Trotz 2:0-Vorsprung, und auch wenn im heutigen Barrage-Rückspiel gegen die Türkei unter Umständen sogar eine Niederlage mit zwei Toren Differenz zur WM-Teilnahme 2006 reicht. Es werden 90 (oder 120?) heisse Minuten. Nicht nur weil das türkische Star-Duo (Emre + Altintop) zurück ist.
Kein Zweifel: Dem Team von Nationalcoach Köbi Kuhn stehten heute ab 19.15 Uhr im Fenerbahce-Stadion Sükrü Saracoglu die heissesten 90 Minuten der gesamten Ausscheidung bevor; Falls die Partie verlängert werden muss, werden es sogar 120 Minuten. Jedenfalls kann an einem einzigen Abend alles alles flöten gehen, was zuvor in elf Spielen erarbeitet wurde.
Die Schweizer Nationalmannschaft marschierte ungeschlagen durch die Qualifikation. Zunächst erkämpfte sie in der starken Gruppe mit Frankreich, Irland und Israel verdientermassen den 2. Platz. Dann tat sie mit dem souveränen 2:0-Heimsieg im Barrage-Hinspiel am Samstag in Bern einen weiteren Schritt in Richtung WM 2006 in Deutschland. Heute gilt es in Istanbul all dies zu bestätigen. Wenn dies gelingt, wird die Schweiz zum achten Mal nach 1934, 1938, 1950, 1954, 1962, 1966 und 1994 an einer WM-Endrunde dabei sein.
Immens wichtiges Auswärtstor
Ein Unentschieden reicht auf jeden Fall, eine Niederlage mit einem Tor Differenz ebenfalls. Mit zwei Gegentreffern kanns jedoch heikel werden und zwar dann, wenn den Schweizern kein Tor gelingt. Ein 2:0 für die Türken hätte eine Verlängerung zur Folge. Mit einem 3:1, einem 4:2, usw. wären die Schweizer am Ziel ihrer Träume. Ein Auswärtstor brächte insofern Erleichterung, als die Türken dann vier Treffer unterbringen müssten. So viele Gegentore kassierte die Schweiz in 42 Spielen unter Köbi Kuhn nur zweimal - jeweils in Moskau gegen Russland und zuletzt am 10. September 2003.
14 Spiele ungeschlagen
Seit jenem 1:4 in der EM-Qualifikation gegen Russland hat die Schweiz auf gegnerischen Terrains kein Pflichtspiel mehr verloren. Und seit der EM 2004 in Portugal blieb sie in 14 Partien ungeschlagen; sieben davon überstand sie ohne Gegentor. Nur einmal musste Kuhns Equipe in der laufenden WM-Ausscheidung mehr als einen Gegentreffer einstecken -- beim 2:2 in Israel. Diese Zahlen sagen einiges aus über die Qualität der Defensive aus. Anderseits beruht die Stärke des Teams hauptsächlich in der offensiven Spielweise, an der der Coach auch in Istanbul festhalten wird: «Wir können nichts anderes tun, als nach vorne zu spielen. Natürlich werden wir den Türken, die von der ersten Minute mit aller Wucht versuchen müssen, die beiden Gegentore aus dem Hinspiel auszugleichen, nicht ins offene Messer laufen.» Wie in Bern wird eine kontrollierte Offensive das richtige Rezept sein.
Im Stolz verletzt
Die üblen Vorkommnisse bei der Ankunft am Montag haben der Schweizer Delegation verdeutlicht, was heute Abend vor rund 50 000 Zuschauern auf sie wartet. Die Türken sind nach der unerwarteten Niederlage in Bern zutiefst im Stolz verletzt und werden die Wende mit allen Mitteln anstreben. Ein wichtiges Argument der Türken ist auch das heissblütiges Publikum, das seine Mannschaft nicht nur mit Gesängen und lautem Geschrei anfeuern wird, sondern öfters auch zu unsportlichen Mitteln greift: Münzen- und Feuerzeugwürfe von den Rängen sind an der Tagesordnung.
