Biotechnik: Welche Chancen Deutschland verspielt Die Gendebatte ist neu entfacht und gefährdet die Forschung: Während das Ausland anpackt, werden deutsche Stammzell-Wissenschaftler ausgebremst und verlieren ihre gute Position im internationalen Wettlauf.
Noch sitzt Superman im Rollstuhl. Doch in ein paar Jahren will der US-Schauspieler Christopher Reeve, bekannt als der fliegende Held in den Superman-Filmen, wieder laufen können. Seine ganze Hoffnung setzt der 48-Jährige, der seit einem Reitunfall 1995 querschnittsgelähmt ist, auf die embryonale Stammzellenforschung: „Stammzellen werden uns den Weg zeigen, wie wir Parkinson, Alzheimer oder Querschnittslähmungen besiegen können“, glaubt Reeve. Zusammen mit US-Wissenschaftlern trat der Filmstar vor dem US-Kongreß deshalb jüngst für eine staatlich geförderte Stammzellenforschung ein, um so schneller zu Forschungsergebnissen zu kommen.
US-Schauspielkollege Michael J. Fox („Zurück in die Zukunft“) unterstützt Reeve. „Die Stammzellenforschung liefert die Chance für ein medizinisches Wunder“, hofft der 40-jährige, der an der Schüttellähmung Parkinson leidet. Fox zog sich vor einem Jahr von der Leinwand zurück und gründete eine Stiftung, die Forschungprojekte gegen die Krankheit finanziert. Ein Großteil des Geldes – 1,5 Millionen Dollar – fließt in die Stammzellenforschung.
Ob in den USA, Großbritannien oder Israel – überall auf der Welt treiben Wissenschaftler die Forschung mit den potenziellen Wunderzellen mit Hochdruck voran. Nur Deutschlands Wissenschaftler sollen, so wünschen es die Politiker, die Hände in den Schoß legen und abwarten, bis ein gerade gebildeter nationaler Ethikrat und der Bundestag sich eine Meinung gebildet haben, ob die Forschung mit Stammzellen ethisch zulässig ist. Das kann dauern. Mit einer Änderung des Embryonenschutz-Gesetzes ist kaum mehr vor der nächsten Bundestagswahl im Herbst 2002 zu rechnen. Die Änderung soll auch Klarheit bringen, ob embryonale Stammzellen importiert werden dürfen. „Eine so lange Wartezeit würde die deutsche Forschung um Lichtjahre zurückwerfen“, warnt Baxter-Forschungschef Norbert Riedel (Interview auf Seite 58).
Dabei ist zusätzliches Forschen dringend nötig. Denn noch kann kein Wissenschaftler mit Gewissheit sagen, ob sich die hohen Erwartungen an die Stammzellen erfüllen. So ist es durchaus möglich, dass diese sich nicht im Reagenzglas gut vermehren, sondern auch im Körper. Dann wären es Tumorzellen, die Krebs verursachen. Schering-Forschungschef Günter Stock hält es für geboten, auch die Forschung an adulten Stammzellen und über das therapeutische Klonen zu forcieren. „Ich wünschte mir, dass sich die deutsche Gesellschaft allen drei Breichen öffnet und sich das Recht nimmt, zu jedem notwendigen Zeitpunkt der Forschung neu darüber zu entscheiden, welchen Weg sie für technologisch erfolgversprechend und ethisch vertretbar hält.“ Seine Sorge: „Wenn wir nicht an vorderster Front mitforschen, schneiden wir uns die Zukunft ab.“
Die Folge: Aus einer exzellenten Position würde Deutschland ins technologische Nirwana katapultiert. Schon fürchtet die Branche, dass die gesamte Gentechnik durch die neu entbrannte Diskussion wieder in Verruf gerät. Bei Peer Schatz, Finanzchef des größten und erfolgreichsten deutschen Biotech-Unternehmens Qiagen aus Hilden bei Düsseldorf, das Gentech-Laborbedarf herstellt, häufen sich bereits die Anfragen besorgter Aktionäre. „Jetzt wird wieder alles verteufelt, obwohl nur ein minimaler Teil der Biotechnik mit der Stammzellforschung zu tun hat, und ich fürchte, dass wir da mit hineingezogen werden“, sagt Schatz. Friedrich von Bohlen, Chef des Heidelberger Bio-Software-Herstellers Lion Bioscience stöhnt: „Wir werfen uns wieder mal selber Knüppel zwischen die Beine.“
Auch der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags, Ludwig Georg Braun, ist besorgt: „Forschung darf man nicht begrenzen; wenn wir das tun, dann wandern Wissenschaft und Know-how ab – in Länder, die weniger reglementiert sind.“ Es sei schädlich für den Forschungsstandort Deutschland, wenn Stammzellenforschung und Gentechnologie eingeschränkt würden, glaubt Braun: „Auf ähnliche Weise hat Deutschland in den achtziger Jahren seine Führungsposition auf dem Gebiet der Biotechnologie an die USA verloren.“
Gerade erst war die junge deutsche Biotech-Industrie dabei, sich wieder an der Weltspitze zu etablieren. Seit Anfang der 90er Jahre sind hier zu Lande 332 Unternehmen entstanden, die 10673 zum größten Teil hochqualifizierte Arbeitsplätze geschaffen haben. Im vergangenen Jahr erwirtschaftete die Branche einen Gesamtumsatz von 786 Millionen Euro . Das Image, das zeigt eine exklusive Emnid-Umfrage für die Wirtschaftswoche , hat sich zum Positiven gewandelt. Danach glauben immerhin 61 Prozent der Bundesbürger, dass Genforschung in Zukunft wichtig für ihre persönliche Gesundheit ist.
