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"Die Grammatik zeigt den Charakter!" Dieser tiefsinnige Spruch ist voll auf die Ruhrgebietssprache zu übertragen, denn ihre Sprachregelungen spiegeln die wichtigsten Charakterzüge der Menschen zwischen Rhein, Ruhr und Emscher deutlich wider: Geradlinigkeit, Toleranz und Mut zur freiheitlichen, selbstverantwortlichen Kreativität. Deshalb sind die hier aufgeführten grundlegenden Regeln der Ruhrgebiets-Grammatik für die Sprech- und Schriftsprache denn auch mehr Leit- als Richtlinien. Und trotzdem zeigen sie die Eigenständigkeit und die typischen Besonderheiten, die diese Sprache so auszeichnen und die sie so liebenswert machen.
Wortlehre
Die Ruhrgebietsgrammatik umfasst dieselben Wortarten wie die Hochsprache. Die wichtigsten Veränderungen ergeben sich bei Hauptwörtern, Geschlechtswörtern und Fürwörtern besonders im Bereich der Fälle. Bei den Tuwörtern gibt es in Form und Zeitsetzung einige Unterschiede zur Hochsprache.
Die Fälle
Es gibt nur zwei Fälle: den Wer-Fall und den Wen-Fall. Den in der Hochsprache gebräuchlichen Wessen-Fall, der Besitz oder direkten Bezug zu einer Sache oder Person anzeigt, und den Wem-Fall, der die Richtung einer Handlung angibt, kann die Ruhrgebietssprache durch den Wen-Fall problemlos ersetzen, ohne dass es zu Verständigungsschwierigkeiten kommt.
Das ist der Hut meines Vaters. --- Der Hut da is mein Vadder seinen. Gib mir sofort mein Geld. --- Gib mich sofort meine Kohle. Die Geschlechter
Wie in der Hochsprache gibt es in der Ruhrgebietssprache drei Wort-Geschlechter: männlich, weiblich und sächlich. Veränderungen treten zumeist im Bereich des Sächlichen auf. Hier werden viele "es"-Auslautungen der Hochsprache zu "et"-Auslautungen.
gib es --- gibet manches --- manchet
Hauptwörter
Hauptwörter benennen Lebewesen, Dinge und abstrakte Sachverhalte. Die Mehrzahl eines Hauptwortes wird in der Ruhrgebietssprache so einfach wie möglich, aber gleichzeitig doch so, daß der Redepartner sie erkennen kann, gebildet. Ein "s" anzuhängen ist besonders dann sinnvoll, wenn die hochsprachliche Mehrzahl umständlich oder strittig ist.
Ich muß noch Fenster putzen. --- Ich muß noch Fensters putzen.
Die Verkleinerungsform "-chen" wird in der Ruhrgebietssprache durch ein angehängtes "-ken" ausgedrückt.
Häuschen --- Häusken Kindchen --- Kindken kleines Gespräch --- Pläuschken
Fürwörter
Manchmal ist es zu umständlich, Dinge oder Personen immer beim Namen zu nennen. So gibt es kurze Wörter, die sogenannten Fürwörter, die ersatzweise für Hauptwörter stehen können.
Persönliche Fürwörter (ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie) Unterschiede zur Hochsprache sind lediglich optional. "sie" wird oft durch "se" ersetzt, "wir" durch "wer".
Sie haben ihm das Geld gegeben. --- Se ham ihn de Kohle gegeben. Das haben wir geschafft. --- Dat hamwer geschafft.
Besitzanzeigende Fürwörter (mein, dein, sein, unser, euer, ihr) Werden die besitzanzeigenden Fürwörter nachgestellt, kann im Gegensatz zur Hochsprache ein "t" oder ein "et" angehängt werden.
Ist das sein Fahrrad? --- Is dat Fahrrad seinet? Das Ding gehört uns. --- Dat Dingen is unsert.
Hinweisende Fürwörter (dieses, jenes)
Unterschiede zur Hochsprache ergeben sich nur bei der sächlichen Form der Einzahl. Hier wird wiederum ein "t" angehängt.
Dieses Haus hat viele Fenster. --- Dieset Haus hat viele Fenster. Jenes Ding mag ich nicht. --- Jenet Dingen mach ich nich.