Negativbeispiel Xamax
Was passiert, wenn man sich durch solche Aktionen von Fanatikern aus dem Konzept bringen lässt, zeigt das Beispiel von Neuchâtel Xamax aus dem Jahre 1988. Nach einem 3:0-Heimsieg im Meistercup- Achtelfinal unterlagen die Neuenburger Galatasaray Istanbul mit 0:5. Xamax' Stürmer Adrian Kunz war damals von Münzenwerfern am Kopf verletzt worden, worauf die Mitspieler die Konzentration verloren und brutal untergingen.
FIFA vor Ort
Trainer Kuhn und seine Spieler werden sich heute nicht ablenken lassen. Kuhn: «Es ist nicht das erste Mal, dass wir auswärts gegen einen starken Gegner bestehen müssen. Wir haben auch in Tel Aviv, Paris und Dublin den Kopf nicht verloren. Zudem sind sich unsere Spieler gewohnt, dass gegnerische Fans ihr Team lautstark anfeuern. Das wird keinen Einfluss auf unser Spiel haben.» Den Kopf zu verlieren, wäre fatal. Ein Platzverweis würde im Qualifikationsfall automatisch zu einer Sperre im ersten WM-Spiel führen.
Ohne Magnin - mit Spycher
Der Schweizer Coach muss im Rückspiel wegen einer Sperre auf den zuletzt sehr stark aufspielenden Ludovic Magnin verzichten. Er kann dafür wieder auf Raphaël Wicky zählen. Ob er den HSV-Söldner von Beginn weg bringen wird, bleibt bis zum Spielbeginn Kuhns Geheimnis. Wicky könnte für Tranquillo Barnetta im linken Mittelfeld spielen und Barnetta für Daniel Gygax auf die rechte Seite wechseln. Der Walliser wäre aber auch eine Variante für das defensive Mittelfeld, falls Kuhn nur mit einem Stürmer agieren und neben Johann Vogel einen zweiten Scheibenwischer aufstellen wollte.
Ungewohnt früh gab Kuhn bekannt, dass Christoph Spycher für Magnin auf der linken Abwehrseite verteidigen wird. Denkbar ist, dass Johan Vonlanthen im Sturm für den im Hinspiel erneut enttäuschenden Marco Streller nominiert wird. Für den Breda-Stürmer könnte dessen Schnelligkeit den Ausschlag geben.
Türkisches Star-Duo zurück
Kuhn muss bei seinen Überlegungen auch die Rückkehr der beiden türkischen Mittelfeldstars Emre und Hamit Altintop berücksichtigen. Auf diesem Duo ruhen die Hoffnungen der türkischen Nation. Der Schweizer Coach weiss um die Gefährlichkeit der beiden und auch, wie er darauf reagieren will. «Die Rückkehr von Emre und Altintop hat keinen direkten Einfluss auf unser Spiel. Es wird jedoch unsere Aufgabe, den 2:0-Vorsprung über die Runden zu bringen, erschweren.»
100 000 Franken Prämie
Bestehen die Schweizer Spieler die allerletzte Reifeprüfung, winkt jenen, die immer dabei waren, neben der WM-Teilnahme auch eine attraktive Erfolgsprämie von 100 000 Franken. Die anderen werden anteilsmässig belohnt. Der SFV könnte diesen Bonus problemlos auszahlen, weil er mit der WM-Teilnahme ein Startgeld von rund fünf Millionen Franken kassieren würde. Die grösste Belohnung erhielte jedoch Köbi Kuhn: Der Stadtzürcher wäre der erste Schweizer Trainer, der das Nationalteam nacheinander an eine EM und eine WM führte. Das ist bisher nur dem Engländer Roy Hodgson (1994 und 1996) geglückt.
Die voraussichtliche Startformation. Schweiz: Zuberbühler; Philipp Degen, Müller, Senderos, Spycher; Gygax (Wicky), Vogel, Cabanas, Barnetta; Frei, Vonlanthen (Streller).
SR Frank de Bleeckere (Be). |