Tokio (Reuters) - Japan steuert immer mehr auf einen atomaren Super-GAU zu.
Die Lage im Atomkraftwerk Fukushima verschlechterte sich weiter. Die Betreiberfirma Tepco meldete am Donnerstag (Ortszeit) Probleme in den bislang von der Katastrophe nicht betroffenen Reaktoren Fünf und Sechs, in denen die Temperatur um das Doppelte angestiegen sei. Derweil drohte der Konzern den Kampf um die schwerbeschädigten Reaktoren Drei und Vier zu verlieren. In einem verzweifelten Wettlauf mit der Zeit versuchten die wenigen verbliebenen Arbeiter das Schlimmste zu verhindern. Die IAEA nannte die Lage in dem 240 Kilometer nördlich von Tokio gelegenen Komplex "sehr ernst". Sie sei aber noch nicht außer Kontrolle.
Die Schäden am Kern dreier Reaktoren seien bestätigt, teilte die Internationale Atomenergiebehörde IAEA in Wien mit. Behördenchef Yukiya Amano äußerte die Hoffnung, sich am Donnerstag in Japan an Ort und Stelle ein Bild machen zu können. Amano kritisierte die Informationspolitik aus Tokio, die umfassender und schneller sein müssten.
EU-Energiekommissar Günther Oettinger warnte vor katastrophalen Ereignissen in Fukushima, die innerhalb weniger Stunden eintreten könnten. Das Kraftwerk sei faktisch außer Kontrolle. Eine Sprecherin sagte später, die Äußerungen Oettinges beruhten nicht auf besonderen Informationen, sondern auf Medienberichten. Er habe nicht von einer bevorstehenden Katastrophe gesprochen, sondern lediglich seine Ängste geäußert.
Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte die Lage "sehr, sehr ernst". Das Auswärtige Amt verschärfte seine Reisewarnung. Es empfiehlt nun allen Deutschen, die Region um Fukushima und den Ballungsraum Tokio/Yokohama vorübergehend zu verlassen. Die Deutschen sollten nach Osaka ausweichen oder über Osaka ins Ausland weiterreisen. Bisher hatte das Auswärtige Amt lediglich dazu geraten zu prüfen, ob ein Aufenthalt in der Gegend weiter erforderlich ist.
WASSERWERFER SOLLEN REAKTOR KÜHLEN
Besorgte Worte kamen auch aus Russland. "Unglücklicherweise entwickelt sich die Lage nach den schlimmsten Annahmen", sagte Sergej Kirijenko, dem die militärischen und zivilen Atomanlagen aus Sowjet-Zeiten unterstehen. Das russische Außenministerium will von Freitag an die Angehörigen von Diplomaten ausfliegen.
Am Katastrophenort räumten Arbeiter im Wettlauf mit der Zeit Schutt beiseite, um der Feuerwehr einen Weg zum Reaktor Vier des Kraftwerkskomplexes Fukushima zu bahnen. Wie verzweifelt die Lage ist, belegten Planungen der Polizei, Wasserwerfer zur Kühlung einzusetzen. Auch Soldaten sollen helfen. Die Lage in dem in Brand geratenen Meiler sei "nicht so gut", räumte der Betreiber ein.
Priorität hat nach Angaben des Betreibers Tepco jedoch der Reaktor Drei, dessen Dach durch eine Explosion beschädigt wurde und aus dem zeitweise Dampf entwich. Hubschrauber konnten die Anlage wegen der hohen Strahlung nicht aus der Luft mit Wasser kühlen. Tepco kündigte inzwischen einen neuen Helikopter-Einsatz an. Reaktor Drei verwendet auch das hochgiftige Plutonium als Brennstoff. Das extrem krebserregende Schwermetall hat eine Halbwertzeit von 24.110 Jahren.
Experten zufolge kommen die Bemühungen zur Eindämmung der Katastrophe einem letzten verzweifelten Versuch gleich. "Das ist ein langsam ablaufender Alptraum", sagte der Physiker und Plutonium-Experte Thomas Neff vom Massachusetts Institute of Technology. "Die scheinen das Handtuch geworfen zu haben", kommentierte der langgediente Kraftwerks-Ingenieur Arnie Gundersen den Umstand, dass die Zahl der im AKW eingesetzten Arbeiter von 800 auf 50 verringert wurde. So bekomme man die Lage nicht in den Griff.
Kaiser Akihito rief die Japaner in einer seiner seltenen Fernsehansprachen zur Solidarität mit den Überlebenden von Erdbeben und Tsunami auf. Offiziell bestätigt wurde der Tod von 4000 Menschen, 7000 sind verschollen. Ein nächtlicher Kälteeinbruch verschlimmerte die Lage der Hunderttausenden Obdachlosen. Viele litten unter Durchfall und anderen Krankheiten. |