In der Debatte rund um Wirecard taucht immer wieder eine scheinbar einfache Logik auf: „Nur weil andere Firmen auch so arbeiten, heißt das nicht, dass es richtig ist. Und Wirecard hätte man deshalb nicht durchkommen lassen dürfen.“
Auf den ersten Blick klingt das schlüssig. Doch dieser Satz verfehlt das eigentliche Thema – und verschiebt den Rahmen der Diskussion.
Denn das sogenannte Drittpartnergeschäft, das der Kernvorwurf in der Anklage gegen Markus Braun ist, war kein einmaliges Wirecard-Konstrukt, sondern ein gängiges Geschäftsmodell in der Zahlungsdienstleistungsbranche – vor allem im Bereich sogenannter High-Risk-Märkte, etwa Online-Gaming, Erotikdienste, Reisebuchungen oder digitale Güter. Der Grund ist simpel: Viele PSPs (Payment Service Provider) verfügten nicht über eigene Banklizenzen in jedem Markt oder wollten regulatorische Risiken auslagern. Also arbeiteten sie mit lokalen Partnern, die als Händler auftraten, während der technische Teil – also Abwicklung, Clearing, Risikomanagement – beim PSP lag. Dieses Modell war nie verboten, sondern gelebte Praxis – solange es offen kommuniziert und korrekt bilanziert wurde.
Es stimmt also: Nur weil andere Firmen so arbeiten, ist es nicht automatisch richtig. Aber die bloße Nutzung dieses Modells ist kein Hinweis auf kriminelles Verhalten. Entscheidend ist, ob die angegebenen Umsätze tatsächlich existierten, ob das Geld floss und ob die bilanziellen Posten wie Forderungen oder Treuhandguthaben korrekt dargestellt waren.
Wenn nun behauptet wird, Wirecard habe dieses Modell „erfunden“, um Umsätze vorzutäuschen, dann muss man sich der Tatsache stellen, dass dieses Modell ab 2007 dokumentiert, von Wirtschaftsprüfern testiert und von Analysten verstanden wurde. Es war nicht geheim, sondern Teil des erklärten Geschäftsmodells. Und wenn es Missbrauch gab – etwa durch fingierte Partner oder gefälschte Kontosalden – dann wäre das eine Frage der Beweisführung, nicht der Behauptung. Bis heute aber liegt kein eindeutiger Beweis vor, dass das Geschäft vollständig erfunden war.
Daher ist es irreführend, zu sagen, man hätte Wirecard „nicht durchkommen lassen“ dürfen – denn das setzt voraus, dass schon damals eindeutig klar war, dass etwas kriminell war. In Wahrheit geht es um eine rückwirkende Neubewertung eines Modells, das jahrelang akzeptiert wurde – und das ist nicht automatisch Fälschung, sondern im schlimmsten Fall ein kollektives Versagen der Kontrolle.
Was in der Debatte auffällt, ist ein rhetorischer Trick: Sobald ein Argument widerlegt ist – etwa die Behauptung, es habe das Drittpartnergeschäft nie gegeben –, wird das Ziel verschoben. Statt diese Widerlegung ernst zu nehmen, stellt man plötzlich neue Behauptungen auf: „Aber die Bilanzen waren überhöht“, „Aber die Konten waren nicht belegt“, „Aber Braun hätte es wissen müssen“. Dieses ständige Verschieben des Zielpfostens nennt man im Argumentationsumfeld „Shifting the Goalposts“: Man beginnt mit einer klaren Behauptung, doch sobald diese angezweifelt oder widerlegt wird, verschiebt man stillschweigend die Diskussion zu einem anderen Vorwurf – ohne die erste These wirklich aufzugeben.
Das ist keine Aufklärung, sondern Diskursvermeidung.
Deshalb: Wer ernsthaft zur Wahrheit beitragen will, sollte endlich konkret auf die Widerlegungen der zentralen Vorwürfe eingehen – statt ständig neue Varianten nachzuschieben, sobald sich die alten nicht halten lassen.
Das gilt in dieser Diskussion hier sowohl für die Verschwörungstheoretiker mit unappetitlichem Rechtsdrall, die ihren braunen Mist ständig neu verrührt über die höchst komplexe Wirecardgeschichte stülpen, ohne jemals tausendfach widerlegte Thesen zu korrigieren (und dann auch noch gackern, sie hätten alles von Anfang an richtig gesagt, was so absurd ist, dass man es kaum diskutieren muss) als auch für diese seltsamen Kreaturen, die regelmäßig Thesen aufstellen, dann wieder sagen, man müsse doch gar nicht mehr diskutieren und dann niemals auf eine einzige Widerlegung eingehen.
Diese Diskussion sollte tatsächlich geschlossen werden. Weil es keine Diskussion ist, sondern ... ich weiß nicht, wie man es nennen soll... |