration ist in unserem eigenen, vitalen Interesse. Sie mobilisiert Kräfte, die wir für eine gute Zukunft brauchen."

Das dritte Statement Raus stammt aus einer Rede anlässlich eines Schülerwettbewerbs zum Thema Zuwanderung im vergangenen Januar: "Wer zu uns kommt, der soll nicht nur hier sein, der soll auch dazugehören. Und er soll wissen und fühlen, dass er dazu gehört. Sonst zerfällt die Gesellschaft in Gruppen, die nebeneinander herleben, die nichts miteinander zu tun haben; in Gruppen die sich an unterschiedlichen Werten orientieren und sich nicht verständigen können."

Grüne begrüßen Nachricht, CDU droht

Die Union wird gegen das Zuwanderungsgesetz vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, sobald das Gesetz im Bundesgesetzblatt veröffentlicht wird, bekräftigte der stellvertretende CDU/CSU-Fraktionschef im Bundestag, Wolfgang Bosbach, in der in Berlin erscheinenden Tageszeitung "B.Z.". Auch der stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU, Christian Wulff, bekräftigte dies am Mittwochabend in Hannover. "Die CDU/CSU-regierten Länder werden das Verfassungsgericht um Klärung bitten müssen", sagte Wulff. Eine unionsgeführte Bundesregierung werde das Gesetz in entscheidenden Punkten rückgängig machen.

Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth sprach dagegen von einer guten Nachricht. "Das Zuwanderungsgesetz wird unser Land modernisieren, demokratisieren und europäisieren. Deutschland wird noch zukunftsfähiger", sagte Roth. Ein Einwanderungsland Deutschland brauche klare Regeln. Roth warnte Unionskanzlerkandidat Edmund Stoiber (CSU) davor, einen Ausländerwahlkampf zu beginnen.

Unterzeichnung am Weltflüchtlingstag?

Sollte Johannes Rau am Donnerstag tatsächtlich das Zuwanderunsgesetz unterzeichnen, wäre sein Schritt auch als symbolische Geste am Weltflüchtlingstag des UN-Hilfswerks UNCHR zu verstehen. In diesem Jahr soll der Tag den Flüchtlingsfrauen gewidmet sein, teilte am Mittwoch UN-Flüchtlingskommissar Ruud Lubbers in Genf mit. Sie machten zusammen mit ihren Kindern 80 Prozent der in der Welt heimatlosen Menschen aus, sagte Lubbers. Nach den jüngsten Statistiken liegt deren Zahl über 19 Millionen.

spiegel.de  

20.06.02 13:52

95441 Postings, 8481 Tage Happy EndRau hat unterschrieben

Bundespräsident Johannes Rau hat das umstrittene Zuwanderungsgesetz unterzeichnet. Zugleich beklagte er die Inszenierung im Bundesrat, die "dem Ansehen von Staat und Politik" Schaden zugefügt habe. Eine endgültige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hält er für "wünschenswert".

Bundespräsident Johannes Rau hat das umstrittene Zuwanderungsgesetz unterzeichnet. Zugleich beklagte er die Inszenierung im Bundesrat, die "dem Ansehen von Staat und Politik" Schaden zugefügt habe. Eine endgültige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hält er für "wünschenswert".  

Berlin - Um 12.30 Uhr schlug die Stunde des Bundespräsidenten. Seit dem 17. April hatte er sich durch Juristen und beteiligte Fachpolitiker beraten lassen, ob das Zuwanderungsgesetz seine Unterschrift und damit Rechtsgültigkeit erhält, nachdem sich im Bundesrat keine klare Meinungsbildung ergeben hatte. Das für die Mehrheitsverhältnisse ausschlaggebende Brandenburg hatte am 22. März 2002 mit gespaltener Stimme votiert.

"Kein offenkundiger Verfassungsverstoß"

"Ich habe das Zuwanderungsgesetz sorgfältig geprüft", teilte Rau auf einer Pressekonferenz mit, bei der allerdings keine Nachfragen möglich waren. Nach Abwägung aller Gesichtspunkte habe er das Gesetz unterzeichnet. Er hätte seine Unterschrift nur verweigern können, wenn "zweifelsfrei und offenkundig" ein Verfassungsverstoß vorgelegen hätte. "Diese Überzeugung habe ich nicht gewinnen können", sagte der Präsident. Er habe seine Entscheidung "in Kontinuität der Staatspraxis meiner Amtsvorgänger" getroffen und verwies auf zwei Entscheidungen von Karl Carstens und Roman Herzog 1981 und 1994.

