Unabhängig von AT&S ist momentan auf den Weltaktienbörsen eine recht paradoxe Situation eingetreten. Ungeachtet multipler Krisen - Corona-Nachläufer in den Lieferketten etc., Ukraine-Krieg, China-Taiwan, Inflation, US-Schuldenkrise, Rezessionsgefahr, Zinshöhe - notieren viele Indizes weltweit auf einem All-Time-High (DAX) oder zumindest in der Nähe eines langjährigen Höchststandes (Nikkei).
Auch der NASDAQ hat sich - wie an anderer Stelle erwähnt - bereits deutlich erfangen, notiert über 12-Monats-Hoch und könnte bei Beilegung des US-Schuldenstreits weiter nach oben ausbrechen, zumal auch erste Signale von Fed-Chef-Powell darauf hindeuten, dass der Leitzins nicht weiter steigen wird. Es ist schon bemerkenswert, dass die meistprognostizierte Rezession aller Zeiten einfach nicht und nicht eintreten will. Viele Analysten hatten ja damit gerechnet, dass die Unternehmen ihre Ausblicke in den ersten zwei Quartalen dieses Jahres deutlich absenken würden und damit die Börsen wieder auf Talfahrt geschickt würden. Dieses Szenario wurde von einigen jetzt noch weiter nach hinten geschoben, denn die Berichtssaison neigt sich auf beiden Seiten des Atlantiks bald ihrem Ende zu und hat entweder die vorhergesagten Ergebnisse gebracht bzw. kam es sogar zu nicht wenigen positiven Überraschungen. In Deutschland machen DAX-Konzerne trotz Krise und Inflation - oder gerade deswegen ?- gerade Rekordgewinne, und das betrifft nicht nur die Energieversorger. Offenbar konnte man - moralisch natürlich fragwürdig - gerade aufgrund der Inflation einen ordentlichen Reibach machen.
Die Frage ist nun natürlich: Kommt das dicke Ende erst noch oder kommt es gar nicht? Dass Leitzinsen natürlich nicht in so kurzen Zeiträumen so massiv angehoben werden können, ohne dass das auch zu massiven Verwerfungen in einigen Teilbereichen der Wirtschaft (Stichwort Regionalbankenkrise) führt, sollte jedem klar sein. Den Notenbank-Chefs ist diese Tatsache wohl bewusst, weswegen auch - bei manchmal noch anderslautender Rhetorik - davon auszugehen ist, dass der Plafond bald erreicht sein wird, auch in Europa, weil man ja durch weitere Anhebungen die Länder des Südens wohl bald massiv in die Bredouille bringen wird. Die Inflation wird man dann halt eben entweder tolerieren oder doch durch andere als diese klassischen Geldmarktinstrumente in den Griff bekommen müssen - etwa durch vermehrte staatliche Regulierungen in gewissen Bereichen, was natürlich auch ein heikles Kapitel ist.
Aber gerade bei der Inflation gibt es in jüngster Zeit vermehrt Zeichen der Entspannung. Nehmen wir nur mal Österreich: Unsere Gasspeicher sind fast zu 73% voll, bei sehr starken Regenfällen in den letzten Wochen und damit einhergehend in den nächsten Wochen zu erwartenden starken Stromerzeugungskapazitäten durch Wasserkraft. Es könnte durchaus der Fall eintreten, dass die Speicher bis Mitte August beinahe zu 100 % gefüllt sind. Ein Absturz des die Inflation deutlich bestimmenden Gasgroßhandelspreises wäre die Folge. Da es in den meisten anderen Ländern Europas (Deutschland!) ähnlich aussieht, wäre das schon mal Grund zur Entspannung. Und anders als vorhergesagt scheint auch der Ölpreisdeckel gegen Russland zu wirken - der Ölpreis ist zwar nicht wirklich billig, aber von den Höchstständen meilenweit entfernt.
