Neuer Boom für Ich-AG`s -Wie Arbeitslose Hartz IV umgehen Autor : Oliver Meyer-Rüth
17,7% Arbeitslosigkeit in Deutschlands Hauptstadt - ein trauriger Sommer. Der 57jährige Berliner Elektroingenieur Joachim Diercksen weiß, was das heißt. Arbeitslos sein. Er war es schon mehrere Jahre und ist es jetzt seit längerem wieder. In der Familie verdient nur die Frau das Geld. Knapp 2000 Euro im Monat. Jetzt muß Diercksen, wie so viele in Deutschland, den Fragebogen für das Arbeitslosengeld II ausfüllen. Doch er ahnt heute schon, wie es im kommenden Jahr finanziell für ihn aussieht. Joachim Diercksen sagt:
"Ich bekomme gar nix, weil meine Frau seit Anfang des Jahres eine Festanstellung hat und relativ gut verdient und aus dieser Situation heraus, werd ich gar nicht in den Anspruch kommen."
Bei der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen sucht Diercksen Rat. Kein müder Euro mehr, obwohl er jahrelang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat. Das will sich der Elektroingenieur nicht gefallen lassen. Der Mitarbeiter der vom DGB mitfinanzierten Beratungsstelle rät Diercksen, was er allen anderen, die in derselben Situation sind, auch rät. Martin Künkler von der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen e.V. äußert sich über Diercksens Lage wie folgt:
"Er sollte schon überlegen, eine Ich AG zu gründen. Dann bekommt er 600 Euro monatlich im ersten Jahr. Davon muß er sich zwar sozial absichern, aber trotzdem bleibt noch ein bißchen was für den Lebensunterhalt übrig. Eine bessere Sache, als ins Arbeitslosengeld II abzustürzen, wo er keinen Anspruch hat. Risiko gibt es bei der ganzen Sache keins. Die Förderung muß weder zurück gezahlt werden, noch muß ich groß Konzepte einreichen. Es reicht zu sagen, ich möchte eine Ich AG gründen. Dann wird die Förderung auch bewilligt. Ohne Nachteile, ohne Risiken und ohne Rückzahlungspflicht."
Es muß gespart werden. Vor allem deshalb sollen rund 500.000 Arbeitslose in Deutschland nächstes Jahr überhaupt kein Geld mehr bekommen. Für sie alle wäre die Ich AG der Notanker. 600 Euro pro Monat ohne weiteres. Mehr Ich AGs, davon will der Vorstand der Nürnberger Bundesagentur, Heinrich Alt, momentan jedoch nichts wissen:
"Ich rechne nicht mit einem Run auf Ich AGs, denn jeder muß sich ausrechnen, was für ihn das Günstigere ist. Und wenn ich den normalen Arbeitslosengeld II Empfänger im Westen nehme, bekommt er 345 Euro Grundsicherung und nochmal circa 400 Euro Wohnung plus Heizungskosten. Also das sind in der Summe 700 Euro. Bei der Ich AG kriegt er bestenfalls 600 Euro."
Diese Rechnung der Bundesagentur bezieht sich jedoch nur auf die, die etwas bekommen. Für die 500.000, die leer ausgehen, ist die Ich AG die letzte Chance. Frank Wießner vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung erklärt daher:
"Man muß in der Folge deshalb noch in der zweiten Jahreshälfte 2004 mit einem richtigen Gründungsboom rechnen. Allerdings weniger aus unternehmerischen Gründen, sondern vielmehr aus einer Ökonomie der Not."
Der Arbeitsmarktexperte der Uni Erlangen-Nürnberg, Prof. Hermann Scherl, folgert:
"Das reißt ein vorher ungeplantes Milliardenloch in den Haushalt der Bundesagentur für Arbeit."
An dieses milliardenteure Schlupfloch für Arbeitslose hat offenbar Keiner gedacht bei der Konzeption von Ich AG und Arbeitslosengeld II. Selbst im Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, das zur Bundesagentur für Arbeit gehört und auch dem Bundeswirtschaftsministerium zuarbeitet, kritisiert man die Kollision der beiden Arbeitsmarktinstrumente. Frank Wießner vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sagt:
"Das Problem besteht hier darin, daß hier ein arbeitsmarktpolitisches Programm ein anderes aushebelt. Das heißt, Ich AGs werden jetzt möglicherweise hauptsächlich aus der Motivation heraus gegründet, das Arbeitslosengeld II zu unterlaufen."
Im Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit will sich zum Thema Hartz IV und arbeitsmarktpolitischen Fehlplanungen momentan niemand äußern. Der Minister sei im Urlaub, heißt es lapidar aus der Pressestelle. Der Arbeitsmarktexperte Prof. Hermann Scherl äußert sich zu Hartz IV wie folgt:
"Bei der gesamten Konzeption von Hartz IV wurden meines Erachtens etliche Fehler gemacht. Daß nun die Ich AG die vorgesehenen Einsparungen beim Arbeitslosengeld II teilweise durchkreuzt, das hat die Politik einfach nicht rechtzeitig erkannt und nichts dagegen getan."
Jürgen Heike vom Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit sagt:
"Das ist eine Pervertierung des Rechts und das war auch mit Sicherheit nicht im Sinne der Erfinder. Ich muß dazu sagen: Das zeigt wieder, wie schlampig diese Gesetze vorbereitet worden sind."
Der Arbeitslose Joachim Diercksen hingegen kann sich freuen über die Fehlplanungen in Sachen Hartz IV und füllt schon mal seinen Ich AG Antrag aus, denn:
"Das Geld bekommt man und das brauch ich noch nicht mal zurückzuzahlen und ich kann beim Arbeitsamt wieder in den alten Staus der Arbeitslosigkeit eintreten."
Den Fragebogen zum Arbeitslosengeld II muß der Ich AG Gründer Joachim Diercksen gar nicht mehr ausfüllen. Es wird nicht der Einzige sein, der bis zum Jahresende 2004 im Mülleimer landet.
http://www.br-online.de/daserste/report/archiv/2004/00169/ |