Eines mal vorweg: Dieser Kommentar ist nicht gegen Griechenland gerichtet. Es geht darin nicht um all die Dinge, von denen in deutschen Medien und an deutschen Stammtischen derzeit so viel die Rede ist: griechische Bürger, die ihre Steuern nicht zahlen, griechische Beamte, die nicht arbeiten, griechische Politiker, die ihre Versprechen brechen.
Um all das wird es nicht gehen, und trotzdem hat dieser Kommentar eine klare Botschaft:
Das Hilfspaket von 130 Milliarden Euro, das die Finanzminister der Euro-Zone möglicherweise heute Nachmittag beschließen wollen, sollte auf keinen Fall ausgezahlt werden. Sicher, Griechenland wird noch auf Jahre - wenn nicht Jahrzehnte - hinaus die Solidarität der übrigen EU-Staaten brauchen, und Deutschland sollte diese Solidarität auch nicht verweigern. Wahrscheinlich wird Resteuropa im Laufe der nächsten Jahre sogar weit mehr Geld nach Athen überweisen müssen als die 130 Milliarden Euro an verbilligten Krediten, um die es heute in Brüssel geht.
Das Falsche liegt nicht in der Größe, sondern in der Konstruktion des Rettungspakets. Es orientiert sich nicht an den Bedürfnissen der griechischen Bürger, sondern an den angeblichen Gesetzmäßigkeiten der internationalen Finanzmärkte. Was in der Praxis leider oft heißt: an den Einflüsterungen der Bankenlobby.
Wie sonst ließe es sich erklären, dass rund ein Viertel des Pakets faktisch gar nicht erst in Athen ankommen wird, sondern direkt an die internationalen Gläubiger des Landes fließt? Mit rund 30 Milliarden Euro sollen die Eigentümer der griechischen Staatsanleihen dazu animiert werden, ihre alten Schuldpapiere in neue umzutauschen. Auf diese Weise soll die Illusion erhalten bleiben, dass Griechenland gar nicht pleite ist - schließlich verzichten die Gläubiger ja freiwillig auf einen Teil ihrer Forderungen. Geschickt nährte die Finanzindustrie die Furcht, die Griechenpleite würde eine verhängnisvolle Kettenreaktion auslösen.
Die kranke Kuh wird auf Jahre hinaus keine Milch mehr geben
Geradezu surreal mutet die politische Debatte der letzten Tage an, in der es allen Ernstes darum ging, ob Griechenland dank der 130 Milliarden auf den gewünschten Schuldenstand von 120 Prozent seiner Wirtschaftsleistung kommen wird oder doch eher bei 129 Prozent hängen bleibt - im Jahr 2020 wohlgemerkt. Den Schuldenstand einer Volkswirtschaft auf acht Jahre im Voraus auf neun Prozentpunkte genau vorherzusagen: Das gelingt in der Regel nicht einmal in Deutschland. In Griechenland mit seiner kollabierenden Volkswirtschaft und seinem ausbaufähigen Statistikwesen verlassen wir bei solchen Prognosen endgültig die Ökonomie und betreten das Schattenreich der schwarzen Magie.
Ebenso schräg die Forderungen aus Resteuropa, die Einsparungen im griechischen Haushalt müssten unbedingt von 3 Milliarden Euro auf 3,3 Milliarden Euro aufgestockt werden - nur dann könne man es verantworten, das Rettungspaket auszuzahlen. Ach, wie schön wäre es, hinge die Lösung des Griechenland-Problems an gut 300 Millionen mehr oder weniger! Angesichts der vielen Luftbuchungen und Hoffnungswerte, aus denen das Athener Sparpaket tatsächlich besteht, sind 300 Millionen nicht viel mehr als ... na ja, von Peanuts wollen wir hier nicht sprechen. Aber zumindest nicht mehr als eine Rundungsdifferenz.
In Wahrheit ist Griechenland natürlich längst pleite. Das Land braucht keinen Schuldenschnitt von 70, sondern von 100 Prozent, will es wirtschaftlich je wieder auf die Beine kommen. Die kranke Kuh wird auf Jahre hinaus keine Milch mehr geben.
Marshallplan statt Tilgungswahn
Die meisten der unzähligen Spitzenbeamten, die sich in der Euro-Zone mit Griechenland beschäftigen, kennen diese schlichte Wahrheit. Manche von ihnen, auch in der Bundesregierung, räumen hinter vorgehaltener Hand ein: Natürlich könnten die 130 Milliarden das Problem nicht lösen. Es gehe nur darum, Zeit zu kaufen. Zeit, bis die Finanzmärkte sich so weit stabilisiert hätten, dass sie die tatsächliche Pleite Griechenlands ohne Kettenreaktion verkraften. Ohne Bankenpleiten, ohne Dominoeffekte durch den Ausfall von Kreditversicherungen und ohne Zinsexplosion für die übrigen Problemstaaten der Euro-Zone.
Aber wann sollte dieser Moment gekommen sein, wenn nicht jetzt? Seit dem vergangenen Herbst überschüttet die
Europäische Zentralbank die Geschäftsbanken förmlich mit Geld. Spanien und Italien, die beiden wankenden Riesen der Euro-Zone, haben neue Regierungschefs, die sich glaubwürdig aufs Sparen verpflichten. Ebenso wie die meisten übrigen EU-Staaten mit ihrem Fiskalpakt. Und das Problem mit den Kreditversicherungen
ist ohnehin nicht so gravierend, wie die Finanzlobby immer behauptet.
Wenn die europäischen Politiker also nur einen Funken Vertrauen in all die Arbeit haben, die sie in den zwei Jahren seit Ausbruch der Schuldenkrise geleistet haben, dann sollten sie jetzt erklären, was ohnehin jeder weiß: Griechenland ist pleite. Also werden alle Schulden des Landes gestrichen.
Die 130 Milliarden Euro sollte Griechenland trotzdem bekommen. Aber in anderer Form. Statt Finanzspekulanten für ihr Hasardspiel zu belohnen, sollte das Geld lieber vollständig in den Neuaufbau der griechischen Volkswirtschaft fließen. Marshallplan statt Tilgungswahn!