Realität und Börsenwelt von Henrik Voigt
Liebe Leserin, lieber Leser,
die US-Ratingagentur Standard & Poor's (S&P) hat ihre Wachstums-Prognose für das laufende und das kommende Jahr für die Eurozone gesenkt. S&P geht in der aktuellen Analyse statt von einer Stagnation jetzt von einem Wirtschaftsrückgang um 0,6 Prozent im Gesamtjahr 2012 aus, während man in 2013 noch mit einem minimalen Wachstumsplus von 0,4 Prozent rechnet (zuvor 1,0 Prozent). Das wird sicher nicht die letzte Abwärtsrevision der Wachstumsaussichten gewesen sein, da die harten Daten" immer weiter einbrechen. Auch gestern wieder: Eurozone-Konjunkturklima-Indikator im Juli bei -1,27 (Prognose: -1,09) nach -0,95 im Vormonat (rezessiv). Eurozone Economic Sentiment Indicator im Juli bei 87,9 Punkten (Prognose: 88,9) nach 89,9 Punkten im Vormonat (ebenfalls rezessiv). In den Quartalsberichten vieler Unternehmen hinterlässt dies bereits Bremsspuren.
Allein: Es interessierte gestern erneut keinen. Der DAX legte noch über ein Prozent nach oben zu. Man kapriziert sich derzeit lieber auf kurzfristige politische Ereignisse wie die nächste Notenbanksitzung und was da alles womöglich an Wundern geschehen könnte als auf die realwirtschaftliche Entwicklung, die ja viel zu unerfreulich ist, um sich mit ihr auseinanderzusetzen. Und vielleicht auch zu komplex, man müsste immerhin Wirtschaftsdaten im Zeitablauf lesen, um sie zu verstehen. Zu anstrengend? Da buchstabieren wir doch lieber wie in der Grundschule das Wort Bazooka" und glauben, dass das hilft. Die Schere zwischen Realität und Börsenentwicklung geht derweil immer weiter auseinander.
Die Finanzmärkte haben seit 2007 ihre Fähigkeit verloren, wirtschaftliche Entwicklungen zu antizipieren. Sie reagieren lediglich noch auf die Entwicklung, manchmal sogar mit Verzögerung. Sicher auch ein Verdienst einer äußerst manipulativen Notenbankpolitik. Führen wir doch gleich einen Fünfjahrplan ein und legen Zinsen, Aktienkurse und Rohstoffpreise zentral fest. Das wäre ehrlicher.
Das Platzen der US-Immobilienblase war 2007 längst anzusehen, dennoch hielten sich die Märkte noch erstaunlich lange oben (auch dank den Futures-Manipulationen einer bestimmten Bank). Der Beginn des Abschwunges im vergangenen Jahr kündigte sich bereits im Frühjahr an, dennoch reagierten die Märkte erst im Sommer. Und auch jetzt dürfte jedem klar denkenden Menschen begreiflich sein, dass es keine wirkliche Lösung" einer Schuldenkrise geben kann, die weltweit 70 Billionen Dollar an Schulden angehäuft hat. Erst recht nicht in einem Abschwung, der inzwischen globale Ausmaße erreicht hat. Erst Recht nicht mit Zinsmanipulationen. Wie viel Sinn macht es wohl, in einer Überschuldungssituation Kredite billiger zu machen (aktuelle Rettungs-Strategie" unserer genialen Notenbanken)? Ich bin nur gespannt, wie lange es diesmal dauert, bis die Erkenntnis einsetzt. Üblicherweise tut sie das spät, dann aber gleich in Crashform. Wie in 2008 und 2011 eben.
Aus DAX Daily |