Gewalt in den USA
von Wolfgang Knöbl
... scheint ein beliebtes Vorurteil zu sein. Doch dass die Annahme nicht ganz falsch ist, belegen Fakten. Wolfgang Knöbl sucht im folgenden Beitrag nach schlüssigen Erklärungen für das im Vergleich zu europäischen Ländern hohe Gewaltpotential in der amerikanischen Gesellschaft. Zu einfach scheinen dabei Argumente wie die liberalen Schusswaffengesetze und der hohe Verstädterungsgrad der USA. Mit einem Blick auf den ethnisch segregierten Arbeitsmarkt und andere soziale Exklusionsmechanismen unternimmt Knöbl ein Erklärungsangebot für das Gewaltphänomen, indem er auch einen Bezug zu Fragen der städtischen Infrastruktur und Kommunalpolitik herstellt.
Als der amerikanische Basketballstar Charles Barkley, Mitglied der amerikanischen Mannschaft bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona, gefragt wurde, wie es ihm in der Stadt gefalle, antwortete er, dass es in Barcelona zwar ganz nett sei, allerdings: "Mir fehlt’s hier ein bisschen an Verbrechen und Morden. Erstklassige Schießereien oder Messerstechereien gibt’s hier wohl nicht. Kurz, ich vermisse Philadelphia." In ironischer Weise hatte Barkley in diesem Interview alle Vorstellungen, Vermutungen und auch Vorurteile bedient, die die meisten Europäer vom Leben in den USA und vor allem den US-amerikanischen Großstädten hegen: die USA als eine im Vergleich zu den Ländern Westeuropas extrem gewalttätige Gesellschaft, in der schwerste Kriminalität - Raub, Mord und Totschlag - fast schon Bestandteil des alltäglichen Lebens sind. Interessanterweise wird solch ein Klischee durch zahlreiche kassenträchtige Spielfilme aus Hollywood noch weiter bekräftigt. Einer dieser Filme war "Falling Down" mit Michael Douglas in der Hauptrolle. Dieser Streifen, Anfang der neunziger Jahre gedreht, gibt sich als ein filmisches Sittenbild der amerikanischen Gegenwartsgesellschaft zu verstehen: Der Hauptdarsteller, wie üblich im chaotischen Wochenendverkehr von Los Angeles hoffnungslos stecken geblieben, verliert angesichts der glühenden Hitze, des Autolärms und einer ihn unerträglich nervenden Fliege die Geduld und verlässt in einer Kurzschlusshandlung sein Auto, um sich zu Fuß nach Hause durchzuschlagen.
Das jedoch hätte er nicht tun sollen: Denn wo auch immer er sich zu Fuß abseits der Hauptverkehrsadern bewegt, gerät er in einen Alptraum von drohenden oder offenen Gewaltsituationen, erlebt er Los Angeles als ein von farbigen Straßengangs beherrschtes Territorium, in dem er als weißer Mittelstandsbürger fortlaufend zum Ziel verbaler oder physischer Attacken wird und schließlich selbst zu sinnloser und massiver Gewalt greift und, so legt der Film nahe, greifen muss. Entspricht ein solches filmisches Sittenbild aber auch der Realität?
