Der diskrete Charme des Folterns...

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eröffnet am: 25.02.03 07:40 von: Happy End Anzahl Beiträge: 1
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95441 Postings, 8527 Tage Happy EndDer diskrete Charme des Folterns...

… oder des darüber Spekulierens: Warum sollen wir so lustvoll vom Grenzfall her für den Normalfall raunen?

Sind wir auf dem Rückweg ins Mittelalter - oder im Aufbruch in eine nicht weniger finstere Neuzeit? Wie kommt es, dass wir im Ernst spekulieren über den Einsatz der Folter zur Auspressung von Geständnissen - und sei es "nur", um Entführungsopfer schnell finden zu können?

Dazu eine Erinnerung: Anfang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde die lange zurückliegende Doktorarbeit des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht veröffentlicht. Dieses Konvolut, wäre wohl kaum gedruckt worden, wenn aus dem Doktoranden nicht inzwischen ein prominenter Politiker geworden wäre. Und der Band wäre kaum an- gelesen worden, wenn sich in ihm nicht eine Passage gefunden hätte, in der jener Jung-Wissenschaftler über die Zulässigkeit der Folter spekuliert hatte, natürlich nur rein rechts- philosophisch - und zwar für den Fall, dass ein Verbrecher irgendwo einen Atomsprengsatz versteckt und zu Detonation vorbereitet hätte, einen Sprengsatz, der einen ganzen Landstrich ausrotten würde. Damals gab es einen mächtigen Furor der Abwehr und Ablehnung, und damit war der Gedanke wie das Buch vergessen.

Und heute führt man eine scheinbar ernsthafte Diskussion - nicht über eine theoretische Doktorarbeit, sondern über einen praktischen Vermerk in einer Polizeiakte. (Und dabei will einmal unterstellen, dass auch dieser Vermerk im Grunde nur reine Theorie ist - und nicht etwa schon die Spitze eines Eisbergs der Praxis, von der wir nur noch nichts ahnen.) Das erste, was wir daraus lernen ist: Unser rechtphilosophisches wie rechtspolitisches Immunsystem hat Schaden genommen, wenn man solche Gedankenspiele inzwischen als gedankenlose Sandkastenspiele in der zweiten Führungsebene der Polizei abhält.

Ich lasse mich jetzt nicht ein auf die Erwägungen, ob eine solche Folterdrohung gegenüber einem Täter (oder doch eben nur Verdächtigten, möglicherweise zu Unrecht Verdächtigten!) "sinnvoll" sein kann. Der Unterschied zwischen einem hilfreichen Hinweis und einer gemilderten Strafdrohung einerseits und einer Mordanklage mit lebenslänglich wäre mir offen gestanden als Täter gewichtiger als der notwendige Zahnersatz nach einer Foltertat eines Polizisten. Aber man merkt an dieser Andeutung schon, in welche absurde Erwägungen man eintritt, wenn man solche Gedankenspiele überhaupt anstellt…

Man kann natürlich aberwitzige, äußerst grenzwertige Fallkonstellationen erfinden und an sie die Frage anschließen: Würden Sie in dem genannten Falle dieses oder jenes tun, auch wenn es eigentlich verboten ist? Nichts leichter, als solche Fälle zu ersinnen, in denen fast alles Handeln irgendwie legitim erscheinen kann. Die manifeste Gefahr dieses Denkens besteht darin, dass die Übertragung des Aberwitzigen in den Alltag am Ende unser gesamtes Bewusstsein von den scharfen Grenzen zwischen dem Erlaubten und dem Unerlaubten auflöst - und zwar ohne dass der gedachte absurde Grenzfall jemals eintritt. Man sieht ja schon: Albrechts Doktorarbeit rührte an ein Tabu, das jetzt schon nicht mehr so deutlich wirkt. (Und dabei war doch "sein" Grenzfall noch viel plausibler gewesen, rein philosophisch und hypothetisch…)

Und was würde ich nun machen, wenn in einem bestimmten Fall ein Mann mit… Da sage ich nun: Ich halte mich an Recht und Gesetz, so lange ich kann - und ich spekuliere nicht über den Grenzfall um den Normalfall aus den Angeln zu heben. Und wenn dann der Grenzfall zu kommen scheint, dann handle ich, wie es mir meine Verantwortung gebietet - und nehme die Folgen für mich in Kauf, die das Gesetz für den Normalfall vorsieht: Hier stehe ich, ich konnte nicht anders… Aber eben dann: Konnte! Und nicht (schon) heute: Könnte…

von Robert Leicht für ZEIT.de  

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