Markttechnik
Der Markt sendet verwirrende Signale
Von Mara Der Hovanesian und Roben Farzad
29. Mai 2007 Es gibt die normale „Unsicherheit“, die üblicherweise mit Anlageentscheidungen verbunden ist, und die kosmische Unsicherheit, die ansonsten energische und besonnene Anleger verwirrt und gelähmt zurücklässt. Es hat den Anschein, als würden Gewinnprognosen - die stärkste Triebfeder des amerikanischen Aktienmarktes - nun in das Gebiet kosmischer Unsicherheit vordringen. Wie sollten sich Anleger hierbei verhalten?
Kosmische Unsicherheit entsteht für gewöhnlich in Zeiten der Selbstzufriedenheit - wie sie etwa im Moment zu beobachten ist. Während sich der S&P-500-Aktienindex in der Nähe eines Allzeithochs befindet, scheint der Enthusiasmus der Anleger ungebrochen. Gemessen am Rekordwert der Aktien, die auf Marge gekauft werden, waren Anleger noch nie so aggressiv wie heute. Gründe für ihre Investitionen gibt es viele: stabiles Zinsniveau, fortbestehende Übernahmefantasie, kräftige Aktienrückkäufe der Unternehmen und anhaltend starke Unternehmensgewinne.
„Viele Leute sind ratlos“
Bei letzterem deutet eine zunehmende Anzahl von Indikatoren indes auf größere Unsicherheit hin. Das amerikanische Wirtschaftswachstum schwächte sich im ersten Quartal ab, die Benzinpreise sind im Aufwärtstrend, der Markt für Unternehmensanleihen scheint kurz vor dem Bersten, volatile ausländische Märkte können jederzeit nachgeben und Unternehmen könnten ihre derzeit aggressiven Aktienrückkaufprogramme zurückfahren - wobei jeder dieser Punkte die Gewinne je Aktie auf Talfahrt schicken könnte. „Viele Leute in meiner Position sind ratlos“, sagt William Knapp, Stratege bei MainStay, einer New Yorker Fondsgesellschaft mit einem verwalteten Vermögen von mehr als 35 Milliarden Dollar. „Wir erhalten sehr widersprüchliche Signale. Die Anleger scheinen jedoch in Wolkenkuckucksheim zu leben und davon auszugehen, dass sich die Inflation in Luft auflöst und wir ohne die Möglichkeit einer Rezession oder Finanzkrise zu höherem Wirtschaftswachstum und gesteigerter Unternehmensprofitabilität gelangen werden.“
Die Prognose von Unternehmensgewinnen ist mittlerweile zu einem Extremsport geworden. Zu Jahresbeginn ging man an der Wall Street für das erste Quartal von Gewinnzuwächsen der S&P-500-Unternehmen von neun Prozent aus. Die Malaise auf dem Markt für zweitklassige Hypothekenkredite und die im Februar geäußerte Warnung des früheren amerikanischen Notenbankchefs Alan Greenspan vor einer Rezession 2007 führten jedoch dazu, dass die Analysten ihre Prognosen fleißig überarbeiteten. Innerhalb von wenigen Wochen senkten sie ihre Wachstumsprognosen für das erste Quartal auf klägliche 3,5 Prozent.
Schlechtere Prognosegenauigkeit
Welche Signale geben die Charts? Nachdem mittlerweile 90 Prozent der Unternehmen des S&P-500 ihre Ergebnisse vorgelegt haben, kann man nun sicher sagen, dass die Analysten überreagiert haben. Das Wachstum im ersten Quartal verfehlte die ursprüngliche Schätzung von neun Prozent nur knapp, wobei so unterschiedliche amerikanische multinationale Konzerne wie Schering-Plough, NCR und Coca-Cola die Erwartungen um Längen übertrafen. Bis dato lagen 66 Prozent der Unternehmen über den Erwartungen, 12 Prozent entsprachen ihnen und 22 Prozent blieben dahinter zurück - ein merklicher Abstand zu den historischen Durchschnittswerten von 60, 20 und 20 Prozent. „Wall-Street-Analysten lagen klar daneben“, sagt Ashwani Kaul, leitender Analyst bei Reuters Estimates. „Niemand hat mit einem Wachstum in der Nähe des zweistelligen Bereichs gerechnet.“
Doch neben diesen positiven Ergebnissen gab es auch verwirrende negative Überraschungen, etwa in Gestalt des kalifornischen Telekommunikationsausrüsters JDS Uniphase. Die Analysten erwarteten moderate Gewinne, nachdem sich der Konzern seit Platzen der Internet- und Telekommunikationsblase Anfang des Jahrzehnts auf dem Wege der Besserung befand. Am 2. Mai meldete JDS Uniphase jedoch völlig überraschend einen Nettoverlust von sechs Cent je Aktie für sein drittes Geschäftsquartal und korrigierte seine Schätzungen für das verbleibende Geschäftsjahr 2007 nach unten.