Die Sonderstellung Amerikas
Um es vorwegzunehmen - das gesellschaftliche Gewaltpotential in den Vereinigten Staaten von Amerika ist tatsächlich wesentlich höher als in allen vergleichbaren westlichen Industriegesellschaften. Insofern treffen die Vermutungen der meisten Europäer also durchaus zu, was sich auch statistisch belegen lässt. Stützt man sich dabei auf die zuverlässigsten Daten, nämlich diejenigen zu Mord und Totschlag, so ergibt sich, dass in den 80er Jahren in den USA durchschnittlich etwa 20.000 Menschen im Jahr umgebracht wurden. Der Uniform Crime Report, das ist die offizielle Verbrechensstatistik des FBI, wies für das Jahr 1990 23.438 Fälle von Mord und Totschlag ("murder and nonnegligent manslaughter") auf. Das entspricht einer Quote von 9,4 solcher Delikte auf je 100.000 Einwohner. Mit dieser Quote war sicherlich auch für die amerikanische Geschichte eine Art Höchststand erreicht. Danach sanken die Mord- bzw. Totschlagsquoten in einigen (nicht in allen) Großstädten wieder rapide ab, in New York zwischen 1990 und 1995 bei den vollendeten Tötungsdelikten um etwa 40 Prozent, in Chicago um etwa 11 Prozent - was sichtbare Auswirkungen auch auf die nationale Mord- und Totschlagsrate hatte. Insgesamt wird man davon ausgehen können, dass die nationale Mordquote sich noch immer im Bereich von etwa 8 Morden pro Jahr je 100.000 Einwohner bewegt. Insgesamt waren die jährlichen landesweiten Mordraten in den USA in den 80er und 90er Jahren etwa 5 bis 10 mal so hoch wie die der meisten europäischen Länder und Japans.
Die Verbreitung von Schusswaffen
Auf der Suche nach Erklärungen liegt ein Gedanke fast auf der Hand: Da allgemein bekannt ist, wie stark verbreitet der private Waffenbesitz in der amerikanischen Gesellschaft ist, stellt sich die Frage, welche Rolle dieser für die hohe Rate bei den Tötungsdelikten spielt. Nach Schätzungen gab es 1968 in den USA zwischen 60 und 100 Millionen Schusswaffen in privatem Besitz, 1978 bereits 100 bis 140 Millionen und 1990 ungefähr 200 Millionen. Etwa die Hälfte aller amerikanischen Haushalte besitzt mindestens eine Schusswaffe - ein um ein Vielfaches höherer Anteil als in allen vergleichbaren westeuropäischen Gesellschaften (demgegenüber besitzen lediglich 6 Prozent aller französischen und nur 2 Prozent aller niederländischen Haushalte Waffen). Auf die Mordstatistiken wirkt sich dies insofern aus, als Schusswaffen in der Regel schwerere Verletzungen verursachen als andere Instrumente. Das heißt, das Vorhandensein bzw. der Einsatz von Schusswaffen in einem Streit oder bei einer Straftat erhöht das Risiko einer hierbei auftretenden tödlichen Verletzung. Und in der Tat lässt sich zeigen, dass 1992 über zwei Drittel aller Morde mit Schusswaffen - vor allem Handfeuerwaffen - begangen worden sind. Gleichwohl hat man aber mit dem Verweis auf solche Daten noch keine Erklärung für das hohe Gewaltpotential in den USA. Denn die weite Verbreitung von Schusswaffen ist in diesem Zusammenhang zwar sicherlich ein wichtiger Faktor, doch stellt sie auf der anderen Seite auch nur einen Teil des amerikanischen Gewaltproblems dar. Vornehmlich aus zwei Gründen würde selbst eine drastische Reduktion des Schusswaffenbesitzes die Mordzahlen nicht auf ein europäisches Niveau absenken: 1. Selbst wenn es gelänge, alle Schusswaffen aus Amerika zu entfernen - angesichts der hohen Zahl vorhandener Waffen übrigens eine völlig unrealistische Annahme - sänke die Mordrate natürlich nicht um etwa 70 Prozent, um so viel also, wie Morde mit Hilfe von Schusswaffen begangen werden. Denn, wenn man unbedingt jemanden umbringen will, wird man dies auch ohne Schusswaffe schaffen. Deshalb sind im Falle einer Verringerung der Anzahl an vorhandenen Schusswaffen auch keine proportional dazu absinkenden Mordzahlen zu prognostizieren. 