Das Schweigen von Türkheim

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8215 Postings, 8743 Tage SahneDas Schweigen von Türkheim

DER SPIEGEL 19/2004 - 03. Mai 2004
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Verbrechen
 
Das Schweigen von Türkheim

28 Jahre lang soll ein gefeierter Musical-Komponist aus dem Allgäu Mädchen sexuell missbraucht haben. Viele in seinem Heimatort redeten darüber, doch niemand ging zur Polizei.

Klaus Ammann: Er holte die große Welt an der Ammersee
GroßbildansichtDDPKlaus Ammann: Er holte die große Welt an der Ammersee
Die Ära Klaus Ammann ging mit einem Abendessen zu Ende. Kurz vor Weihnachten saß Peter Ostler, Inhaber eines kleinen Outdoor-Ladens im Marktflecken Türkheim im Allgäu, bei Freunden am Tisch, und man sprach wieder über die alte Geschichte: dass sich der ehemalige Musiklehrer des Gymnasiums an kleinen Mädchen vergriffen haben soll, dass sich niemand traut, etwas zu sagen, und dass nun eine 14-Jährige schon seit sieben Monaten in einer psychosomatischen Klinik behandelt werden muss.

Peter Ostler, 39, fuhr durch die Nacht und dachte: "Jetzt reicht's!" Wenig später betrat der junge Mann, den die Türkheimer einen "Alternativen" nennen, das Jugendamt. Von dort telefonierte er mit der Polizei und lenkte die Aufmerksamkeit der Ermittler auf Gerüchte, die seit fast 30 Jahren im Ort kursieren.

Ostlers Anruf beendete auch den steilen Aufstieg des Musikpädagogen, Big-Band-Leaders und Musical-Komponisten Klaus Ammann. Denn Ammann, 54, blond, jugendlich, war der Star des westlichen Ammersees. Er schuf mit "2000 Jahre Jesus" und "Salzsaga" populäre Musiktheater, tourte mit seiner jungen Band durch Europa, gab Gastspiele in den USA. Ammann holte die Welt nach Türkheim.

Der Orchesterchef duzt sich mit politisch Wichtigen der Region, bekam einen bayerischen Orden und schuf die Hymne zum 60. Geburtstag von Ministerpräsident Edmund Stoiber. Der halbe Ort spielte auf seiner Bühne. Ein Mann, den man nicht anklagt, dem jeder glaubt. Verheiratet, zwei Söhne, geordnete Verhältnisse.

Nun sitzt Ammann in Haft, ihm wird Vergewaltigung und sexueller Missbrauch von Minderjährigen und Schutzbefohlenen vorgeworfen, einige der Schülerinnen sollen unter 14 Jahren gewesen sein. "Es geht", sagt ein Ermittler, "um einen Zeitraum von 28 Jahren." Der Komponist hingegen nennt die Sache eine Lynchjustiz, "eine dermaßene Sauerei, die alles in den Schatten stellt".

Ähnlich denken, immer noch, viele gesetzestreue Bürger in Türkheim. So eine Schande darf es nicht geben in einem Ort, in dem Bayern am bayerischsten ist. Inmitten von Seen, saftigen Wiesen und unter dem weiß-blauen Himmel war die Welt mehr als heil.

Die katholische Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt ist an einem gewöhnlichen Dienstagmorgen ziemlich voll, wenn die Glocken zum Hausfrauen-Gottesdienst läuten. Aber auch die Frommen haben geschwiegen, als Pfarrer Bernhard Hesse kurz vor dem Weihnachtskonzert, das der Musiker gibt, Ammann nicht in der Kirche haben wollte. Warum, das sagte der Pfarrer nicht.

Vermutlich wollte es auch niemand so genau wissen in Türkheim. "Wir dachten, der ist krank", murmeln die Frauen. Doch dann sind einige plötzlich "erleichtert, dass jetzt alles aufkommt".

Unweit der Kirche beherbergt ein geducktes gelbes Haus den Friseursalon und die Lotto-Annahmestelle, das ist in der Provinz der Marktplatz der Neuigkeiten.