Rau missbilligte ausdrücklich die Kritik an seinem Handeln, die im Vorfeld aus Unionskreisen laut geworden war. Er erwarte, dass das Amt des Bundespräsidenten respektiert und nicht in parteipolitische Auseinandersetzungen einbezogen werde, wie das in den vergangenen Wochen geschehen sei.

Verfassungsgerichtsentscheidung angeregt

Er könne auch nicht verstehen, dass ihm mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht gedroht worden sei. "Ich verstehe diesen Begriff Drohung nicht", sagte Rau. Er halte es sogar "für wünschenswert", dass das Bundesverfassungsgericht "Rechtssicherheit für alle" in dieser Frage schaffe.

Rau rügte in scharfer Form die Art und Weise, wie in der Bundesratssitzung am 22. März verantwortliche Politiker aus allen Seiten "in gewagter Weise" ihren Streit inszeniert und politisch zugespitzt hätten. Das habe auf viele Bürger einen "verheerenden Eindruck" gemacht und dem Ansehen von Politik, Parteien und Staat "Schaden zugefügt". Namentlich rügte er das Verhalten des brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe und seines Stellvertreters Jörg Schönbohm "und alle anderen", die zu diesem Ansehensverlust beigetragen hätten.

"Inhalt in den Hintergrund gerückt"

Am Ende seiner "Anmerkung" beklagte Rau, dass der Inhalt des Gesetzes durch den Streit in den Hintergrund gerückt sei. Von Kirchen bis zu Industrieverbänden habe weit gehende Einigkeit über das neue Gesetz geherrscht. Das schließlich vom Bundestag verabschiedete Gesetz habe "nicht mehr weit auseinander" von den Vorstellungen der Union gelegen. Er bedaure, dass es an der Beharrlichkeit gemangelt habe, hier zu einer Übereinkunft im Interesse der Sache zu gelangen.

Unterzeichnung am Weltflüchtlingstag

Raus Unterschrift erfolgte an einem symbolischen Tag, dem Weltflüchtlingstag des Uno-Hilfswerks UNHCR. Er ist in diesem Jahr den Flüchtlingsfrauen gewidmet. Auf einem Symposium des UNHCR in Berlin unter dem Titel "Asyl in Europa" - Verantwortung in der Welt", gab die Vorsitzende der Zuwanderungskommission des Bundestags, Rita Süssmuth, Rau Rückendeckung.

Süssmuth begrüßte Raus Entscheidung und die Form seiner Begründung. Sie bedaure, dass das Gesetz nach wie vor mehr für Ängstlichkeit statt Zukunftsoffenheit stehe. "Es ist weit stärker restriktiv als ein offenes Gesetz", versuchte sie erneut Bedenken aus ihrer eigenen Partei zu zerschlagen. Für das weitere Vorgehen sei jetzt "das christliche Menschenbild gefordert".  

20.06.02 14:58

532 Postings, 8420 Tage numpsi99bleiben noch ein paar Details ....

Als erstes einmal ein Großes Danke für unseren Happy, der uns mit den Lösungswegpostings doch ein wenig betreffend des Rechtproblems und dessen Interpretationen weiterhalf ...

Allerdings sehe ich noch wie vor noch ein paar ungeklärte Details bei den Lösungswegen:

Hat ein Ministerpräsident im Bundesrat automatisch einen Alleinvertretungsanspruch für sein Bundesland ? Diese Frage ist in den Lösungswegen schon ausführlich besprochen.
Worauf ich aber aufmerksam machen will ist der Fakt, daß Wowereits zweite Frage  "Ich frage Herrn Ministerpräsident Stolpe, wie das Land Brandenburg abstimmt." nicht mehr allen Delegierten des Landes Brandenburg galt, sondern nur noch dem Ministerpräsident.

War diese Frage nun Bestandteil der Abstimmungsfortsetzung, dann bleibt Schönbohms "Nein" bestehen, was zu einer Uneinheitlichen Abstimmung innerhalb des Bundeslandes führen müßte.
Es sei denn der Ministerpräsident hat einen Alleinvertretungsanspruch, dann kann er alles überstimmen.