2. Selbst wenn man dies außer Acht lassen und alle mit Schusswaffen begangenen Morde aus der Statistik streichen würde, wäre die amerikanische Mordrate noch immer wesentlich höher als in den anderen westlichen Industrieländern. Ein Drittel aller Morde und Totschlagsdelikte werden in den USA ohne Schusswaffen begangen. Dies ergäbe noch immer eine Mordrate von etwa 2,8 je 100.000 Einwohner, womit die Mordrate (im Jahr 1990) auf alle Fälle noch immer doppelt so hoch gewesen wäre wie die Zahlen für die Bundesrepublik Deutschland - und zwar für alle begangenen Tötungsdelikte zusammen. In den 80er Jahren bewegten sich die vergleichbaren Werte für Westdeutschland zwischen 1,5 und 2,0 pro 100.000 Einwohner und Jahr. Zudem weiß man aus historischen Untersuchungen, dass der Zusammenhang zwischen Waffenverbreitung und Mordhäufigkeit durchaus nicht immer allzu eng ist. Auch Amerika hatte dies schon einmal erfahren. Zwischen 1870 und 1900 war nämlich in den Vereinigten Staaten die Mordquote in einer Zeit gesunken, als es vor allem durch den amerikanischen Bürgerkrieg (1861-65) zu einer starken Verbreitung von Schusswaffen in der Bevölkerung gekommen war. Zur Frage der Schusswaffen und ihres Einflusses auf die Gewaltkriminalität in Amerika läßt sich also behaupten, dass eine Verminderung dieser Waffen die hohen Mord- und Totschlagszahlen wohl deutlich absenken könnte, dass dies allein aber das Gewaltproblem Amerikas nicht lösen würde. Die hohe Verbreitung von Schusswaffen erklärt zwar zu einem nicht unwesentlichen Teil, aber eben bei weitem nicht vollständig die hohe Zahl von Tötungsdelikten.
Gewalt in den Großstädten
Eine weitere Vermutung zu den Ursachen des hohen Gewaltpotentials in Amerika könnte lauten, dass der hohe Urbanisierungsgrad Amerikas sehr stark mit dem hohen Gewaltpotential zusammenhängt, wird doch häufig das großstädtische Leben mit allen möglichen Formen von Disorganisations- und Auflösungserscheinungen und eben auch mit Gewalt in Zusammenhang gebracht. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind tatsächlich das am höchsten urbanisierte Land der Welt. 1980 lebten etwa 74 Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung in urbanen Räumen, und für das Jahr 2000 wird dieser Anteil auf bis zu 85 bis 90 Prozent geschätzt. Wenn man heute an Amerika denkt, hat man dabei vor allem die großen Metropolen wie New York City, Los Angeles oder Chicago vor Augen. Vielen erscheint - insbesondere nach den Rassenunruhen von 1992 - gerade Los Angeles als Verkörperung des großstädtischen Molochs: eine Stadt mit 3,4 Millionen bzw. - nimmt man das County Los Angeles noch hinzu - 8,9 Millionen Einwohnern, in deren Schulen etwa 80 Sprachen gesprochen werden und in der schier unlösbare Umwelt- und Verkehrsprobleme herrschen. Die Frage ist also, ob nicht solche riesigen Metropolen und der hohe Verstädterungsgrad insgesamt ganz wesentlich helfen können, die Kriminalitätsproblematik Amerikas zu erklären. Auf den ersten Blick scheint dies der Fall zu sein, da die Gewaltkriminalität gerade in den großen Städten "beheimatet" ist. Anders formuliert: das Gewaltproblem Amerikas ist zu einem nicht unwesentlichen Teil das seiner Großstädte. In den 32 größten Städten Amerikas lebten Mitte der siebziger Jahre 15 Prozent der Bevölkerung, aber in diesen Metropolen wurden 38 Prozent der Morde, 56 Prozent der Raubüberfälle und 33 Prozent der Vergewaltigungen verübt. Seither hat sich dieses Verhältnis noch weiter zugespitzt, da vor allem in den Innenstädten die Gewaltkriminalität schneller wuchs als im Landesdurchschnitt. Als Ronald Reagan das Weiße Haus 1988 verließ, hatte Washington D.C. gerade eben den zweifelhaften Titel der Mordhauptstadt der Vereinigten Staaten erworben. Dort gab es 1988 372 Morde auf 626.000 Einwohner, was einer Mordquote von 59,5 Morden pro 100.000 Einwohner entsprach. Washington D.C. hat diesen "Ehrentitel" der Mordhauptstadt seither nicht mehr abgegeben, 1992 war die Mordquote bereits auf 75,2 Morde pro 100.000 Einwohner gestiegen - wobei allerdings Städte wie Detroit, New Orleans, St. Louis, Atlanta, Baltimore, Oakland und Birmingham mit Zahlen zwischen 40 und 50 Morden pro 100.000 Einwohner eine durchaus ernst zu nehmende Konkurrenz darstellten.
