Woher sie kommen, was sie anrichten, wie wir ihnen begegnen können. Patmos Verlag, 2020, 160 Seiten
Rezension von Karl-Heinz Paqué:
„Die Umkehr der Beweislast Verschwörungsmythen haben tiefe anthropologische Wurzeln. Ein kleines Büchlein, nicht mehr als ein Essay – aber der hat es in sich. Michael Blume, Religionswissenschaftler und Antisemitismusbeauftragter Baden-Württembergs, untersucht den Ursprung und die Gefahr von Verschwörungstheorien
Er spricht nie wörtlich von „Theorien“, sondern von „Mythen“, weil ihnen nicht die Ehre zuteilwerden soll, als wissenschaftlich zu gelten. Denn Verschwörungsmythen kehren – völlig unwissenschaftlich – die Beweislast um: Die Existenz der Verschwörung wird behauptet, aber nicht mit Evidenz belegt. Sie ist keine test- und falsifizierbare Hypothese im Sinne des kritischen Rationalismus von Karl Popper, der in „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ den Philosophen Platon als deren ersten Zerstörer geißelt. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass Michael Blume die intellektuelle Geburt des Verschwörungsmythos eben bei Platon ortet – im berühmten Höhlengleichnis, das behauptet, was wir wahrnehmen, sei nur von Dritten vorgespiegelt, die sich gewissermaßen gegen den Betrachter der Realität „verschwören“. Die Gegenposition dazu findet Blume in der Philosophie des großen römischen Rhetors und Skeptikers Cicero, der den Austausch von evidenzbasierten Argumenten, das ergebnisoffene Gespräch, als Weg in Richtung der Wahrheit interpretiert.
„Verschwörungszirkel unterliegen oft einer destruktiven inneren Dynamik.“ Blume erkennt in der menschlichen Neigung zu Verschwörungsmythen eine tiefe anthropologische Konstante. Sie hat evolutorischen Überlebenswert, gerade weil sie Angst macht. Der Glaube, ein harmloser Baum, den man erblickt, sei ein gefährlicher Bär, mag in 19 von 20 Fällen falsch sein, aber er liefert einen guten Grund zur Flucht; denn der einzige Fall von zwanzig, in dem es tatsächlich ein Bär ist, kann tödlich ausgehen. Mit Nachdruck betont Blume, dass ein steigendes Bildungsniveau keineswegs die Neigung zu Verschwörungsmythen mindert. Im Gegenteil, die großen Hexenprozesse und die bis zu diesem Zeitpunkt grausamsten Pogrome gegen Jüdinnen und Juden fanden nicht im „dunklen“ Mittelalter, sondern in der frühen Neuzeit statt – nach (!) der Erfindung des Buchdrucks und dem Beginn der Breitenbildung. Kein Zufall auch, dass es das Land der Dichter und Denker war, das im Nationalsozialismus zum Land der Richter und Henker wurde. Und wen wundert’s, dass in Zeiten von Weltfinanzkrise und Coronapandemie neue Sündenböcke gefunden werden. Dagegen gibt es kein Heilmittel. Auch Blume kennt keines. Jedenfalls stellt er fest, dass es nichts bringt, mit den Gläubigen über den Inhalt ihres Irrglaubens zu diskutieren. Blume bleibt gleichwohl hoffnungsvoll. Der Grund: Verschwörungszirkel unterliegen oft einer destruktiven inneren Dynamik. Wenn deren charismatische Führungsfiguren Schwä-che zeigen, entsteht die kritische Diskussion im Sinne Ciceros – und die kann das Gebäude schnell zum Einsturz bringen. Genau deshalb prophezeite Blume Mitte des Jahres 2020 – dem Zeitpunkt, als das Buch entstand – den Niedergang der Macht von Donald Trump. Er hat Recht behalten. Trotzdem: Eine Menge Fragen bleiben offen. Wir warten auf weitere Bücher zu diesem wichtigen Thema.“
Quelle: www.freiheit.org , Ausgabe 04/2020 |