von Wolfgang Münchau Die Europäische Zentralbank wird einknicken. Dafür, dass die Notenbank von ihrem Ziel der Preisstabilität abrückt, sprechen mehrere Gründe.
Die Inflation im Euro-Raum steht jetzt bei drei Prozent. Die ökonomische Theorie sagt, man sollte diese Zahl ignorieren. Denn die Inflation ist nur deswegen so hoch, weil Öl und andere Preise derzeit besonders volatil sind. Das Einzige, was zählt, sind die langfristigen Inflationserwartungen. Solange diese fest verankert sind, brauche man sich über kurzfristige Schocks nicht zu sorgen.
Die Theorie stimmt, und deshalb mache ich mir Sorgen. Mir ist es egal, ob die Inflation im November eine Drei vor dem Komma hatte oder nicht. Mich interessieren die langfristigen Inflationserwartungen. Ich glaube, dass wir gerade dabei sind, diese fest verankerten Erwartungen zu erhöhen. Ein Symptom dieser Entwicklung ist der Anstieg der Lohnforderungen, nicht nur in Deutschland, sondern sogar in Ländern wie Finnland, wo Krankenschwestern in einem harten Arbeitskampf eine massive zweistellige Lohnerhöhung erzwungen haben.
Im Gegensatz zu den meisten konservativen deutschen Kommentatoren habe ich keine moralischen Bedenken gegen Gehaltserhöhungen - auch nicht gegen "unvernünftige". Ich habe auch nichts gegen Lohnsenkungen. Der Lohn ist ein Preis, der auf Signale reagiert. In den letzten Jahren gab es gute Gründe für eine moderate Lohnentwicklung in Deutschland. Jetzt gibt es gute Gründe für eine entgegengesetzte Entwicklung. Ich halte das für weder gut noch schlecht. Mein Verhältnis zum Arbeitsmarkt ist das des Entomologen zum Insekt.
Drei Ursachen
Ich sehe drei Gründe für den Anstieg der langfristigen Inflationserwartungen. Der erste und wichtigste Grund liegt im Verhalten der EZB. Die Europäische Zentralbank befindet sich in einem Konflikt zwischen Preisstabilität und der Stabilität des Finanzmarkts. Die Zeichen deuten darauf hin, dass sie sich gegen die Preisstabilität entscheiden wird. Jetzt höre ich Stimmen, die sagen, langfristig kann es einen derartigen Konflikt nicht geben. Das glaube ich nicht: Die langfristige Entwicklung kann sehr wohl davon abhängen, wie man kurzfristige Konflikte löst. Wenn man jetzt die Preisstabilität preisgibt, erhöhen sich die Inflationserwartungen, und das wirkt sich auch langfristig aus.
Die EZB würde momentan gern die Zinsen erhöhen, um die Inflation zu stabilisieren - kann es aber nicht, weil sie Turbulenzen auf den Finanzmärkten fürchtet. Sie ist in der Zwickmühle, müsste beide Ziele gleichzeitig erfüllen - auch wenn laut Maastrichter Vertrag Preisstabilität den Vorrang hat. Ich würde im Zweifelsfall auch der Preisstabilität den Vorrang geben. Ich glaube allerdings nicht, dass die EZB das tun wird. Die Mehrheit im Zentralbankrat schert sich mehr um das Wohl ihrer überzockten heimischen Banken als um das gemeinsame Gut der Preisstabilität im Euro-Raum. Trotz ihrer ermüdenden Stabilitätsrhetorik werden wir am Donnerstag erleben, dass EZB-Chef Jean-Claude Trichet und seine Kollegen wieder einmal eingeknickt sind.
Der zweite Grund liegt in der Dynamik der Globalisierung. Die erste Phase der Globalisierung - von Mitte der 80er-Jahre bis Mitte dieses Jahrzehnts - war durch einen Preisverfall in den globalen Produktmärkten gekennzeichnet. Dadurch sanken die gemessenen Inflationsraten.
Die Globalisierung hat nicht nur zu Wachstum in den neu industrialisierten Ländern geführt, sondern auch zu Wohlstand und höherem Konsum. Der globale Anstieg der Nachfrage nach Rohstoffen, Energie und Logistikdienstleistungen ist sowohl strukturell als auch extrem. Wenn man die Volatilität aus den Öl- und Rohstoffpreisen herausfiltert, verbleibt ein ansteigender Trend, der noch einige Jahre anhalten wird.
Der dritte Grund ist der globale Arbeitsmarkt. Wir haben in den letzten zehn Jahren überall auf der Welt eine deutliche Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit zugunsten des Kapitals erlebt. Dieser Trend geht gerade zu Ende. Die Subprime-Krise und ihre regulatorischen Konsequenzen werden diese Entwicklung weiter begünstigen. Die Globalisierung hat die Kaufkraft von Arbeitern und Angestellten erheblich reduziert - jetzt kommt es zu einem marktwirtschaftlichen Anpassungsprozess in die andere Richtung.
Historisch unterlag das Verhältnis von Löhnen zu Profiten am Volkseinkommen starken Schwankungen. Es ist aber langfristig stabil, unterliegt also keinem langfristigen Trend. Man sollte daher vorsichtig sein, zyklische Entwicklungen über einen Zeitraum von zehn Jahren zu extrapolieren. Was wir in den letzten zehn Jahren gesehen haben, ist wahrscheinlich nichts anderes als die erste Hälfte eines Zyklus. Es gibt keinen Grund anzunehmen, warum die Kapitaleigner ihren Anteil an der volkswirtschaftlichen Beute auf ewig erhöhen werden.
Aus diesen drei Gründen habe ich meine persönlichen langfristigen Inflationserwartungen auf drei Prozent hochgeschraubt. Von den drei Gründen ist der erste am wichtigsten.
Die EZB könnte diese Entwicklung verhindern, wenn sie wollte. Ich erwarte, dass zumindest in Deutschland die Entzauberung der Zentralbank eine Reihe von grundlegenden Diskussionen über die Zukunft der Währungsunion zur Folge haben wird. |