Den Analysten gelingt mit ihren Gewinnprognosen zwar nie eine Punktlandung, die Prognosen sind nach Meinung von Anlagestrategen gegenwärtig jedoch noch unpräziser als üblich. Der größte Unsicherheitsfaktor ist die amerikanische Wirtschaft, die im ersten Quartal mit einem Zuwachs von mageren 1,3 Prozent den niedrigsten Wert der zurückliegenden vier Jahre erzielte. Vor dem Hintergrund ungewöhnlich niedriger Ausfallraten bei Unternehmensanleihen prognostizieren zahlreiche Kreditanalysten einen Ausverkauf am Anleihemarkt, der die Kosten der Mittelaufnahme für viele Unternehmen in die Höhe treiben würde. „Die fetten Jahre sind vorbei“, sagt Mariarosa Verde, geschäftsführende Direktorin bei Fitch Ratings. Als der Kreditzyklus zuletzt im Jahr 2002 drehte, schnellten die Zinsen für spekulative Anleihen mit hohem Ausfallrisiko nach oben, verteuerten die Fremdmittelaufnahme für die anfälligsten Unternehmen und drückten deren Gewinne.
„Hier wedelt der Schwanz mit dem Hund“
Darüber hinaus ist es auch schwieriger geworden, Umsatzprognosen für ausländische Unternehmensaktivitäten zu treffen - ein sich verschärfendes Problem, da die größte Wachstumsdynamik im S&P-500 auf amerikanische multinationale Konzerne zurückgeht. So verkündete etwa General Electric, dass seine im ersten Quartal erzielten Umsätze erstmals zu über 50 Prozent auf Auslandsgeschäfte zurückgingen. Howard Silverblatt, leitender Analyst bei S&P, das wie BusinessWeek zur McGraw-Hill-Gruppe gehört, merkt an, dass viele S&P-500-Unternehmen mehr als 45 Prozent ihrer Umsätze außerhalb der Vereinigten Staaten erwirtschaften. „Aktivitäten, die zehn Prozent zum Gewinn beisteuern, haben bereits bedeutende Auswirkungen“, so Silverblatt. Die Einbeziehung der Währungsschwankungen in die Prognosen ist selbst ohne die längst überfällige Korrektur der volatilen Schwellenländermärkte schwierig genug.
Ein weiterer Punkt sind Aktienrückkäufe, die vielfach vom boomenden Markt für Unternehmensanleihen angeheizt werden. Die Tatsache, dass Unternehmen Fremdkapital aufnehmen, um eigene Aktien zu erwerben, anstatt diese Mittel für ihre Expansion zu verwenden, beunruhigt Mariarosa Verde von Fitch Ratings. „Hier wedelt der Schwanz mit dem Hund“, kommentiert Henry McVey, Chef-Aktienstratege von Morgan Stanley, diese Praxis. Rückkäufe steigern den Gewinn je Aktie durch Verringerung der Aktienanzahl. Wenn die Schwächung von Unternehmensanleihemärkten zur Einschränkung der Aktienrückkaufaktivitäten führt, hätte dies verstärkt negative Auswirkungen auf die Gewinne.
Wie sollten sich Anleger also verhalten? Hugh Moore vom amerikanischen Vermögensverwalter Guerite Advisors hat einen altbewährten Ratschlag für Zeiten kosmischer Unsicherheit parat: risikoreichere Bestände verkaufen, um jüngst erzielte Gewinne zu sichern, und auf größere, Dividenden zahlende Unternehmen in weniger anfälligen Sektoren setzen. Damit ist man gut beraten, bis sich wieder ein klareres Bild abzeichnet.
Text: Business Week Online Bildmaterial: FAZ.NET |