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Gleichzeitig gilt: Je länger junge Muslime in Österreich leben, desto größer wird die Zustimmung zu Demokratie und Rechtsstaat. Religion spielt im Alltag junger Muslime eine deutlich größere Rolle als in jenem von Nichtmuslimen. Vor allem Jugendliche aus Afghanistan, Syrien und Tschetschenien weisen eine sehr hohe Religiosität auf und geben an, in den vergangenen drei Jahren noch religiöser geworden zu sein.
Diese drei Gruppen sind es auch, die am häufigsten Diskriminierungen ausgesetzt sind – zumeist in der Schule, bei der Arbeit oder Arbeitssuche. Für die Hälfte der Afghanen stehen die Vorschriften des Islam über den Gesetzen in Österreich. Das sind die wichtigsten Ergebnisse einer Befragung von rund 700 in Wien lebenden Männern und Frauen zwischen 14 und 24 Jahren mit afghanischem, syrischem, tschetschenischem, türkischem, kurdischem, bosnischem sowie ohne Migrationshintergrund. Die Befragung, die im Auftrag des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) unter der Leitung des Soziologen Kenan Güngör (think.difference) in Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut Sora durchgeführt wurde, fand im Frühling und Sommer 2018 statt mit dem Ziel, Erkenntnisse über Zugehörigkeitsempfinden, demokratische Grundhaltungen sowie abwertende und gewaltlegitimierende Einstellungsmuster unter jungen Muslimen zu gewinnen. Die Kernaussagen des Forschungsberichts Die familiäre Erziehung sowie das soziale Umfeld sind – unabhängig von den Herkunftsländern – die wichtigsten Faktoren für antidemokratische und abwertende Haltungen unter jungen Muslimen. Auch die psychosoziale Verfassung und eine strenge Religiosität haben enormen Einfluss darauf. „Wir kennen also die Hebel, an denen wir ansetzen können“, sagt Güngör. Vor allem die Eltern der Jugendlichen sollten eingebunden werden, sie seien aber gleichzeitig am schwierigsten zu erreichen. Eine der positiven Erkenntnisse des Forschungsberichts: Mit zunehmender Aufenthaltsdauer in Österreich sinken demokratiefeindliche Einstellungen. Haltung junger Muslime zu Demokratie und Grundrechten Demokratie als Staatsform findet in allen Gruppen eine sehr hohe Zustimmung. Die Zustimmung zur Demokratie erreicht zwischen 75 (Afghanen) und 100 Prozent (Bosnien). 82 bis 99 Prozent sind sehr oder ziemlich froh, in einer Demokratie zu leben. Je länger sie in Österreich leben, desto höher ist diese Quote. Die überwiegende Mehrzahl der jungen Muslime lehnt Autokratie in Form eines Führers, der sich keinen Wahlen stellen muss, ab – außer Afghanen. 47 Prozent von ihnen befürworten einen starken Führer sehr und 25 Prozent ziemlich. Bei Syrern liegt die Zustimmung bei 29 Prozent („sehr“ plus „ziemlich“), unter jungen Menschen ohne Migrationshintergrund bei zehn Prozent. Fast alle Befragten haben Respekt vor Ordnung und Gesetzen bzw. befürworten Rechte wie Gleichheit, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Unter jungen Muslimen aus Tschetschenien fällt diese Zustimmung mit 84 Prozent am geringsten aus. Religiosität sowie das Verhältnis von Religion und Staat Im Alltag junger Muslime spielt die Religion eine größere Rolle als in jenem von Nichtmuslimen. Dabei gilt grundsätzlich: Je höher die Bedeutung der Religion, desto negativer die Einstellung zur Demokratie. Besonders religiös sind Afghanen (72 Prozent) und Syrer sowie Tschetschenen (je 69 Prozent). Diese drei Gruppen wurden in den vergangenen drei Jahren noch gläubiger. 39 Prozent der muslimischen Männer finden, dass Musliminnen ein Kopftuch tragen sollten, aber nur 26 Prozent der Frauen sind dieser Meinung. Für die Hälfte der Afghanen stehen die Vorschriften ihrer Religion über den Gesetzen in Österreich, wobei gleichzeitig 70 Prozent von ihnen angeben, dass für sie sowohl die heimischen Gesetze als auch die Regeln des Islam Gültigkeit haben. Fast die Hälfte ist zudem der Meinung, dass ein religiöser Gelehrter an der Spitze eines Landes stehen soll. Angaben, die auf den ersten Blick wie ein Widerspruch wirken, deuteten in Wahrheit auf einen „Veränderungsprozess“ hin, sagt Martina Zandonella vom Sora-Institut. Die Betroffenen würden zwischen den Stühlen sitzen – auf der einen Seite Regeln und Gesetze, die sie aus ihrem Herkunftsland kennen und mit denen sie auch gute Erfahrungen gemacht haben, auf der anderen die Demokratie in Österreich, deren Vorzüge sie ebenfalls schätzen, an die sie sich aber erst gewöhnen müssten. Zandonella spricht in diesem Zusammenhang von „Mehrfachidentitäten“, die nichts Ungewöhnliches seien. Abwertende Haltungen und Legitimation von Gewalt Gegenüber Juden, Homosexuellen und Frauen ist die Ablehnung unter Muslimen am stärksten. Die Hälfte der Afghanen und Syrer sowie vier von zehn Türken und Tschetschenen lehnen Homosexualität ab. Unter bosnischen und kurdischen Menschen sind es ein Drittel, bei Österreichern 15 Prozent. Religiös bedingten Antisemitismus äußern zwei Drittel der Bosnier („Juden haben zu viel Einfluss auf der Welt“) und Afghanen („Juden sind der Feind aller Muslime“) sowie vier von zehn Türken und Tschetschenen. Unter Kurden und Menschen ohne Migrationshintergrund fällt die Zustimmung zu diesen Aussagen geringer (zwischen null und 21 Prozent) aus. Das Verhältnis von Mann und Frau wird vielfach in traditionellen Rollenbildern gesehen – allerdings mit großen Unterschieden innerhalb muslimischer Gruppen. Dass in einer Familie der Mann alle größeren Entscheidungen treffen sollte, denken drei Viertel der Afghanen, aber nur 16 Prozent der Bosnier. Die Mehrheit der Türken (61 Prozent) und Bosnier (76 Prozent) wiederum ist der Meinung, es sei für einen Mann peinlich, wenn seine Frau mehr verdient als er. Unter jungen Österreichern sind Abwertungen gegenüber Muslimen mit 27 Prozent am weitesten verbreitet. Fast alle Muslime lehnen Gewalt grundsätzlich ab, nur auf Tschetschenen trifft das mit 73 Prozent weniger zu. Auch für mehr als die Hälfte der Afghanen ist Gewalt ein legitimes Mittel zur Herstellung von Ehre und Respekt gegenüber sich selbst und ihrer Religion. Familiärer Hintergrund und aktuelle psychische Verfassung Afghanen, Syrer und Tschetschenen kommen eher aus religiös und traditionell geprägten Familien als andere Muslime. Fast die Hälfte der Afghanen hat Gewalt in der Familie erlebt, aber nur sieben Prozent der Bosnier und 20 Prozent der Österreicher. Afghanen geben auch am häufigsten (mehr als 50 Prozent) an, keine Vertrauensperson zum Reden zu haben und dass ihnen Ziele im Leben sinnlos erscheinen, da ihre Zukunft unsicher sei. |