HANDELSBLATT, Montag, 22. Mai 2006, 20:14 Uhr Deutsche Börse unter Zugzwang Euronext bevorzugt offenbar NYSE Die europäische Mehrländerbörse Euronext hat das Angebot der New York Stock Exchange für einen Zusammenschluss als die derzeit attraktivste Offerte bezeichnet. Um bis zur endgültigen Empfehlung noch zu punkten, muss sich die Deutsche Börse kräftig ins Zeug legen.
HB FRANKFURT. Wie Euronext am Montag mitteilte, habe es sowohl das Angebot der Deutschen Börse als auch der NYSE überprüft. Euronext werde beide Angebote seinen Aktionären auf der Hauptversammlung am Dienstag erläutern. Eine endgültige Empfehlung werde das Unternehmen später auf einem außerordentlichen Aktionärstreffen geben.
Seit Jahren wandelt die Deutsche Börse auf Freiersfüßen, und doch droht die New York Stock Exchange jetzt den Frankfurtern die Euronext wegzuschnappen. Die Deutschen stehen damit nach Ansicht mancher Beobachter am Scheideweg, Spitzenliga oder Klassenabstieg lautet die bange Frage.
Bei einem Zusammenschluss mit der Vierländerbörse Euronext wäre die Deutsche Börse einer der großen weltweiten Börsengiganten. Sollten dagegen die Euronext und die New York Stock Exchange (NYSE) zu einer Superbörse fusionieren, droht den Deutschen der Abstieg in die zweite Klasse. „Dann hätte man zwei Giganten gegen sich und würde zu einer 'europäischen Regionalbörse'“, sagt der Sprecher der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz, Jürgen Kurz. Denn mit dem Einstieg der US- Technologiebörse Nasdaq bei der London Stock Exchange (LSE) hatte sich ein Gigant bereits formiert.
Die NYSE bot der Vierländerbörse am Montag für acht Mrd. Euro eine transatlantische Partnerschaft an. „Das wäre ein schlechter Ausgang für die Deutsche Börse, zumal die Frankfurter den anderen schon das Feld in London bereitet haben“, sagte Börsenexperte Wolfgang Gerke am Montag in Anspielung auf den Einstieg der Nasdaq bei der britischen Börse LSE. Im Falle einer Fusion von Euronext und NYSE bestehe die Gefahr, dass die Deutsche Börse langfristig Orders an die Plätze verlieren könnte, die in angelsächsischen Welt größere Bedeutung haben, also London beziehungsweise New York. Allerdings dürften die Franzosen bei einem Zusammenschluss der Vierländerbörse Euronext mit New York nicht mehr viel zu sagen haben. Dies könnte möglicherweise dazu führen, dass Euronext die New Yorker Offerte ablehne, sagte Gerke.
Am Aktienmarkt reagierten die Anleger verunsichert und trennten sich von Titeln der Deutschen Börse. Die Aktie brach um mehr als sechs Prozent ein. Auch die Aktie der Euronext gab in Paris deutlich nach.
Für Analyst Konrad Becker vom Bankhaus Merck Finck ist jedoch noch keine Vorentscheidung gefallen. „Das Rennen ist noch offen“, sagte er. Heiko Frantzen von Sal. Oppenheim ergänzte: „Einer der entscheidenden Punkte wird sein, ob die Hedge-Fonds bei der Hauptversammlung der Euronext am Dienstag geschlossen für eine Fusion mit der Nyse stimmen werden.“ Ein Händler wies darauf hin, dass die Deutsche Börse sehr gut im Markt positioniert sei und daher nicht unbedingt auf eine Fusion angewiesen sei.
Bei einem Zusammenschluss von NYSE und Euronext würde die mit Abstand größte Börse der Welt entstehen. Eine derartige Fusion dürfte nach Einschätzung von Andreas Pläsier, Analyst bei M.M. Warburg, zudem nicht reibungslos über die Bühne gehen. Die Unternehmen müssten sich unter anderem auf eine gemeinsame Handelsplattform einigen. Gerade die New Yorker hätten in der Vergangenheit stark in Informationstechnologie investiert und dürften sich quer stellen, sollten sie ihre Handelsplattform aufgeben müssen. Konfliktstoff sieht Pläsier auch bei den geplanten Kostensynergien von knapp 300 Mill. Euro. Stellenabbau dürfte in diesem Zusammenhang unvermeidlich sein, und vor allem die Franzosen dürften dabei Widerstand leisten.
