Milzbrand: Unsichtbare Gefahr Von Michael Streck, Washington
Zwei Milzbrand-Fälle in Florida schüren die Angst vor weiteren Anschlägen - und bescheren Biotech-Unternehmen neue Aufträge.
Robert Stevens wurde mit Verdacht auf Meningitis ins Krankenhaus eingeliefert. Drei Tage später, am vergangenen Freitag, starb der 63-Jährige Boulevard-Fotograf. Befund: Milzbrand - das erste Opfer des Anthrax-Bakteriums in den USA seit 1976. Es sei ein "isolierter Fall", beruhigten die Behörden zunächst. Mit Terrorismus habe dies nichts zu tun.
Am Montag - wenige Stunden nach dem Beginn der US-Militärschläge - dann die Hiobsbotschaft: Der 73-jährige Ernesto Blanco, ein Mitarbeiter des Fotografen, sei mit Spuren des Erregers im Atem in ein Krankenhaus eingeliefert worden, teilten die Gesundheitsbehörden in Florida mit.
Inzwischen ist das Gebäude des American-Media-Verlags in Boca Raton, in dem Stevens und Blanco arbeiteten, versiegelt worden. 700 Personen werden auf eine Infektion getestet. "Wir unternehmen alles, um die Herkunft des Bakteriums schnell zu identifizieren", versichert das FBI. Die Fahnder sind alarmiert: Einige der Attentäter vom 11. September sollen in Florida gelebt und sich dort über Flugzeuge informiert haben, mit denen Mittel zur Schädlingsbekämpfung versprüht werden.
Das Zentrum für Krankheitskontrolle und Prävention (CDC) hat inzwischen ausgeschlossen, dass die Bakterien auf natürlichem Wege in das Gebäude gelangt sind. Justizminister John Ashcroft hält einen terroristischen Hintergrund für möglich.
Schon in den vergangenen Wochen hatten Amerikaner über mögliche Terrorakte mit biologischen oder chemischen Waffen spekuliert; selbst der Verteidigungsminister warnte vor Vergeltungsaktionen. Jetzt hat die diffuse Angst vor der unsichtbaren Gefahr neue Nahrung erhalten - und Biotech-Unternehmen einen neuen Auftrieb verliehen. In den kommenden Monaten, sind sich Experten sicher, werden die Budgets für die Erforschung neuer Impfstoffe und Medikamente stark aufgestockt.
Anthrax-Erreger unter dem Mikroskop So lange wollen viele nicht warten. In Graig Bakers Army-Shop im New Yorker Stadtteil Bronx gehen seit dem 11. September rund hundertmal so viele Gasmasken über den Ladentisch wie zuvor. "Leute rufen mich sogar nachts an, weil sie unbedingt eine brauchen", sagt der Inhaber. Das Antibiotikum Cipro, das gegen Milzbrand schützen soll, ist in vielen Apotheken ausverkauft. Ärzte und Notfall-Stationen können sich vor Anfragen kaum retten.
"Man riecht nichts, schmeckt und sieht nichts", beschreibt Alan P. Zelicoff von den Sandia National Laboratories in New Mexico einen möglichen Angriff mit biologischen oder chemischen Stoffen. Die Symptome zeigen sich erst später: Fieber, Schmerzen, Ausschlag. Manchmal kann es drei Tage dauern, bis die Krankheit ausbricht, etwa bei der Infektion mit Pockenviren.
Trotz einer Gefahr halten die meisten Experten solche Attacken allerdings für eher unwahrscheinlich: Um genügend Erreger zu produzieren und sie unter die Bevölkerung zu bringen, müssten Terroristen über technisch aufwändige Labors in der Nähe des Anschlagsortes verfügen. "Es ist mit etlichen anderen Methoden einfacher, große Menschenmengen umzubringen", sagt Zelicoff.