War die Frage nun ein zweiter Abstimmungsgang, dann muß sich Wowereit fragen lassen, warum er zur Abstimmung nicht die Delegierten des Landes Brandenburg befragt hat, sondern nur gezielt (nämlich namentlich) einen Delegierten.
Falls der Ministerpräsident einen Alleinvertretungsanspruch hat dann ist auch hier alles klar, er kann seine Minister überstimmen.

Bleibt also die Frage ob Wowereit in seiner zweiten Abstimmungsfrage einen Alleinvertretungsanspruch des Ministerpräsidenten vorausgesetzt hat und ob dies auch im Sinne des Grundgesetzes ist.

Das wird aber vermutlich in Karlsruhe geklärt werden müssen ...


Happy, kannst Du dazu auch noch was sagen ?

Numpsi  

20.06.02 15:14

95441 Postings, 8481 Tage Happy End"Alleinvertretungsanspruch"

bzw. das Überstimmen ist das zentrale Problem....einiges ist im Ersten Posting dazu ja schon gesagt - vorläufig Endgültiges wird in dieser Frage wohl nur das Verfassungsgericht zustande bringen... ;-)
 

20.06.02 15:16

532 Postings, 8420 Tage numpsi99@ Happy

Sehe ich genauso ...

Trotzdem danke für Deine Arbeit.

Gruß
Numpsi  

20.06.02 15:22

9061 Postings, 8522 Tage taosWo gibt es das Zuwanderungsgesetz

in voller Länge. Ich habe bisher nur die Änderungen gefunden.

Taos
 

20.06.02 15:38

95441 Postings, 8481 Tage Happy EndGesetzestext (Stand: 01.03.2002) :

Textfassung des BMI
(74 Seiten mit Bookmarks  -  551 kB)

Textfassung Bundesrat - Drucksache 157/02
(77 Seiten  -  5532 kB  Ladezeit!)

Gruß
Happy End  

20.06.02 15:52

95441 Postings, 8481 Tage Happy EndDie Erklärung des Bundespräsidenten

Bundespräsident Johannes Rau hat am Donnerstag in Berlin seine Unterschrift unter das umstrittene Zuwanderungsgesetz begründet. Hier die Erklärung im Wortlaut:

"Ich möchte Sie über meine Entscheidung zum Zuwanderungsgesetz unterrichten.
Der Deutsche Bundestag hat das Zuwanderungsgesetz am 1. März 2002 verabschiedet. Am 22. März 2002 hat der Bundesrat beschlossen, dem Gesetz gemäß Artikel 84 Absatz 1 des Grundgesetzes zuzustimmen - so hat es der Präsident des Bundesrates festgestellt. Am 17. April 2002 ist mir die Gesetzesunterschrift zur Ausfertigung gemäß Artikel 82 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes zugeleitet worden. Gegen den Beschluss des Bundesrates sind verfassungsrechtliche Einwände erhoben worden. Sie betreffen die Frage, ob die vier Stimmen des Landes Brandenburg vom Präsidenten des Bundesrates zu Recht als 'Ja'-Stimmen gewertet worden sind; wäre das nicht der Fall, hätte das Gesetz die für eine Zustimmung des Bundesrates erforderliche Mehrheit von 35 Stimmen nicht erreicht. Das Gesetz wäre nicht zu Stande gekommen.

Ich habe das Zuwanderungsgesetz wie jedes andere Gesetz sorgfältig auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft. Ich habe mich mit dem tatsächlichen Ablauf der Sitzung und der Abstimmung und mit den sich daraus ergebenden verfassungsrechtlichen Fragen eingehend befasst. Ich habe viele Gespräche geführt und ich habe verfassungsrechtlichen Rat erfahren.

Nach Abwägung aller Gesichtspunkte habe ich das Zuwanderungsgesetz heute Morgen unterzeichnet und den Auftrag zur Verkündung im Bundesgesetzblatt erteilt. Nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes und nach der Staatspraxis ist der Bundespräsident nur dann berechtigt und verpflichtet, von der Ausfertigung eines Gesetzes abzusehen, wenn er die sichere Überzeugung gewonnen hat, dass zweifelsfrei und offenkundig ein Verfassungsverstoß vorliegt. Zu dieser Überzeugung bin ich im vorliegenden Fall nicht gekommen.