Hier wurde viel geredet über die Vorlieben des Musiklehrers Ammann für junge Mädchen, jahrelang. Wohl auch über jene 14-Jährige, die Trompete lernte und schon 1979 ihrem Lehrer zum Opfer gefallen sein soll. Dass man damals dem Vater ausgeredet habe, zur Polizei zu gehen. Wegen der Schande, die so etwas mit sich bringt, und was die bedeute für ein Kind. Jeder, der hier lauschte, hätte eingreifen müssen. Aber jetzt sind das für die Friseurbesucher auf einmal nur Gerüchte - was ist, wenn die nicht stimmen?

Niemand wollte und will schuld sein, wenn das verschlafene Türkheim, das Ammann so viel verdankt, wieder in der Bedeutungslosigkeit versinkt. Wohl auch nicht der Handwerksmeister, der vor gut 15 Jahren seine Tochter rächen wollte und Ammann vorgeworfen haben soll, er habe sich im Auto an dem Kind vergangen, auf der Heimfahrt von einer Weihnachtsfeier. Den, sagen Bandmitglieder, habe der Bandleader bequatscht, der Mann sei wieder abgezogen.

"Schmutzkampagne" nennt Ammann solche Berichte gegenüber der Lokalzeitung. Natürlich habe er seine Weibergeschichten gehabt, da brauche er nichts zu beschönigen. Aber: "Ich hatte nie was mit Kindern. Mit Mädchen unter 14 bin ich nie ins Bett gegangen." Möglicherweise mit einer Ausnahme, die etwa 25 Jahre zurückliege. Ob das Mädchen damals 14 gewesen sei, wisse er nicht mehr genau. Doch das sei sicher verjährt.

Die anderen Partnerinnen seien volljährig gewesen, "also über 16". Wie viele über 14, aber unter 18 waren, darüber müsse er erst nachdenken. "In 30 Jahren ist viel passiert."

In Klaus Ammanns Big Band, die vor allem aus Gymnasiasten besteht, tuschelten die jungen Musiker jedoch seit langem über Details. So habe Ammann ein ganz festes "Beuteschema" gehabt: "Wenn ein Mädchen groß, schlank und dunkelhaarig war, war es extrem gefährdet." Mit dem Versprechen einer Gesangs- oder Musikkarriere, erzählen sie, soll er den Schülerinnen Einzelunterricht empfohlen haben. Die Übungsstunden allerdings sollen für manche die Hölle gewesen sein.

Zeugen sprachen gegenüber den Ermittlern von vielen Varianten der vermeintlichen Übergriffe. Mehrmals soll der Pädagoge beim Klavierunterricht mit offener Hose in erregtem Zustand hinter den Mädchen gestanden haben, bei Atemübungen im Gesangsunterricht sei seine Hand häufig vom Bauch zum Busen gewandert. Andere, darunter eine 16-Jährige, bezichtigen Ammann der Vergewaltigung.

Die Polizei erklärte nach einer Hausdurchsuchung, man habe zahlreiche selbst gedrehte Videobänder gefunden "mit eindeutig pornografischem Inhalt". Ammann habe den Missbrauch der Mädchen "an mehreren Tatorten" gefilmt. Doch auch das reicht den Türkheimern nicht, die Aussagen der Mädchen zu glauben.

Verärgert sind dafür viele über Peter Ostler, den Einzigen, der das Schweigen nicht ertragen konnte. Schon am Tag nach seinem Gespräch bei der Kriminalpolizei wusste jeder, "der Ostler hat geredet". "Die Leute kamen ins Geschäft, schauten neugierig rum und gingen wieder", sagt Ostler, sein Umsatz sank in diesen Tagen. Wenn er eine Kneipe betrat, verstummte das Gespräch, viele drehten sich weg.

