ISRAEL
"Wir haben Fehler gemacht"
Friedensnobelpreisträger Schimon Peres über den voraussichtlichen Wahlsieger Ariel Scharon und die wachsende Verbitterung zwischen Israelis und Palästinensern SPIEGEL: Herr Peres, wird Ariel Scharon am Dienstag zum neuen Premierminister von Israel gewählt? DER SPIEGEL Peres: Wir geben uns nicht geschlagen.
SPIEGEL: Das glauben Sie doch selber nicht mehr. Wie wollen Sie die Leute dazu bringen, doch wieder Ehud Barak zu wählen? Die Umfragen sind vernichtend.
Peres: Ich gebe zu, die Lage ist sehr schwierig. Aber wir müssen den Wählern klarmachen, was sie dann erwartet. Scharon würde nicht eine einzige Siedlung auflösen, ganz Jerusalem bliebe israelisch wie es heute ist, die Palästinenser bekämen nur 42 Prozent des Westjordanlandes ...
SPIEGEL: ... all das würden viele Ihrer Landsleute sicher begrüßen.
Peres: Doch mit einem solchen Plan kann man nur Frieden ohne die Araber machen - wem soll das nützen? Scharon will zurück zu einer Politik der kleinen Schritte.
SPIEGEL: Nach der alten Formel: Wer gibt, der kriegt; wer nichts gibt, kriegt nichts?
DER SPIEGEL Peres: Was heißt hier Geben und Nehmen? Was soll eine Familie denn geben, die in einem Flüchtlingslager im Gaza-Streifen lebt? Die Bedingungen dort sind furchtbar. Das ganze Gerede vom Geben und Nehmen ist doch nur der Versuch, aus der Geschichte einen Kramladen zu machen. Rabin und ich sind auch aus der moralischen Überzeugung nach Oslo gegangen, dass wir nicht länger das Gebiet eines anderen Volkes besetzt halten können.
SPIEGEL: Nach dem Zeitplan von Oslo müssten Sie längst Frieden haben, stattdessen dreht sich die Spirale der Gewalt immer weiter. Wo endet sie - in einem Krieg?
Peres: Nein, es wird keinen Krieg geben. Seit dem Ende des Kalten Krieges ist das immer unwahrscheinlicher geworden. Der Nahost-Konflikt speiste sich aus dem Ost-West-Konflikt. Weder Russland noch die USA würden heute für einen Krieg Waffen und Geld in den Nahen Osten pumpen. Auch die arabische Welt will keinen Krieg. Die Reden des ägyptischen Präsidenten Mubarak sind eindeutig. Die Gefahr liegt vielmehr in Gewalt und Terror.
SPIEGEL: Die sind doch heute schon Alltag. Deshalb sagen viele Israelis: Die Palästinenser verlangen nur und geben nie etwas. Wir haben Teile des Landes zurückgegeben, aber noch immer herrscht Terror.
Peres: Wir haben auch Fehler gemacht. Wir hätten schon vor 30 Jahren aus dem Gaza-Streifen abziehen sollen. Die Soldaten, die wir immer noch dort hinschicken, sind doch nur wandelnde Zielscheiben.
SPIEGEL: Nun heizen religiöse Gefühle den Konflikt weiter an. Da spricht Scharon den Muslimen jede Verbindung zu Jerusalem ab. Andererseits bezweifelt der Mufti von Jerusalem, dass es auf dem Tempelberg je einen jüdischen Tempel gegeben hat. Gibt es eine Lösung für Jerusalem?
Peres: Die Zeit für eine Lösung des Jerusalem-Problems ist noch nicht reif. Pragmatisch mag es ja eine Lösung geben, aber es ist so unglaublich schwierig, sie auch auf Papier niederzuschreiben. Die Altstadt ist noch nicht mal einen Quadratkilometer groß, doch das kleine Stück Land ist aufgeladen mit 3000 Jahren jüdischer Geschichte, 2000 Jahren christlicher und 1400 Jahren muslimischer Geschichte. Man kann ein Land teilen, aber nicht die Geschichte. An Arafats Stelle wäre ich vorsichtig. Denn Mohammed besuchte Jerusalem nur im Traum. Und ein Traum hinterlässt keine archäologischen Spuren. Das ist die Rache der Geschichte.
SPIEGEL: Noch schwieriger als Jerusalem scheint die Flüchtlingsfrage zu sein.
Peres: Es gibt nicht einen Israeli, der sagt: Die Palästinenser können zurückkommen. Wir begehen doch keinen Selbstmord. Aber wir haben auch hier einen Fehler beim Timing gemacht. Die Palästinenser sollen unterzeichnen, dass sie keine weiteren Forderungen an uns richten werden. Da sagen die Palästinenser natürlich, das machen wir nur, wenn die Flüchtlinge zurückkehren. Es ist doch so: Jedes Volk hat ein Recht auf seine Träume. Aber jedes Kind kann auch verstehen, dass man nicht alle Träume in die Realität umsetzen kann.
SPIEGEL: Wollen Sie die Flüchtlinge ewig in den Lagern schmoren lassen?
Peres: Natürlich müssen wir unseren Teil zur Lösung des Problems beitragen - finanziell und auf andere Art.
SPIEGEL: Sie kennen Ariel Scharon sehr gut. Beide gehörten Sie zu den Protegés des Staatsgründers David Ben-Gurion.