Im Vergleich dazu nimmt sich die Mordstatistik Berlins geradezu bescheiden aus: Die Mordquote in Berlin betrug 1995 etwa 2,3 Morde pro Jahr und 100.000 Einwohner, 1996 dann 2,8 und 1997 schließlich 2,4. Der internationale Vergleich zeigt also sofort, dass die Größe einer Stadt nichts über die dortige Gewaltbelastung aussagt. Nicht die Urbanisierung per se, sondern der Charakter der amerikanischen Urbanisierung ist möglicherweise einer der entscheidenden Faktoren des enorm hohen Gewaltpotentials, und es dürfte sich spätestens hier lohnen, einen Blick auf die Besonderheiten amerikanischer Städte zu werfen. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die Großstädte mittlerweile zu den Hauptwohnregionen der ethnischen Minderheiten in den USA geworden sind, wobei hier vor allem die Afro-Amerikaner von Bedeutung sind. In vielen amerikanischen Großstädten stellt vor allem die Gruppe der Afro-Amerikaner entweder die Bevölkerungsmehrheit oder sie repräsentiert einen Prozentsatz an der städtischen Bevölkerung, der weit über dem Landesdurchschnitt liegt. 12 bis 13 Prozent aller Amerikaner sind schwarz, aber in nicht wenigen Großstädten stellen sie mehr als die Hälfte der Bevölkerung, in Detroit sogar zwei Drittel. Diese hohe Konzentration der schwarzen Bevölkerungsminderheit war und ist dabei keinesfalls historisch konstant: Dieses Phänomen und vor allem die Ghettoisierung der Afro-Amerikaner in den Städten sind historisch gesehen relativ neue Erscheinungen. Noch 1860 lebten 90 Prozent aller Schwarzen im Süden der Vereinigten Staaten und hier vor allem auf dem Lande. Mit der Sklavenbefreiung, mit der Umstrukturierung und Mechanisierung der Landwirtschaft hat seit den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts aber allmählich eine enorme Wanderung in die Städte des Nordens eingesetzt, in denen die ehemaligen Sklaven nach Arbeitsplätzen suchten. Für Chicago beispielsweise bedeutete dies, dass die dortige afro-amerikanische Bevölkerung zwischen 1890 und 1930 von 14.000 auf 234.000 Personen wuchs. Einen ähnlichen Zuwachs erlebte auch New York City. Diese Migration hielt bis 1970 an und führte dazu, dass ab 1950 schon über die Hälfte aller Schwarzen Städter waren und diese damit die am stärksten verstädterte Bevölkerungsgruppe in den Vereinigten Staaten darstellen.