Denn was immer Ammann anfasste in dem Ort, es waren "Highlights erster Klasse", wie der Direktor des Gymnasiums, Folkhart Glaser, schwärmt. Das begann schon 1980, als der Stürmer Klaus Ammann den SV Salamander Türkheim in die Fußball-Landesliga bombte. "Der hätte in der Bundesliga spielen können", lobt sein Teamkollege Silverius Bihler, heute Bürgermeister. Doch Ammann habe lieber bei einem Orgelbauer arbeiten wollen, habe sein Abitur in Abendkursen nachgeholt.

Später, als die großen Musical-Aufführungen Tausende nach Türkheim lockten, als der Schuldirektor den Herodes geben durfte und der Bürgermeister ein Teil vom "Volk" war, da habe man von Frauengeschichten gehört, sicher. "Aber doch nur mit solchen über 20".

Beim Friseur allerdings, da hat Bihler im vergangenen Herbst auch vom angeblichen Missbrauch einer Schülerin erfahren. Ein Fall, der, laut Direktor Glaser, "keine besondere Dimension" hatte. "Die Hand", so Glaser, "war an einer Stelle, wo sie nicht hingehört." Erst als die Eltern des Mädchens in der Schule vorstellig wurden, informierte der Direktor das Kultusministerium. Obwohl Ammann den Vorfall bestritt, begann eine dienstrechtliche Prüfung.

Just da entschied sich der Lehrer, den Schuldienst zu quittieren. Die Arbeit an der "Salzsaga" laste ihn aus, gab er an. Glaser spricht von einer "zeitlichen Verquickung", das Ausscheiden Ammanns habe mit dem Vorwurf nichts zu tun. Für die Schule und für das Ministerium war die Sache erledigt. Zur Polizei ging niemand, auf Wunsch der Eltern, wie es heißt.

Das ist nur einer der Fälle, die den ermittelnden Krumbacher Polizeichef Walter Böhm zornig machen. "So was", sagt Böhm, "ist ein Offizialdelikt. Das muss zur Polizei, es geht doch um künftige Opfer!"

Schulleiter Glaser klagt, die Verhaftung Ammanns habe ihm "den Boden unter den Füßen weggezogen". Er fühle sich wie eine betrogene Ehefrau, die als Letzte alles erfahre: "Ich gehe ja nicht zum Friseur in Türkheim." Er hätte 1990 - Glaser war damals Konrektor - nur die Abiturzeitung lesen müssen: Es sei, schreibt eine Schülerin darin, nicht jederfraus Sache gewesen, angesichts der "aus dem Instrumentalunterricht bekannten Tatsachen" einen Grundkurs bei Ammann zu belegen und sich "von einem (Jazz-)geilen Bandleader betatschen zu lassen".

Der Artikel hatte keine merklichen Folgen. "Niemand hat darüber gesprochen", sagt die junge Frau heute.

Walter Böhm hat jetzt die Ermittlungsgruppe Ammann aufgestockt. Immer noch melden sich Frauen, die teilweise mittlerweile selbst Mütter von Teenagern sind. Viele von ihnen haben ihrer neuen Familie das Martyrium verschwiegen - und trauen sich auch heute kaum, darüber zu sprechen.

Die Polizei spricht von einem wahnsinnigen psychischen Druck, den Ammann auf die Mädchen ausgeübt habe. Die Auswertung der Videos zeige, dass bei den sexuellen Handlungen von Einverständnis keine Rede sein könne. Der Musiklehrer soll sich vor allem in einem Probenkeller der Schule und in einem privaten Studio an den Schülerinnen vergriffen haben.

Ammanns Anwalt Peter Witting versichert, er habe von Videoaufnahmen keine Kenntnis. Im Haftbefehl gehe es nur um ein Mädchen, und das sei 16 gewesen. Aber auch dieser Fall werde von seinem Mandanten bestritten. Polizeichef Böhm will die Ermittlungen, die drei Jahrzehnte verhindert wurden, mit Hochdruck führen: "Die Frauen müssen endlich die Chance bekommen, das aufzuarbeiten."

CONNY NEUMANN

 

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