Am einfachsten lassen sich Milzbrand-Erreger, die über Hautkontakt, Nahrung oder durch das Einatmen der bakteriellen Sporen übertragen werden, als B-Waffen einsetzen. Rund 80 Prozent der Fälle führen dabei zum Tod. "Es ist ein recht stabiles Bakterium, das sich auch in der freien Natur findet und von mehreren Staaten zum Waffenbau benutzt wurde", sagt Kenneth W. Bernard vom staatlichen Gesundheitsservice. "Die Technologie ist bekannt und verfügbar."
Weitreichende Folgen
Experten im Pentagon haben in Planspielen mögliche Szenarien für biologische Angriffe entworfen. Sollten Terroristen Milzbrand-Sporen in U-Bahn-Stationen oder auf Straßen von New York versprühen, könnten innerhalb von einer Woche 140.000 Menschen sterben und Zehntausende schwer erkranken.
Würden Pockenviren in drei US-Großstädten freigesetzt - so das Szenario der Denkfabrik Center for Strategic and International Studies (CSIS), die im Juli einen Anschlag simulierte -, hätte sich das Virus binnen drei Monaten über 25 US-Bundesstaaten und 15 andere Länder verbreitet. Rund eine Million Menschen, so die Prognose, wären in dieser Zeit bereits ums Leben gekommen.
Für Clarence James Peters ist das Pocken-Virus der gefährlichste Einzelstoff. Der Wissenschaftler arbeitet als Virologe an der Universität von Texas und war früher Chef der Pathologie-Abteilung im bundesstaatlichen Zentrum für Krankheitskontrolle und Prävention in Washington.
Pocken verbreiten sich rasch und können ein Drittel der Infizierten töten, zumal es in den USA keine Routine-Impfung mehr gibt; seit Ende der 70er Jahre gilt die Krankheit als ausgerottet. Die vorhandenen Impfstoff-Bestände würden nicht ausreichen, um eine große Zahl Infizierter zu behandeln. Als Vorsichtsmaßnahme will die US-Regierung in den kommenden drei Jahren 40 Millionen Dosen Pocken-Impfung bereitstellen.
Im Gegensatz zu biologischen Substanzen ist chemisches Nervengas bislang der einzige Stoff, der bei Angriffen Menschenleben gekostet hat. In den 90er Jahren führte die japanische Sekte Aum mehrere Anschläge aus - der berüchtigtste 1995 in der Tokioter U-Bahn. Damals tötete das Nervengas Sarin zwölf Menschen und verletzte mehr als Tausend. Die Sekte verfügte über eine dreistöckige Chemiefabrik und produzierte neben Sarin auch Milzbrand-Bakterien.
Gefahr ist gering
"Die Chance eines großen Angriffs mit biologischen oder chemischen Waffen, dem Zehntausende Menschen zum Opfer fallen, ist dennoch sehr gering", sagt Zelicoff. Allerdings reichten schon wenige Kranke, um Panik und Verunsicherung zu erzeugen. "Zwei bis drei Fälle von Milzbrand in Downtown Washington oder New York wären dafür genug."
Auftrieb gibt die neu aufgekommene Angst der Biotechnologie-Branche. Der Verband Biotechnolgy Industry Organization (BIO) rechnet mit deutlich steigenden Staatsausgaben für die Forschung. "Das Interesse der Regierung in Washington an der Forschung ist sprunghaft gestiegen", sagt Brent Erickson von BIO. Aus allen Richtungen kämen Anfragen: vom Verteidigungs-, Gesundheitsministerium und vom Kongress. Das Budget zur Bekämpfung biologischer Anschläge werde steigen.