Das Entscheidende ist jedoch, dass mit der Wanderung in die Städte keine Mischung der Ethnien, keine Mischung zwischen Schwarz und Weiß erfolgte, sondern das Gegenteil eintrat: Je mehr die afro-amerikanische Bevölkerung in die Innenstädte zog, umso mehr zog die weiße Bevölkerung aus diesen fort und ließ sich vor allem seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in den Vorstädten nieder. Sie hielten zumeist über die sehr guten Autobahnanbindungen Kontakt zur Innenstadt, so dass sie im hochmotorisierten Amerika ohne Probleme von den Wohn-Vorstädten zu den innerstädtischen Arbeitsplätzen pendeln konnten. Die Suburbs blieben bis heute Siedlungsgebiete der weißen Mittelschicht, die sich mit allen rechtlichen und ökonomischen Mitteln gegen den Zuzug von ethnischen Minderheiten wehrte.
Innerstädtische Armut
Eine weiße suburbane Mittelschichtengesellschaft stand also zunehmend einer von Schwarzen dominierten Kernstadt gegenüber. Und hier wurden spätestens seit den 60er Jahren die ökonomischen Verhältnisse im Rahmen der Umstrukturierung der Weltökonomie immer problematischer: Die klassischen Industrien der ersten und zweiten industriellen Revolution, vor allem die Stahl- und die Autoindustrie, verloren immer mehr an Bedeutung. Industrielle Arbeitsplätze insgesamt nahmen in den Großstädten ab, so dass sich hier mit Ausnahme des entweder sehr schlecht (McJobs) oder sehr gut bezahlten und hochqualifizierten Dienstleistungssektors (wie Banken und Versicherungen) zunehmend Arbeitsplatzmangel bemerkbar machte. Genau zu dem Zeitpunkt also, als die Schwarzen begannen, in Detroit, Washington D.C., Baltimore, Atlanta und vielen anderen Städten die Mehrheit zu stellen, gab es dort ein rapides Absinken der Zahl der industriellen Arbeitsplätze: New York City etwa verlor zwischen 1947 und 1977 500.000 Arbeitsplätze; hatte Chicago 1954 noch 10.000 Betriebe und Fabriken mit 616.000 Angestellten, so halbierte sich dort bis 1982 die Zahl der Betriebe und Beschäftigten. Mit Ausnahme des schlecht bezahlten Dienstleistungssektors - von Reinigungsfirmen bis hin zu Schnellimbissketten und einigen Einzelhandelsfirmen - verengte sich der Arbeitsmarkt zusehends gerade für Afro-Amerikaner. Sie fanden aufgrund ihrer häufig schlechten Schul- und Ausbildung kaum noch hochqualifizierte Jobs im Banken- und Versicherungswesen. Meist blieben ihnen nur solche Jobs, die ihnen kaum die Chance boten, sich von der Armut zu befreien. In der amerikanischen sozialpolitischen Diskussion werden sie als die sogenannten "working poor" bezeichnet, also als diejenigen, die trotz fester und ständiger Arbeit arm bleiben. Mit der Konzentration von Armut und Arbeitslosigkeit ergab sich eine Abwärtsspirale, die die Innenstädte immer stärker zu einer Art Notstandsgebieten werden ließ. Mehr und mehr Geschäftsleute zogen mit ihren Unternehmen aus den Innenstädten weg, da eine kaufkräftige Kundschaft schlicht nicht mehr vorhanden war. Schließlich verließen sogar die Schwarzen, die den Sprung in die Mittelschicht geschafft hatten, das innerstädtische Ghetto. Zurück blieb eine zunehmend arme, proletarisierte, schwarze Unterschicht, die sogenannte "underclass" oder "innercity poor", die in großem Ausmaß entweder auf Gelegenheitsjobs, öffentliche Wohlfahrt oder kriminelle Geschäftsaktivitäten angewiesen war und blieb.