Ich habe heute einen Brief an die drei am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verfassungsorgane geschrieben, an den Bundeskanzler und an die Präsidenten von Bundestag und Bundesrat, in dem ich sie über meine Entscheidung unterrichte. Der Brief ist ihnen heute Mittag zugestellt worden.

Der Wortlaut des Briefes steht im Anschluss an diese Erklärung allen Interessierten zur Verfügung. Die Regierungschefs der Länder, die mir geschrieben und ihre Briefe veröffentlicht haben, habe ich ebenfalls über meine Entscheidung unterrichtet.

Der Sachverhalt

Ich möchte Ihnen die wichtigsten Gesichtspunkte für meine Entscheidung erläutern. Den maßgeblichen Sachverhalt darf ich als bekannt voraussetzen; ich möchte ihn hier nur kurz rekapitulieren: Als das Land Brandenburg zur Stimmabgabe aufgerufen wurde, haben zunächst Minister Ziel mit 'Ja' und Minister Schönbohm mit 'Nein' gestimmt. Daraufhin hat der Präsident des Bundesrates auf das Gebot der einheitlichen Stimmabgabe hingewiesen und an den Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg die Frage gerichtet, wie das Land abstimme. Ministerpräsident Stolpe hat geantwortet: 'Als Ministerpräsident des Landes Brandenburg erkläre ich hiermit Ja.' Dem hat Minister Schönbohm angefügt: 'Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident.' Der Bundesratspräsident hat daraufhin die Stimmabgabe des Landes Brandenburg als 'Ja' gewertet. Nach den dagegen protestierenden Zwischenrufen anderer Mitglieder des Bundesrates hat der Präsident des Bundesrates erneut Ministerpräsident Stolpe gefragt, dieser hat seine Antwort wiederholt; Minister Schönbohm hat dem keine Äußerung mehr folgen lassen.

Kern des verfassungsrechtlichen Streits ist die Auslegung von Artikel 51 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes. Er enthält das Gebot, dass bei einer Abstimmung im Bundesrat die Stimmen eines Landes 'nur einheitlich abgegeben' werden können. Zu dieser Vorschrift gibt es keine Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In der verfassungsrechtlichen Literatur ist ihre Auslegung umstritten.

Die eine Meinung schließt aus dem Wortlaut der Vorschrift ('können nur'), dass bei einem Verstoß gegen dieses Gebot die Stimmabgabe des Landes unmittelbar als ungültig zu bewerten sei. Die Gegenansicht weist darauf hin, dass das Grundgesetz die Rechtsfolge eines Verstoßes nicht ausdrücklich festlege. Sie fragt danach, ob und wie nach einer ersten uneinheitlichen Stimmabgabe noch eine der Verfassung gemäße Stimmabgabe zu erreichen sei. Sie sieht dafür die Entscheidung des jeweiligen Regierungschefs des Landes kraft seiner Richtlinienkompetenz als ausschlaggebend an.

Beide Seiten können gewichtige Gründe für ihren Standpunkt anführen. Ich habe mir darüber in den vergangenen Wochen einen umfassenden Überblick verschafft. Namhafte Verfassungsrechtler haben sich unabhängig von oder aus Anlass der Bundesratssitzung vom 22. März 2002 in dem einen oder in dem anderen Sinne geäußert. Sie kommen mit unterschiedlicher Begründung zu gegenteiligen Ergebnissen - je nach ihrem rechtlichen Ausgangspunkt, aber auch je nachdem, wie sie den tatsächlichen Ablauf und die Äußerungen in dieser Sitzung bewerten. Wer den Wortlaut der zitierten Grundgesetzvorschrift für eindeutig hält, für den steht bereits nach der ersten gegensätzlichen Stimmabgabe durch die Minister Ziel und Schönbohm das Ergebnis fest. Daran habe sich auch im weiteren Verlauf nichts geändert, weil Minister Schönbohm auch gegenüber dem späteren Votum von Ministerpräsident Stolpe seine ablehnende Haltung hinreichend deutlich und rechtlich erheblich zum Ausdruck gebracht habe. Die Stimmen des Landes Brandenburg seien ungültig. Die strengen Vertreter dieser Ansicht sehen weder rechtlich noch tatsächlich einen Grund für eine Nachfrage des Präsidenten des Bundesrates.