Geschlechtswörter
Sie zeigen bestimmt (der, die, das) oder unbestimmt (ein, eine, ein) das Geschlecht des folgenden Hauptwortes an. "der" und "die" werden im Ruhrgebiet oft durch das im Trend der Zeit liegende ungeschlechtliche "de" ersetzt. "ein" wird zu "en", "eine" zu "ne" verkürzt.
Der Mann war ein großer. --- De Mann waa en großen. Die Frau war eine kleine. --- De Frau waa ne kleine.
Unterschiede zur Hochsprache ergeben sich auch beim Sächlichen. "dat" ersetzt "das". "einet" ersetzt das "eines" des Wessen-Falles.
Das Fahrrad gehört mir. --- Dat Fahrrad tut mein sein. Eines Tages gewinn ich mal. --- Einet Tages mach ich ma en Fitsch..
Bindewörter
Funktion dieser Wortart ist es, Wörter, Wortgruppen und Sätze zu verbinden. Sie steht in der Ruhrgebietssprache meist allein. Ein Verschmelzungsprozeß findet nicht statt. Ausnahme ist hierbei das "wenn".
wenn du --- wennze (wenne) wenn er ---- wenner wenn sie ---- wennse wenn wir ---- wennwer
Formale Unterschiede zur Hochsprache ergeben sich hauptsächlich bei "wie/als" und "dass/das".
Spitzfindige und oftmals unsinnige Unterscheidungen vermeidet die Ruhrgebietssprache. "wie" kann also "als" in jeder Position ersetzen.
Er ist älter als ich. ---- Er is älter wie ich. Als ich sah, ging es mir gut. ---- Wie ich pillerte, ginget mich gut.
In kluger Vorwegnahme einer weiteren Rechtschreibreform macht die Ruhrgebietssprache schon immer die unsinnige Unterscheidung zwischen "dass" und "das" nicht mit, sondern setzt für beide "dat".
Ich weiß, daß ich nichts weiß. ---- Ich weiß, dat ich nix kennen tu. Ein Haus, das mir gehört. ----En Häusken, dat mein sein tut.
Verhältniswörter
Diese Wortart - auch Präpositionen oder "Präppos" genannt – leitet oft Orts- oder Zeitangaben ein und steht vor einem Hauptwort oder einem Fürwort. Klemmt sich noch ein Geschlechtswort dazwischen, so findet oft ein Verschmelzungsprozess statt.
in das Haus ---- innet Haus hinter dem Tor ---- hintert Tor bei dem Vater ---- beien Vadder auf die Kirmes ---- aufe Kirmes aus dem Haus ---- aussen Haus für die Frau ---- füre Frau an dem Tisch ---- annen Tisch
Ein nur im Ruhrgebiet verbreitetes Sprachphänomen wurde jüngst von einer heute in Hamburg lebenden "eigentlich Gelsenkirchenerin" entdeckt: Präppos doppelt gemoppelt
Ich gehe in den Garten -- Ich gehe im Garten rein Komm zur Oma -- Komm nache Omma hin
Tuwörter
Tuwörter bezeichnen eine Handlung, einen Vorgang oder einen Zustand, und das Schwierige an ihnen ist, daß sie verschiedene Zeiten und sogenannte Aktionsformen bilden können. Mit ihnen kann man Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft ausdrücken; sie zeigen, ob man selbst aktiv etwas tut oder ob man passiv etwas erleiden muß. Die Ruhrgebietssprache entledigt sich dieser Schwierigkeiten, indem sie lediglich festlegt: so einfach wie möglich, aber doch so, daß der Gesprächspartner den Zusammenhang versteht.