Die Diskussion hat sich mittlerweile also verlagert von der (amerikanischen) Form der Urbanisierung hin zum Problem städtischer Armut. Es lässt sich nun die Frage stellen, inwieweit die besonderen Bedingungen der (städtischen) Armut in den USA für die Eskalation der Gewalt verantwortlich sind. Es ist eine Binsenweisheit, dass die meisten Straftäter nicht gerade aus wohlhabenden Verhältnissen stammen. Mitte der 80er Jahre war etwa ein Drittel aller Untersuchungsgefangenen in den USA vor ihrer Verhaftung arbeitslos, von den männlichen Inhaftierten sogar fast die Hälfte. Da nun die Afro-Amerikaner - wie durch die Schilderung der Situation in den Innenstädten gezeigt - sozio-ökonomisch besonders benachteiligt sind, verwundert es nicht, dass sie besonders stark in Gewaltdelikte verwickelt sind: Während die Schwarzen einen Anteil von etwa 12 Prozent, die Weißen einen Anteil von gut 75 Prozent an der amerikanischen Gesamtbevölkerung stellen, betrafen knapp über die Hälfte der Mordverhaftungen im Jahre 1991 eine schwarze, aber nur 43,4 Prozent eine weiße Person. Die Auffälligkeit von Schwarzen im Zusammenhang mit Morddelikten ist also fast fünfmal so hoch, wie es eigentlich ihrem Bevölkerungsanteil entspräche.
Bei all diesen Daten zur Armut vor allem der Afro-Amerikaner in den Großstädten ist aber zu beachten, dass ein enger Zusammenhang zwischen ökonomischer Notlage und Gewaltkriminalität nicht immer unmittelbar gegeben ist: Nicht jeder der arm oder sozial unterprivilegiert ist, greift zu kriminellen Mitteln oder gar zu Gewalt. In der Tat haben großflächige amerikanische Untersuchungen häufig auch keinen klaren und engen Zusammenhang zwischen Einkommen und Kriminalität ergeben. Signifikanter schien dagegen oftmals der Zusammenhang zwischen Kriminalität einerseits und Armut, rassistischer Diskriminierung und problematischen Familienverhältnissen andererseits zu sein. Letzteres ist insofern von Bedeutung, als mit dem Verfall der Innenstädte stabile Rollenstrukturen verloren gegangen sind, und zwar in zweierlei Hinsicht: Die noch in den 40er und 50er Jahren zu beobachtende Führungsrolle schwarzer Handwerker, Ärzte und Kaufleute in der community ist abhanden gekommen. Ihre traditionellen "Aufsichts- und Kontrollrechte" über die Jugendlichen sind geschwunden, so dass die Jugendlichen in Gruppen von Gleichaltrigen aufwachsen, was unter anderem die Ausbreitung von Jugendgangs fördert, mit allen delinquenten Folgen. Wenn Jugendgangs mit ihren teilweise illegalen Verdienstmöglichkeiten zunehmend attraktiv werden, hat dies also nicht zuletzt damit zu tun, dass die schwarze Mittelklasse die Ghettos mittlerweile verlassen hat und für viele Jugendliche positive berufliche Rollenmodelle für die Zukunft fehlen. Nicht wenige Jugendliche kennen aus eigener Beobachtung überhaupt keine Aufsteigerkarrieren mehr; der häufig durch Vorbilder gegebene Anreiz zu Bildungs- und Berufsanstrengungen scheint immer mehr zu schwinden. So entsteht ein soziales Klima, in dem der Rückgriff auf Gewalt - sei es als Mittel zur Identitätsfindung, sei es zur Durchführung von kriminellen Geschäften - immer wahrscheinlicher wird. Stategien zur Absenkung der Gewalt in den amerikanischen Innenstädten würden das spezifische Gewaltproblem Amerikas allein nicht lösen. Auch außerhalb der Ghettos ist Gewalt weit verbreitet, werden Gewaltdelikte in einem Maße auch von Weißen begangen, wie das in Europa nicht der Fall ist. Eine Verbesserung der sozialen Situation der Afro-Amerikaner in den Innenstädten könnte allerdings einiges dazu beitragen, das Gewaltniveau auf einer erträglicheren Höhe zu halten.
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