Für eine solche Befugnis wird dagegen angeführt, dass der Präsident des Bundesrates im Rahmen seiner Sitzungsleitung die Aufgabe habe, auf ein der Verfassung gemäßes Abstimmungsverhalten hinzuwirken. Unterschiedliche Auffassungen gibt es auch zu der Frage, ob Ministerpräsident Stolpe kraft seiner Richtlinienkompetenz die Stimmen des Landes Brandenburg einheitlich mit 'Ja' abgeben konnte. Diese Frage berührt das Grundverständnis des Verfassungsorgans Bundesrat, der Rechtsstellung seiner Mitglieder und betrifft auch das Zusammenwirken der Verfassungsräume von Bund und Ländern.

Die Befugnis, in streitigen Fällen kraft Richtlinienkompetenz im Bundesrat für ihr Land abzustimmen, haben Ministerpräsidenten auch in der Vergangenheit schon für sich in Anspruch genommen. Im Unterschied zum vorliegenden Fall ist es bei den damaligen Abstimmungen im Bundesrat aber nicht zu gegenteiligen Äußerungen gekommen. Wer die Position vertritt, dass die Stimmabgabe von Ministerpräsident Stolpe kraft seiner Richtlinienkompetenz als Regierungschef ausschlaggebend war, für den ist die anschließende Äußerung von Minister Schönbohm rechtlich nicht mehr erheblich. Zur Gültigkeit der brandenburgischen Stimmen gelangt auch, wer in der Äußerung von Minister Schönbohm, dass seine Auffassung bekannt sei, kein förmliches 'Nein' sieht.

Zu demselben Ergebnis gelangt schließlich, wer darauf abstellt, dass Minister Schönbohm jedenfalls nach der erneuten Frage des Präsidenten des Bundesrates dem wiederholten 'Ja' seines Regierungschefs nicht mehr widersprochen hat.

"Habe ich dies Überzeugung nicht gewinnen können"

Ich stelle also fest - und nur darauf kommt es an: Bei der Beurteilung der Abstimmung im Bundesrat am 22. März 2002 kann man in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht jeweils mit guten Gründen zu dem einen oder anderen Ergebnis kommen.

Ich wäre aber nur dann berechtigt und verpflichtet, das Gesetz nicht auszufertigen, wenn ich davon überzeugt wäre, dass zweifelsfrei und offenkundig ein Verfassungsverstoß vorliegt. Mit Blick auf die kontroversen Auffassungen in dieser verfassungsrechtlichen Frage habe ich diese Überzeugung nicht gewinnen können.

Angesichts einer verfassungsrechtlichen Zweifelsfrage so zu entscheiden, wie ich entschieden habe, ergibt sich aus folgendem: Das Recht und die Pflicht des Bundespräsidenten, ein Gesetz vor der Ausfertigung verfassungsrechtlich zu überprüfen, steht in Konkurrenz und bedarf der sinnvollen Abgrenzung zur Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts.

Die Staatspraxis, wie meine Amtsvorgänger sie geprägt haben, hat diese Abgrenzung in dem von mir dargestellten Prüfungsmaßstab gefunden.

Ich verweise konkret auf zwei Entscheidungen der Bundespräsidenten Karl Carstens und Roman Herzog. Auch da ging es um formelle und verfahrensrechtliche Fragen des Zustandekommens eines Gesetzes. Diese Entscheidungen haben den Prüfungsmaßstab des Bundespräsidenten deutlich gemacht: Bundespräsident Karl Carstens hat im Jahr 1981 das Staatshaftungsgesetz ausgefertigt und das damit begründet, dass für ihn ein Verfassungsverstoß nicht 'zweifelsfrei und offenkundig' feststehe (so sein Begleitbrief an die beteiligten Verfassungsorgane vom 26. Juni 1981). Bundespräsident Roman Herzog hat im Jahr 1994 ein Gesetz ausgefertigt, in dem es unter anderem um eine Vorschrift des Atomgesetzes ging. Der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder hatte ihn damals gebeten, das Gesetz nicht auszufertigen, weil es der Zustimmung des Bundesrates bedürfe. Roman Herzog ist dieser Bitte nicht gefolgt; er hat das damit begründet, dass er nicht zu der Überzeugung gelangt sei, dass ein Verfassungsverstoß 'zweifelsfrei und offenkundig' vorliege (so die Pressemitteilung des Bundespräsidialamtes vom 21. Juli 1994).