Was uns zum Thema Ukraine bringt: Es ist fürchterlich, was sich da auf den Schlachtfeldern abspielt, aber auf die europäische Wirtschaft und die Weltwirtschaft hat das kaum mehr einen Einfluss. Das Thema Weizenknappheit scheint auch vom Tisch zu sein, die Russen wollen sich offenbar nicht selbst ins eigene Fleisch schneiden - auch hier ist Entspannung zu erwarten. Eine richtige Eskalation könnte nur bei einem Sieg Russlands oder bei einem Nuklearwaffeneinsatz drohen - beide Szenarien werden heute aber als unrealistisch eingestuft. Es ist der Ukraine zumindest gelungen Russland nachhaltig aufzuhalten. Um Bachmut zu erobern hat Putin diesen Krieg nicht gewonnen. Droht aber aufgrund der Inflation eine massive Abwanderung der Industrie? Kann man nicht ausschließen, aber so schnell geht so eine Entwicklung nicht, normalisiert sich die Lage, werden sich die meisten Firmen wohl entschließen zu bleiben. Und wenn es bei der Ankündigung, sich unabhängiger von China zu machen, tatsächlich nicht mehr als um ein Lippenbekenntnis handelt, dann sollten sich Firmen - geködert durch Förderungen - wohl eher bald wieder im EU-Raum ansässig machen. Dazu kommen natürlich die Chancen, die sich ergeben, wenn man jetzt wirklich massiv auf nachhaltige Energie setzt.
Bleibt der Komplex China/Taiwan, der für AT&S ja nicht unerheblich ist, möglicherweise auch für die Kursverluste in den letzten Monaten mitentscheidend. Auch hier sehe ich deutliche Zeichen der Entspannung, nachdem die Lage tatsächlich einige Zeit prekär war. China hat wohl eingesehen, dass ein Angriff auf Taiwan in nächster Zeit unabsehbare Folgen - bei recht geringen Erfolgsaussichten - haben würde. Vieles was in dieser Hinsicht geschieht sehe ich als gesichtswahrendes Geplänkel auf beiden Seiten, wo die Territorien abgesteckt werden - am status quo wird das wohl nichts ändern. Wenn der Westen gescheit ist, zieht er sich langsam aus China zurück, aber eben langsam und vorsichtig und ohne großes Getöse und ohne Drohgebärden gegen China. China hat ja schon mitbekommen, dass ein gewisser Rückzugsprozess im Gange ist und wird ganz sicher versuchen, das noch aufzuhalten, denn ein Rückzug vieler großer Unternehmen aus dem Land kann ganz sicher nicht im Interesse Chinas sein. Wir werden hier also meiner Meinung nach in naher Zukunft eher versöhnliche Signale sehen, was zur allgemeinen Entspannung beitragen sollte. Dessen ungeachtet war die Entscheidung von AT&S für den Standort Kulim in Malaysia wohl richtungsweisend und goldrichtig - ein moderner Staat mit allen Möglichkeiten, umgeben von vielen Tigerstaaten und gigantischen Absatzmärkten in großer Nähe, aber eben ein Land ohne imperiale Ambitionen, das mit dem Westen eher kooperiert. Es wird wohl darauf hinauslaufen, dass AT&S zwar China nicht aufgibt, aber der Standort Kulim immer wichtiger wird, da er ja auch modular stark ausbaufähig ist.
Bleibt noch der US-Schuldenstreit: Das ist für jeden ersichtlich, wohl das übliche Getöse, wo jeder mal wieder sein Terrain markiert. Man wird "in letzter Minute" wohl auch hier wieder eine Einigung finden, davon bin ich überzeugt. Vielleicht bin ich zu optimistisch, aber es scheint mir, als hätten wir in punkto multiple Krisen tatsächlich bereits die Talsohle überschritten und die Menschen und Regierungen erweisen sich doch als vernünftiger und lernfähiger als gedacht. |