Peres: Ich war sein Assistent, und Scharon war in der Armee. Er war ein guter Soldat, ein richtiger General. Ben-Gurion hatte großen Respekt für ihn. Seine Person ist kein Problem für mich, wohl aber seine Politik. Ich spreche nicht gegen Scharon, und ich bin ja auch gar nicht gegen eine große Koalition zwischen Likud und Arbeitspartei. Allerdings müssen wir uns zuvor auf einen Kurs verständigen.
SPIEGEL: Gibt es einen neuen Scharon, der weiser ist
Peres: Die Eltern Scharons waren Pioniere, die Sümpfe und Wüsten in fruchtbares Ackerland verwandelten. Danach mussten wir uns der Herausforderung stellen, Kriege zu gewinnen, weil wir angegriffen wurden. Dabei machte Scharon eine ausgezeichnete Figur. Nun müssen wir für Frieden sorgen, und ich glaube, wir brauchen für diese Herausforderung eine ganz andere Generation von Politikern.
SPIEGEL: Doch während Sie den Wunsch nach Nachbarschaft und Kooperation mit den Palästinensern verkörpern, gibt es inzwischen selbst bei der israelischen Linken Befürworter einer strikten Trennung der beiden Völker. Manche würden am liebsten Minenfelder anlegen.
Peres: Minenfelder stoppen weder Terroristen, noch beseitigen sie Wassermangel oder lassen eine moderne Wirtschaft gedeihen. Wir brauchen eine politische Trennung, doch eine wirtschaftliche Integration.
SPIEGEL: Derzeit sieht es eher so aus, als würden sich Israelis und Araber ewig hassen. Sie dagegen glauben daran, dass Israelis und Araber im neuen Millennium friedlich nebeneinander leben können.
Peres: Das wird kommen. Seit Oslo sind erst sieben Jahre vergangen. Denken Sie doch nur an Europa zwischen 1914 und 1945. Da gab es zwei Weltkriege, den Holocaust, Millionen Menschen verloren ihr Leben, Familien wurden zerstört. Hätten Sie jemandem geglaubt, der 1944 aufgestanden wäre und gesagt hätte: In drei Jahren seht ihr eine andere Welt?
SPIEGEL: Was macht die jetzige Krise denn so unlösbar?
Peres: Wir verstehen nicht, warum die Palästinenser die Intifada begonnen haben, wo wir doch schon so viel erreicht hatten, warum sie so blutrünstig über uns sprechen. Die Palästinenser verstehen nicht, warum wir ihre Gebiete abriegeln und warum so viele ihrer Leute erschossen wurden. Frieden braucht nicht nur ein Abkommen, sondern auch eine eigene Sprache.
SPIEGEL: Barak hat doch von nichts anderem als Frieden geredet.
Peres: Es gibt im Verhältnis zu den Palästinensern vier Ebenen: die militärische und die politische, die ökonomische und die emotionale. Wir haben uns zu sehr mit den ersten beiden beschäftigt. Heute ist das Militär doch gar nicht mehr so wichtig. Man gewinnt oder verliert einen Krieg fast ausschließlich im Fernsehen. Wir haben vernachlässigt, wie dramatisch sich die ökonomische Lage der Palästinenser verschlechtert. Und wir haben nicht auf ihre Gefühle geachtet.
SPIEGEL: Lasten Sie das vor allem Barak an?
Peres: Vor der Wahl werden Sie mich nicht dazu bekommen, ihn zu kritisieren.
SPIEGEL: Aber Sie standen bereit, an seiner Stelle zu kandidieren. Nach den Umfragen wären Sie sogar ein viel aussichtsreicherer Kandidat.
Peres: Aber Barak ist demokratisch gewählt. Nur er selbst hätte auf die Kandidatur verzichten können.
SPIEGEL: Trotzdem ist Barak sauer auf Sie und beschimpft Sie - wie Jizchak Rabin - als einen "unermüdlichen Saboteur".
Peres: Solche Sätze sind nicht hilfreich. Rabin erkannte schließlich, wie gut er mit mir zusammenarbeiten konnte.
SPIEGEL: Warum haben sich dann die israelischen Wähler von Barak abgewandt?
Peres: Für die Friedenspolitik gibt es immer noch eine breite Unterstützung. Aber es geht bei Wahlen auch um die Persönlichkeitsfrage. Im Übrigen war Jassir Arafat auch nicht gerade hilfreich.
SPIEGEL: Mit dem Palästinenserchef teilen Sie den Friedensnobelpreis. Fühlen Sie sich heute getäuscht von ihm, wie ein Großteil der israelischen Linken?
Peres: Im Unterschied zu denen habe ich niemals geglaubt, dass sich Arafat in einen linken Israeli verwandeln würde. Er war ein Palästinenser, und er ist ein Palästinenser geblieben. Und er denkt einzig darüber nach, was das Beste für die Palästinenser ist. Ich lobe ihn, wenn er Recht hat, aber ich kritisiere ihn auch, wenn er Unrecht hat.
SPIEGEL: Aber er hat doch die Aksa-Intifada erst richtig angeheizt?
Peres: Das ist eine andere Geschichte. Es gibt eben keine Fehler, die straflos bleiben. Und man sieht doch schon: In den letzten Wochen haben die Palästinenser versucht, ihre Fehler zu korrigieren. Verhandlungen sind eben auch ein Austausch von Fehlern, nicht nur ein Austausch gegenseitigen Verstehens. Andererseits hat Arafat ja auch einige wagemutige Entscheidungen getroffen, mehr als jeder andere Palästinenser. Ich sehe die Fehler, ich sehe seinen Mut, und ich versuche, beides gegeneinander abzuwägen.
INTERVIEW: ANNETTE GROSSBONGARDT, HANS HOYNG
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