Ich habe meine Entscheidung in Respekt vor der Kompetenzordnung des Grundgesetzes getroffen, und sie steht in der Kontinuität der Staatspraxis meiner Amtsvorgänger. Nach unserer Verfassungsordnung ist es nicht Aufgabe des Bundespräsidenten, über solche verfassungsrechtlichen Zweifelsfragen eine endgültige Entscheidung zu treffen. Die verbindliche Entscheidung über die Auslegung des Grundgesetzes ist dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. Wer von den Antragsberechtigten im vorliegenden Fall eine solche Entscheidung für notwendig hält, dem steht der Weg dazu jetzt offen.

"Der Streit darf nicht inszeniert werden"

So viel zu meiner verfassungsrechtlichen Entscheidung. Lassen Sie mich darüber hinaus noch einige Anmerkungen machen:

I. Meine erste Anmerkung betrifft das Amt des Bundespräsidenten. Ich erwarte, dass das Amt des Bundespräsidenten nicht in die parteipolitische Auseinandersetzung hineingezogen wird, wie das in den vergangenen Wochen gelegentlich versucht worden ist. Ich erwarte, dass auch diejenigen meine Entscheidung respektieren, die meinen, sie nicht akzeptieren zu können. Das gebietet der Respekt vor dem Amt des Bundespräsidenten, das mir gegenwärtig anvertraut ist.

II. Im Zusammenhang mit der Entscheidung des Bundesrates ist das Wort 'Verfassungsbruch' gefallen. Das ist ein schwerwiegender Vorwurf.

Er bedeutet ja, dass jemand bewusst und vorsätzlich gegen die Verfassung gehandelt hat. Verfassungsjuristen unterscheiden dagegen nur, ob ein Vorgang verfassungsgemäß ist oder nicht. Auch ich empfehle diese sachliche Sprache.

Dabei will ich nicht beschönigen, was geschehen ist. In der Sitzung des Bundesrates am 22. März ist eine verfassungsrechtliche Verfahrensvorschrift in gewagter Weise ausgereizt und damit eine politische Kampfsituation auf die Spitze getrieben worden. Das hat eine verfassungsrechtliche Frage offen gelegt, die in der mehr als fünfzigjährigen Geschichte des Bundesrates bisher noch nicht von Bedeutung war. Ob der oft erwähnte Vorfall aus dem Jahr 1949 mit dem hier zu beurteilenden Sachverhalt vergleichbar ist, mag dahinstehen; damals ist die abschließende Entscheidung des Ministerpräsidenten jedenfalls allseits akzeptiert worden.

Heute dagegen gibt es verfassungsrechtlichen Streit mit jeweils guten Argumenten Pro und Contra. Das sind keine 'juristischen Spitzfindigkeiten'. In den vergangenen Wochen habe ich immer wieder gelesen, dass Kritiker des Gesetzes mit dem Gang nach Karlsruhe 'drohten'. Ich verstehe das nicht als 'Drohung'. Ich hielte es sogar für wünschenswert, wenn das Bundesverfassungsgericht diese Frage klärte, damit alle, vor allem der Bundesrat und die Länder, Rechtssicherheit haben. Das ist die originäre Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts und nicht die des Bundespräsidenten.