Die häufigsten und sinnvollsten Zeitstufen sind Gegenwart und Vergangenheit. Diese kann das Tuwort ganz alleine bilden. Unterschiede zur Hochsprache liegen nur in der ich- und du-Person vor, wo das auslautende "e" bzw. "t" wegfallen.
ich schreib --- ich schrieb du schreibs ---- du schriebs er schreibt --- er schrieb sie (se) schreibt ---- sie (se) schrieb et schreibt --- et schrieb wir (wer) schreiben --- wir (wer) schrieben ihr schreibt --- ihr schriebt sie (se) schreiben --- sie (se) schrieben
Um all ihre weiteren Zeiten - vollendete Gegenwart, vollendete Vergangenheit, Zukunft, vollendete Zukunft - zu bilden, benötigen die Tuwörter einige Helfer, die alleine oder zu zweit auftreten: sein, waren, werden, haben und hatten. Das Tuwort selbst wird dann einfach in einer Grundform angehängt.
ich bin ---- ich waa ---- ich werd du biss ---- du waas --- du wirs er is/tut sein --- er waa --- er wird sie (se) is/tut sein --- sie (se) waa --- sie (se) wird et is/tut sein --- et waa --- et wird wir (wer) sind --- wir (wer) waan --- wir (wer) werden ihr seid --- ihr waat --- ihr wert sie (se) sind --- sie (se) waan --- sie (se) werden
ich hab --- ich hatt du hass --- du hattes er hat /tut ham --- er hatte sie (se) hat/tut ham --- sie (se) hatte et hat/tut ham --- et hatte wir (wer) ham --- wir (wer) hatten ihr habt --- ihr hattet sie (se) ham --- sie (se) hatten
Sind Fürwörter einem Tuwort nachgestellt, in einem Fragesatz zum Beispiel, so findet wiederum ein Verschmelzungsprozeß statt. Nur das "ich" bleibt immer allein, da es deutlich herausgehoben und betont werden will.
stehe ich --- steh ich stehst du --- stehsse steht er --- stehter steht sie --- stehtse steht es --- stehtet stehen wir --- stehnwer steht ihr --- stehter stehen sie --- stehnse
Der Bereich der Tuwörter verfügt - in sinnvoller Erweiterung der Hochsprachengrammatik - über zwei Sonderformen.
Verlaufsform: Ähnlich wie in der englischen Sprache ist es im Ruhrgebiet möglich, das Andauern, die Spanne einer Handlung zu verdeutlichen. Dieses bewerkstelligt ein eingeschobenes "am".
Normalform - Verlaufsform ich schlafe gerade - ich bin am schlafen ich überlege - ich bin am überlegen
Handlungsintensitator: Um Handlung als solche in ihrem tuenden Charakter sprachlich zu unterstützen, kann eine Form von "tun" in die Verbform eingefügt werden. Oft passiert das in der 3. Person Einzahl.
er geht ---- er tut gehn se spielt ---- se tut spielen
Besonderheiten der Schreibung
Um spezifische Besonderheiten der Ruhrgebiets-Sprechsprache auch in der Schriftsprache zu betonen, gibt es eine Reihe von Veränderungen gegenüber der Duden-Schreibung. Aber auch hier gilt zu allererst die Regel der Toleranz, so daß diese Veränderungen als optional anzusehen sind. Ein Gebrauch erscheint allerdings in vielen Fällen sinnvoll.
Das wecke R
Bei der Schreibung vieler Wörter kann, wenn der Schreiber es will, ein auslautendes "r", d.h. ein "r" am Ende eines Wortes, weggelassen und durch eine Verdopplung des vorhergehenden Vokals ersetzt werden. Hochsprache Ruhrgebiet
sogar --- sogaa war --- waa
Innerhalb von Wörtern kann das "r" sogar ersatzlos wegfallen oder durch eine Verdopplung des folgenden Konsonanten ersetzt werden. Hochsprache Ruhrgebiet
Herbert --- Hebbert hör mal --- hömma
Das möglicherweise wecke E
Bei Tuwörtern kann bei en-Endungen das "e" weggelassen werden, um die im Revier geläufige Aussprache zu betonen.
wir gehen --- wir gehn sie verstehen --- sie (se) verstehn
Das gestrichene E
Um dem Trend nach Sprachschnelligkeit nachzukommen, trotzdem aber exakte Aussagen formulieren zu können, wird bei einer Reihe von Wörtern das auslautende, unbetonte "e" gestrichen.
heute --- heut Freude --- Freud
Der verschluckte L
Im Auslaut von Wörtern wird das "l" oft einfach verschluckt und verschwindet somit, ohne irgendwie ersetzt zu werden.