Eine ethische Endlosdebatte würde den Schwung kaputt machen. Dabei stellt die Mehrheit der Forscher und Biotech-Unternehmer gar nicht in Frage, dass eine Diskussion über den Umgang mit Stammzellen und dem Klonen notwendig ist: „Da sind ganz elementare Fragen des Menschseins berührt – natürlich müssen wir darüber sprechen, was wir wollen und was nicht“, sagt etwa Tim Jessen, Vorstand der Hamburger Evotec OAI. Nur dürfe die deutsche Gründlichkeit nicht dazu führen, das alles zum Stillstand kommt. Jessen: „Wenn wir nicht aufpassen, schaffen andere Nationen währenddessen längst Fakten. Schließlich sind wir nicht allein auf der Welt.“
In anderen Ländern hat die Politik Lösungen gefunden, die Wissenschaftler und forschende Unternehmen weit weniger in ihrer Arbeit hindern. In den USA etwa wird lediglich debattiert, ob der Staat die Stammzellenforschung mit Geldern unterstützen soll . Das britische Parlament hat nach einer sehr emotionalen Diskussion innerhalb weniger Wochen Anfang des Jahres klare Gesetze aufgestellt. Sie erlauben die Zucht embryonaler Stammzellen und das therapeutische Klonen in engen Grenzen. Forscher wie der Entwicklungsbiologe Austin Smith, Direktor des Zentrums für Genomforschung der Universität Edinburgh, können damit sehr gut leben: „Ich darf hier auch nicht alles machen, aber ich weiß wenigstens, was erlaubt ist.“
Davon können deutsche Forscher nur träumen. Weil eine Lücke im Embryonenschutzgesetz den Import embryonaler Stammzellen zwar nicht verbietet, aber auch nicht ausdrücklich erlaubt, wollten die Bonner Mediziner und Stammzellforscher Oliver Brüstle und Otmar Wiestler Klarheit haben, bevor sie ihre Forschungsarbeit beginnen. Sie beantragten bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Ethikkomission ihrer Universität embryonale Stammzellen aus dem Ausland besorgen zu dürfen – und brachten damit die Debatte ins Rollen .
Nun sind sie die Gelackmeierten. Die DFG schiebt die Entscheidung über ihren Antrag seit fast einem Jahr vor sich her, die Kritik an den Forschern wächst. Kollegen der Universität Bonn distanzierten sich in einem Protestschreiben. Brüstle, dessen Privatadresse publik wurde, bekam sogar eine Morddrohung. Seither steht der vierfache Vater unter Polizeischutz.
Politiker reagierten bestürzt. Ulrike Flach, Genexpertin der FDP: „Es ist unseriös, Forscher zu diskriminieren, die auf unser Gesetz bauen. Man kann sie nicht in die illegale Ecke drängen.“
Jürgen Hescheler, Chef des neurophysiologischen Instituts der Universität Köln, ist frustriert: „Forscherinnen wie Anne Wobus aus der ehemaligen DDR waren weltweit die ersten, die menschliche Stammzellen kultivieren konnten. Wir deutschen Forscher sind auf diesem Gebiet führend, und nun sollen wir das Schlußlicht bilden“.
Hescheler kann genausowenig wie Wiestler oder Brüstle nachvollziehen, dass Deutschland leichtfertig die Chance verspielt, Therapien für bisher unheilbare Krankheiten zu entwickeln: Während die Bonner an Therapiemöglichkeiten für Parkinson-Patienten wie den Schauspieler Michael J. Fox, den Boxer Muhammad Ali oder den Papst suchen, gelang es Heschelers Arbeitsgruppe, aus embryonalen Mäusezellen Herz-, Blutgefäß-, Knorpel-, Haut- und Nervenzellen zu züchten. Auf den Menschen übertragen böte das Therapiemöglichkeiten für Patienten mit Herzinfarkten, Bandscheiben-Schäden, Sportverletzungen, Verbrennungen oder Lähmungen.