III. Ich habe in den vergangenen Wochen viele Briefe von Bürgerinnen und Bürgern aus Anlass der Beratung des Zuwanderungsgesetzes im Bundesrat bekommen: Die Menschen äußern in ihren Briefen Unmut und Empörung. Sie haben den Eindruck, dass es bei der Beratung im Bundesrat weniger um die Sache ging als um eine Machtprobe im Vorfeld der Bundestagswahl und um den Erhalt der Koalition in Brandenburg. Die Art und Weise, wie einige der Beteiligten auf allen Seiten den Ablauf dieser Bundesratssitzung - in welchem Maße auch immer - erkennbar abgesprochen und politisch inszeniert haben, hat auf viele Menschen einen verheerenden Eindruck gemacht. Was am 22. März im Bundesrat geschehen ist, das hat dem Ansehen der Politik insgesamt geschadet und die ohnehin verbreitete Politik- oder Parteienverdrossenheit verstärkt. Das Vertrauen in die Institutionen unseres Staates und in die Ordnungsgemäßheit seiner Verfahren ist geschwächt worden. Das haben mir viele Menschen geschrieben. Ich nehme diese Kritik und die Empörung ernst und ich habe Verständnis dafür. Deshalb bringe ich sie heute öffentlich zur Sprache. Auch ich bin der Auffassung, dass die Art und Weise, wie die Sitzung des Bundesrates am 22. März verlaufen ist, dem Ansehen von Staat und Politik Schaden zugefügt haben. Ich rüge das Verhalten des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg und seines Stellvertreters. Ich rüge und ermahne aber auch alle übrigen, die zu diesem Ansehensverlust beigetragen haben.

Ich neige nicht vorschnell zur 'Parteienschelte'. Ich habe oft gesagt, dass berechtigte Kritik an einzelnen Ereignissen oder an Fehlentwicklungen nicht dazu führen sollte, 'das Parteiwesen' in Bausch und Bogen zu verurteilen. Die Parteien sollten sich weniger mit sich selber beschäftigen. Jenseits von Machterhalt oder Machtgewinnung müssen sie offen sein für die Probleme, die die Menschen tatsächlich bewegen. Die Parteien sollten sich neu und verstärkt darum bemühen, dass sie ihre Verwurzelung in der Gesellschaft nicht verlieren. Der politische Streit zwischen den Parteien darf sein und muss sein. Der Streit darf aber nicht in einer Art und Weise inszeniert werden, wie das am 22. März im Bundesrat geschehen ist.

IV. Die Beratung des Zuwanderungsgesetzes im Bundesrat gibt auch Anlass, verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch über das Verfassungsorgan Bundesrat im Staatsgefüge der Bundesrepublik Deutschland nachzudenken.

Nach unserem Grundgesetz ist der Bundesrat weder Vollzugsorgan der Bundesregierung noch verlängerter Arm der Opposition im Deutschen Bundestag. Nach seiner Zusammensetzung und seiner Aufgabenstellung ist der Bundesrat als Integrationsorgan geschaffen, das Bundes- und Länderinteressen miteinander abstimmen soll. Der Bundesrat kann diese Aufgabe nur erfüllen, wenn er nach eigenen Maßstäben entscheidet und wenn er sich um die aus der Sache notwendigen Lösungen bemüht; er könnte es dagegen nicht, wenn er sich von Wünschen anderer Bundesorgane oder von parteipolitischer Strategie vereinnahmen ließe.

Nicht erst beim Zuwanderungsgesetz ist deutlich geworden, wie stark die parteipolitische Einflussnahme auf das Abstimmungsverhalten der Länder geworden ist. Das sage ich in alle Richtungen und an alle Parteien gewandt. Auch in der Vergangenheit hat es - durchaus wechselnd und in umgekehrter parteipolitischer Konstellation als heute - Zeiten gegeben, in denen eine von der Bundestagsmehrheit abweichende Mehrheit im Bundesrat ihre Position in einer Weise genutzt hat, die sich nicht nur an den Interessen der Länder orientiert hat.

V. Meine letzte Anmerkung gilt dem Inhalt des Gesetzes selber, der Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und der Regelung des Aufenthalts und der Integration von Ausländern. Der Inhalt des Gesetzes ist hinter dem Streit um das Verfahren völlig in den Hintergrund geraten. Alle Parteien, die Kirchen, Gewerkschaften und Industrieverbände sind sich doch einig: Wir brauchen eine grundlegende gesetzliche Neuregelung dieser Fragen. Über Grundsätzliches und über Einzelheiten ist lange diskutiert worden. Das schließlich vom Bundestag verabschiedete Gesetz und die Vorstellungen von CDU und CSU lagen nicht mehr weit auseinander.