Aussichtsreiche Projekte
Nutznießer gäbe es genug. Hunderte kleine und mittlere Firmen forschen, wie man sich vor biologischen Kampfstoffen schützen kann. Das kalifornische Unternehmen GeneSoft beispielsweise arbeitet an einem Antibiotikum, das Milzbrand, Pocken und andere Krankheiten bekämpfen soll. "Wir haben neuartige Moleküle, die die Gene der Erreger so verändern, dass sie sterben oder sich zumindest nicht mehr vermehren", erklärt Vorstandschef David Singer. Das Projekt wird vom Verteidigungsministerium gefördert. Nach aktuellem Stand käme das Mittel voraussichtlich in drei bis fünf Jahren auf den Markt. "Jetzt hoffen wir, dass es schneller geht." Seit den Anschlägen diskutiert das Ministerium mit der 70-Mann-Firma, wie sich die Forschung beschleunigen lässt.
Als ebenfalls aussichtsreich gelten die Projekte von EluSys aus New Jersey. Ihre Forschung basiere auf Antikörpern, die wie ein doppelseitiges Klebeband toxische Substanzen an rote Blutkörperchen heften, erläutert Präsident und CEO Stephen Sudovar. So könnten binnen weniger Stunden Gifte oder Erreger aus dem Blutkreislauf entfernt werden. Noch arbeitet EluSys ohne Staatsgelder an einem Mittel gegen Milzbrand - doch das könnte sich demnächst ändern. Die Gespräche laufen bereits.
Eine bessere Diagnose wollen Firmen wie Cepheid ermöglichen, deren Geräte innerhalb von 30 Minuten identifizieren können, welchen Erreger ein Anschlagsopfer im Körper hat. Über 400 Systeme habe seine Firma weltweit schon ausgeliefert, sagt Vorstandschef Thomas Gutshall. Demnächst dürften es weit mehr werden: "Eine Menge Leute haben sich in den vergangenen Wochen nach unseren Produkten erkundigt."
Kein schneller Erfolg
Dennoch steht die Forschung erst am Anfang. Was jetzt in Auftrag gegeben wird, kommt erst in einigen Jahren zum Einsatz. Bis dahin ist das Land nur eingeschränkt auf den Ernstfall vorbereitet. Zwar schuf das Zentrum für Krankheitskontrolle und Prävention vor zwei Jahren ein Netzwerk von landesweit 50 Speziallabors, wo Infizierte innerhalb von 24 Stunden Resultate über ihr Krankheitsbild erhalten. Auch gibt es "bekannte und klare Behandlungswege", beruhigt Mark Smith vom Notfall-Zentrum des Washington Hospital Center
Fraglich ist jedoch, ob die lange vernachlässigten Gesundheitseinrichtungen in der Lage sind, die Auswirkungen eines Anschlags wirksam zu bekämpfen und Opfer zu behandeln. "Kein Ort in den USA könnte einen Angriff mit mehreren Tausend Betroffenen in kurzer Zeit verkraften", warnt Michael Moodie, Direktor des Chemical and Biological Arms Institute. "Die mehr als 40 US-Behörden, die mit der Abwehr von Bioterrorismus beschäftigt sind, haben noch nie zusammen an einem Tisch gesessen."
Der Alarm-Zustand, der gegenwärtig in den USA herrscht, könnte die notwendigen Reformen allerdings vorantreiben. 1,4 Mrd. $ will die Regierung Gesundheitsbehörden und Bundesstaaten überweisen, um die Prävention zu forcieren. Und für den Großraum Washington wurde nach dem 11. September extra eine "Bioterrorism Taskforce" gebildet, der auch Präsident Bush angehört.
Ob es tatsächlich zu einem groß angelegten Angriff mit Bakterien, Viren oder Giftgas kommt, hält Jonathan Tucker, Experte für biologischen Terror am Monterey Institute of International Studies, allerdings für fraglich.
Wahrscheinlicher sei ein Sabotage-Akt in einer Chemiefabrik oder die Vergiftung von Lebensmitteln. "Suchen Terroristen nach einem richtigen GAU, müssen sie nur an die über 800.000 Fabriken im Lande denken, wo gefährliche Stoffe produziert, gelagert oder weiterverarbeitet werden."
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