Um so mehr bestürzt es Hescheler, dass selbst der einzige Unternehmer im 25-köpfigen Ethikbeirat der Bundesregierung, Jenoptik-Chef Lothar Späth, keinen Grund zur Eile sieht. Späth: „Ich persönlich bin nicht entschieden in der Frage, ob die Forschung an embryonalen Stammzellen erlaubt werden sollte, und wir sollten uns in Deutschland ruhig ein, zwei Jahre Zeit lassen, darüber nachzudenken.“ Die deutsche Forschung werde deshalb nicht, beschwichtigt Späth, in den Kriechgang schalten.
Das sehen die Forscher anders. „Ich habe gerade einen Brief aus Israel bekommen, wo Kollegen meine Mäuseversuche mit menschlichen Herzzellen ausprobiert haben – mit Erfolg“, kontert Hescheler: „Diese Arbeitsgruppe wird jetzt in hochangesehenen Wissenschaftsmagazinen wie „Nature“ oder „Science“ publizieren – nicht wir.“
Auch Unternehmen wie Cardion in Erkrath bei Düsseldorf oder Cytonet aus Weinheim fühlen sich ausgebremst. Sie forschen nur an ethisch unumstrittenen adulten Stammzellen – sie kommen zum Beispiel im Knochenmark von Erwachsenen vor – und an embryonalen Zellen aus Mäusen, wollen sich die Option, mit embryonalen menschlichen Stammzellen zu arbeiten, aber offenhalten. Denn Cytonet-Geschäftsführer Wolfgang Rüdinger glaubt: „Einfache Zellen wie Knorpel- oder Hautzellen lassen sich sicher aus adulten Stammzellen züchten – komplexe Hirn- oder Leberzellen dagegen vermutlich nicht.“
Genau diese biochemischen Alleskönner, die zum Beispiel Stoffwechselvorgänge regulieren können, hat Cardion-Chef Michael Ruhl sich ausgesucht. Der studierte Biochemiker und ehemalige Unternehmensberater arbeitet an Zellen die bei Diabetikern die Produktion von Insulin anregen sollen – das überlebenswichtige Medikament müßte dann nicht mehr gespritzt werden. Mindestens zwölf Millionen Zuckerkranke, schätzt Ruhl, könnten davon profitieren. Erwarteter Umsatz: 1,5 Milliarden Mark pro Jahr. In zehn Jahren könnte ein Medikament verfügbar sein. Patienten, die einen Herzinfarkt hatten, will Ruhl mit neuem Herzgewebe helfen. Er ist überzeugt: „Die Stammzellenforschung wird für die Pharmaindustrie eine vergleichbare Bedeutung haben wie das Betriebssystem Windows für die Computerindustrie.“
Statt jedoch Vor- und Nachteile, Bedeken und Vorzüge der Technik abzuwägen, wird derzeit alles miteinander vermengt – das Menschenklonen, die Reproduktionmedizin und die Stammzellen. Feine, aber entscheidende Unterschiede wie die Herkunft der Stammzellen, gehen dabei unter. Unter der Diskussion leiden Unternehmen wie die Düsseldorfer Kourion Therapeutics, die an Stammzellen aus Nabelschnurblut forscht oder Firmen, die mit adulten Stammzellen arbeiten und sich auf die Züchtung von menschlichem Gewebe aus körpereigenen Zellen spezialisiert haben. Dazu zählen die am Neuen Markt notierten Unternehmen Co.don aus dem brandenburgischen Teltow und Biotissue Technologies aus Freiburg sowie die Leverkusener Verigen.
Selbst Firmen wie Qiagen, Evotec oder Lion, die thematisch nicht das geringste mit Stammzellforschung oder Klonen zu tun haben, bleiben vor mißtrauischen Anfragen nicht verschont. Immer öfter sieht sich auch Co.don-Vorstand Olivera Josimovic-Alasevic mit der Frage konfrontiert: „Was macht ihr da eigentlich?“ Meist kann die Biochemikerin die Fragesteller beruhigen: Co.don hat sich auf die Entwicklung von Zellgeweben von Knorpeln, Knochen und Bandscheiben spezialisiert. Die Knorpelzellen werden dem Patienten entnommen, im Labor vermehrt und später wieder eingesetzt. Über 500 Transplantationen wurden erfolgreich durchgeführt. Obwohl selbst auf anderem Gebiet tätig, setzt sich Josimovic-Alasevic für die Forschung an embryonalen Stammzellen ein: „Wir brauchen die daraus gewonnenen Erkenntnisse dringend.“
Auch in den USA lassen Betroffene wie Christopher Reeve nicht locker. In zahlreichen Vorträgen preist er unermüdlich die Vorzüge der Stammzellenforschung: „Wenn wir das Leiden von Millionen lindern wollen, dann haben wir jetzt mit den Stammzellen ein neues Mittel. Wir sollten Gott einfach dafür danken.“ Reeve selbst hat sich zum Ziel gesetzt: Im Jahre 2004 will Superman wieder laufen können.
MICHEALA HOFFMANN / SUSANNE KUTTER / ANNETTE RUEß / JÜRGEN SALZ |