manchmal --- manchma tu mal --- tuma
Das überflüssige T
Um die Flüssigkeit von Rede und Schreibe zu garantieren, wird das "t" in einigen Wörtern überflüssig.
erst --- ers erst mal --- ersma
Das verdehte T
Bei einigen Wörtern wird das "t" verdeht, d.h. durch ein "d" ersetzt. In einigen Fällen ist sogar ein Doppelverdehung zu erkennen. Hochsprache Ruhrgebiet
Vater --- Vadder Mutter --- Mudder
Das variable G
Es ist einem Schreiber freigestellt, ob er das weiche, auslautende "ch", entgegen der Schreibung in der Hochsprache, als "ch" oder regelgerecht als "g" darstellt. In diesem Buch wurde das Ersetzen von "g" durch "ch" nur auf wenige prägnante Fälle beschränkt.
er fragte --- er frachte er sagte --- er sachte Tag --- Tach Mittag --- Mittach
Das eingeschobene S
Um den Sprachfluß zu beschleunigen und Sprachidentität zu bezeugen, wird bei einigen charakteristischen Wörtern ein "s" in die zentrale Silbenverbindung eingeschoben.
Bratkartoffeln --- Bratskatoffeln meinetwegen --- meintswegen
Liebliche Bezeichnungen Die Ruhrgebietssprache besitzt die hochgradige Fähigkeit, Wohlwollen und Abneigung, Sympathie und Antipathie, Nahsein und Distanz auszudrücken. Ein breit gefächertes und sehr differenziertes Vokabular existiert besonders im Bereich der lieblichen Bezeichnungen.
Genaue Kenntnis von lieblichen Bezeichnungen hilft Irritationen und Enttäuschungen im Bereich der lieblichen Beziehungen vermeiden. Die folgende tabellarische Übersicht gehört daher als Kopie in jede Ruhrgebietstasche.
Stufe 1
Frau zu Mann Lappes, Macker, Schluffi, Schmachtlappen, Spucht, Stenz, Strulli, Ömmel, Wicht
Mann zu Frau Feger, Keule, Maschuckel, Mattka, Schnalle, Torte, Trulla, Tussi, Hippe
beabsichtigtes Signal Liebliche Beziehung soll in unverbindlichen Anfängen verbleiben oder Stufe 2 bzw. 3 verlassen; Weiterführung stark in Frage gestellt
logische Folgerung Keine lieblichen Bezeichnungen der Stufen 2 und 3 mehr verwenden; eigenen Gefühlspegel auf Sparflamme köcheln lassen und verstärkt Ausschau nach anderweitiger lieblicher Beziehung halten
Stufe 2
Frau zu Mann Fidibus, Ipschek, Klöfken, Knicker, Möppes, Männeken, Ömmes, Ollen, Schitzken, Schlönzken, Schnuffel
Mann zu Frau Hümmelken, Hutzelputzel, Knübbelken,Minka, Perle, Schnuckel, Trudchen
beabsichtigtes Signal Liebliche Beziehung im offenen Schwebezustand; Aufstieg nach Stufe 3 und Absinken nach Stufe 1 möglich
logische Folgerung Mit gesteigerter defensiver Vorsicht liebliche Bezeichnungen der Stufe 3 antesten; nur in ausgesucht geeigneten Situationen; bei klar sichtbarem Erfolg Strategie verstärken; bei Schwierigkeiten sofort Bezeichnungen der Stufe 1 drohend beimischen
Stufe 3
Frau zu Mann Böcksken, Pöcksken, Schnüffi, Möppelken, Bullebäuseken, Fürzepüppel, Stümmelken, Knuddelbär, Schlönzken, Hasimänneken, Schnibbel, Schnübbelsken, Schnuppel
Mann zu Frau Dierken, Föttken, Mäusi, Püppi, Stitzken, Schnüssken, Schnübbelsken, Täubin, Häppken, Etteken
beabschtigtes Signal Sternkes inne Augen
logische Folgerungen Wohnungsmarkt sichten, Einweggeschirr wegwerfen, Kindergartenplätze reservieren, Steuerkarte anfordern, Ausweise verlängern, Ehevetrag überdenken, Geschenk-Liste aufstellen, Bo-Frost abbestellen
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