Die Folgen einer möglichen transatlantischen Fusion für die Deutsche Börse beurteilt Pläsier relativ gelassen. Die Frankfurter müssten die allerdings die Chance nutzen zur Entwicklung neuer Produkte und Kooperationen, in der Zeit, in der NYSE und Euronext mit der Abwicklung des Zusammenschlusses beschäftigt seien.
Dienstag könnte es Entscheidung geben
An diesem Dienstag könnte es eine Entscheidung geben, in welche Richtung es geht. Dann wollen die Aktionäre von Euronext auf ihrer Hauptversammlung in Amsterdam über einen Antrag abstimmen, wonach die Euronext bevorzugt mit der Deutschen Börse über eine Fusion reden würde. Doch das Management der Euronext erteilte dem Antrag vor wenigen Wochen eine Absage – und wollte sich bislang noch alle Optionen offen halten. Die NYSE rechnet jetzt bis spätestens Dienstagabend mit einer Einigung, wie NYSE-Chef John Thain am Montag sagte. Allerdings könnte die Euronext-Führung durchaus auch noch eine weitere Pokerrunde riskieren.
Kurz vor der Aktionärsversammlung legten sowohl die Deutsche Börse als auch die New York Stock Exchange konkrete Angebote vor. Am Freitag sicherte die Deutsche Börse der Euronext eine Fusion unter Gleichen zu. Dies hat für das Management der von Paris aus geleiteten Euronext den Charme, dass nicht eine finanzstarke Börse die Vierländerbörse schluckt, sondern dass eine echte Partnerschaft entsteht, sagt ein Beobachter. Am Montag konterte die NYSE mit einem Angebot aus Bar-Zahlung und Aktienübertragung, das zusammengerechnet acht Mrd. Euro oder etwas über 70 Euro je Euronext-Aktie entspricht - was allerdings im Vergleich zum jüngsten Aktienkurs nicht als sehr attraktiv gilt. Und Euronext würde dann zu einem Ableger der US-Börse, auch wenn sie in Europa viel Eigenständigkeit behalten dürfte.
Möglicherweise steht jetzt ein Bieterwettkampf bevor. „Das treibt die Preise nach oben“, sagt Kurz. Dabei gilt die Deutsche Börse zwar als finanzstark, allerdings ist unklar, wie die großen Anteilseigner darauf reagieren würden. Schließlich hatten sie die ursprünglich geplante Fusion der Deutschen Börse mit dem Londoner Handelsplatz scheitern lassen und stattdessen darauf gedrungen, dass das eingesparte Kapital den Aktionären durch Aktienrückkaufprogramme ausgezahlt wird. Daher ist der aktuelle Kassenbestand nicht mehr sehr hoch.
Einige Analysten, wie etwa von der Privatbank M.M. Warburg, halten daher bereits eine Kapitalerhöhung bei der Deutschen Börse für möglich, um die NYSE mit einem Geldangebot auszustechen. „Wenn die Deutsche Börse zum Zuge kommen will, muss sie über dieses Angebot (der NYSE) hinausgehen“, sagt ein anderer Analyst. Die Märkte sehen den Kampf mit Skepsis: Der Kurs der Deutschen-Börse-Aktie brach am Montag zeitweise um mehr als sieben Prozent auf rund 102 Euro ein, auch das Euronext-Papier gab deutlich nach.
Sollte die Deutsche Börse im Übernahmepoker scheitern, könnte dies auch Auswirkungen auf deren laufende Geschäfte haben. Denn selbst wenn die Deutsche Börse dann Kooperationen mit der Schweiz, Russland und Chicago eingehen würde, wäre ihre Bedeutung geringer als die Bündnisse Euronext/NYSE und LSE/Nasdaq, sagt Kurz. Die Folge: Institutionelle Anleger könnten ihre Büros verstärkt in Paris oder London ansiedeln, die dann beide auch eine transatlantische Ausrichtung hätten.
Ob dies auch Auswirkungen auf die Arbeitsplätze in Frankfurt hat, ist noch unklar. Die Deutsche-Börse-Gruppe allein beschäftigt rund 3000 Mitarbeiter, zahlreiche weitere Stellen etwa bei Banken sind vom Börsenhandel abhängig. Für Privatanleger dagegen dürfte ein Platzen der Fusion nicht viel ändern - der elektronische Xetra-Handel oder der regionale Parketthandel würden wohl unverändert weitergehen. Sollte die Deutsche Börse dagegen mit der Euronext fusionieren, so würde Paris zum Zentrum des Aktien-Handels erhoben, die einzelnen nationalen Handelsplätze aber ebenfalls erhalten bleiben.
HANDELSBLATT, Montag, 22. Mai 2006, 20:14 Uhr
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