Das ist jedenfalls der Eindruck, den ich mit vielen Menschen gewonnen habe. Darum bedauere ich, dass es an der Beharrlichkeit und am gegenseitigen Vertrauen gemangelt hat, alle Möglichkeiten auszuloten, doch noch zu einem Konsens über die verbliebenen Unterschiede zu gelangen. Viele tragen Verantwortung für das, was am 22. März geschehen ist. Darum sollte niemand versuchen, die Verantwortung auf die jeweils 'andere Seite' abzuwälzen."

 

20.06.02 16:03

95441 Postings, 8481 Tage Happy EndWas das neue Gesetz will

Das Zuwanderungsgesetz soll die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften steuern und die Zuwanderung begrenzen. Zugleich wird das Ausländerrecht in wesentlichen Punkten neu geregelt. Die humanitäre Aufnahme von Flüchtlingen und die Asylbedingungen werden klarer gefasst.

ZUZUGSBEGRENZUNG: Das Gesetz dient "der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern". Dabei sollen die Integrationsfähigkeit sowie die wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen berücksichtigen werden. Zugleich wird aber darauf verwiesen, dass Deutschland seine humanitären Verpflichtungen erfüllt.

ARBEITSMIGRATION: Vorrang vor der Anwerbung von Ausländern haben die Qualifizierung von Arbeitslosen und Ausländern, die bereits im Inland leben. Bei Engpässen auf dem Arbeitsmarkt müssen vor der Anstellung ausländischer Arbeitnehmer die Auswirkungen auf den gesamten Arbeitsmarkt geprüft werden. Die Arbeitsgenehmigung wird zusammen mit der Aufenthaltserlaubnis erteilt. Hoch Qualifizierte können von Anfang an einen Daueraufenthalt erwerben.

FAMILIENNACHZUG: Der Kindernachzug von Ausländern nach Deutschland ist bis zum Alter von 18 Jahren möglich, sofern das Kind zusammen mit den Eltern einwandert, es ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache besitzt, Vater oder Mutter anerkannter Asylberechtigter oder politisch Verfolgter ist - oder zur Gruppe der hoch qualifizierten ausländischen Arbeitskräfte gehört. Für andere gilt eine Altersgrenze von 12 Jahren.

HUMANITÄRE AUFNAHME: Die Duldung wird abgeschafft. Zur Zeit gibt es knapp 250 000 Duldungsinhaber, die meist bereits vor 1997 nach Deutschland gekommen sind. Neben Bürgerkriegsflüchtlingen zählten dazu bisher auch Opfer geschlechtsspezifischer und nichtstaatlicher Verfolgung. Letztere erhalten künftig einen garantierten Abschiebeschutz, was sie bei späterer Arbeitsaufnahme deutlich besser stellt.

AUSREISEPFLICHT: Wer wieder ausreisen muss, kann künftig in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt oder sogar verpflichtet werden, sich in speziellen Ausreiseeinrichtungen aufzuhalten.

SOZIALLEISTUNGEN: Asylbewerber, die die Dauer ihres Aufenthaltes missbräuchlich in die Länge gezogen haben, sollen von den höheren Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz ausgeschlossen werden.

INTEGRATION: Im Aufenthaltsgesetz wird ein Mindestrahmen für staatliche Integrationsangebote festgesetzt. Dazu zählen Sprachkurse sowie Einführungen in Recht, Kultur und Geschichte Deutschlands.

ASYLVERFAHREN: Die aufenthaltsrechtliche Stellung von Ausländern, denen nach der Genfer Flüchtlingskonvention Abschiebungsschutz zuerkannt wurde, wird der von Asylberechtigten angeglichen. Die Asylverfahren sollen beschleunigt werden.

HÄRTEFALLREGELUNG: Nach der neu eingefügten Regelung kann auf Ersuchen einer Landesregierung in Ausnahmefällen ein Aufenthaltstitel erteilt oder verlängert werden, "wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet rechtfertigen".  

20.06.02 17:00

9061 Postings, 8522 Tage taosHerzlichen Dank Happy End.

Prima Service.

Die Textfassung Bundesrat - Drucksache 157/02 gibt es scheinbar nicht mehr,
aber mir reicht die Fassung des BMI.

Also nochmal Danke.

Taos

 

18.12.02 13:39

95441 Postings, 8481 Tage Happy EndZum Thema Eindeutigkeit ;-) o. T.

   Antwort einfügen - nach oben