.... Doch viel wichtiger ist das Verständnis der gestrigen EZB-Maßnahmen, die von EZB-Chef Mario Draghi verkündet wurden. Ich halte die gestrige Sitzung für mindestens ebenso historisch wie seine Äußerungen 2011 (wir sind bereit alles zu tun, um den Euro zu retten), mit denen er die europäische Schuldenkrise beendete. Die gestern verkündeten Maßnahmen gehen erneut über alles bislang Gesehene hinaus und sind in meinen Augen eine geeignete Reaktion auf die Europa-Wahlen. Mehr dazu in Kapitel 02.
.... Die gestrige Entscheidung der EZB wird in die Geschichte eingehen. Ich werte die massive Liquiditätsflutung durch die EZB nicht nur als Reaktion auf die schwächelnde Konjunktur und niedrige Inflation in der EU, sondern gleichzeitig auch als Antwort auf den Rechtsruck bei den EU-Wahlen.
VIER MASSNAHMEN ZUM ANKURBELN DER KONJUNKTUR
Gehen wir die vier Ankündigungen im Einzelnen einmal durch, damit Sie verstehen, wie sensationell die gestrige Entscheidung ist.
1. Der Leitzins wurde von 0,25% auf 0,15% gesenkt. Das ist eher ein homöopathisches Signal als dass durch diese marginale Änderung spürbare Entlastungen in den Finanzsektor durchgereicht werden können. Gleichzeitig wurde der Zins für Bankeinlagen bei der EZB, die über die vorgeschriebene Mindestreserve hinausgehen, von 0% auf -0,1% gesenkt. Banken müssen nun Zinsen bezahlen, wenn sie ihr Geld bei der EZB parken.
Damit wird erneut das fehlende Vertrauen des Finanzsektors untereinander adressiert. Bevor eine Bank ihr überschüssiges Kapital bei einer anderen Bank zu einem Zins nahe Null parkt, hat sie es lieber bei der EZB liegen lassen. Man verzichtete auf den geringen Zins und wählte stattdessen die Sicherheit der EZB gegenüber den häufig mit Problemen kämpfenden Wettbewerber-Banken. Nun müssen die Banken dafür bezahlen, wenn sie ihr Geld bei der EZB lagern wollen. Das ändert die Gleichung, und ich gehe davon aus, dass Banken dadurch wieder stärker miteinander handeln werden.
2. Die EZB führt TLTROs als neues Instrument ein. Wir kennen schon die "Longer-term refinancing operations" (LTROs), die länger laufenden Refinanzierungsmöglichkeiten, mit denen sich Banken günstige Konditionen für eine längere Laufzeit sichern konnten. LTROs gibt es schon seit über 15 Jahren als Ergänzung zu den Übernacht-Ausleihungen, und sie hatten Laufzeiten von ein bis drei Monaten.
Im Rahmen der Staatsschuldenkrise wurden Ende 2011 von EZB-Chef Mario Draghi besondere LTROs mit Laufzeiten von einem Jahr und zweimal sogar mit Laufzeiten von drei Jahren angeboten, um das zum Erliegen gekommene Refinanzierungsgeschäft der Banken zu stützen. Diese zwei LTROs mit einer Laufzeit von drei Jahren wurden vom Banksektor stark in Anspruch genommen, und Draghi bezeichnete diese Transaktion einmal salopp als "Dicke Bertha". Mit dicker Bertha bezeichnete man besonders große Geschütze im Ersten Weltkrieg, und als eben ein besonders großes Geschütz der Geldmarktpolitik wurden diese beiden LTROs gesehen.
Wer rechnen kann, weiß, dass diese drei Jahre laufenden LTROs von Ende 2011 und Anfang 2012 also Ende des laufenden Jahres und Anfang 2015 fällig werden. Ein Nachfolger wird gesucht.
Mit "TLTRO" hat die EZB nun ein "Targeted" LTRO nachgeschoben, ein gezieltes LTRO. Die Laufzeit beträgt diesmal bis zu vier Jahren, alle TLTROs werden im September 2018 auslaufen, so Draghi. Gezielt ist der Ersatz dadurch, das Banken diese Refinanzierungsmöglichkeit nur in Abhängigkeit ihrer Kreditvergabe in Anspruch nehmen können. Allerdings gibt es einige Einschränkungen: Das Volumen darf nur 7% der Ende letzten April ausstehenden Kredite betragen. Und Bis Mitte 2016 dürfen die seit Ende April abgeschlossenen Neu-Kredite bis zum maximal dreifachen Volumen für die Refinanzierung über TLTRO herangezogen werden.
Doch es zählen nur Kredite des Nicht-Finanzsektors sowie der Nicht-Immobilienfinanzierungen. Welche Kredite bleiben? Nun, Konsumentenkredite, die den Konsum und damit die Nachfrage ankurbeln und Investitionskredite, die zu einer Ankurbelung der Wirtschaft führen. Mit anderen Worten: TLTRO stimuliert gezielt gerade die Kreditvergabe, die umgehend zu einer Konjunkturbelebung führt.
3. Asset Backed Securities (ABS) werden stärker beaufsichtigt und gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt gekauft. ABS waren teilweise die Immobilienpapiere, die 2007 bis 2009 zur Finanzkrise und in Folge dessen zu großen Wirtschaftsdepression führten. Die EZB begibt sich mit dieser Ankündigung auf dünnes Eis und verkündet sogleich, dass etwaige regulatorische Probleme überarbeitet würden. Es handelt sich um eine Form von "Quantitative Easing", was in den USA derzeit noch unter QE3 läuft und einen direkten Eingriff in den Markt bedeutet. Die EZB als Käufer von verbrieften Krediten würde den Markt der ABS verzerren und somit ihr Mandat der marktneutralen Steuerung überschreiten. Doch nach Argumentation der EZB könnte es sich auch um einen nicht funktionierenden Markt handeln, der den Fortbestand des Euro-Systems gefährdet und daher eben doch durch die EZB gezielt beeinflusst werden sollte.
Dieser dritte Punkt ist also bislang nur eine Ankündigung: Die EZB wird ein QE auflegen. Dazu schaut sie sich ab sofort den ABS-Markt ganz genau an und wird rechtliche Hürden aus dem Weg räumen. Am Markt erwartet man erste Käufe unter diesem neuen QE-Programm im September.
Ich verstehe diesen Schritt als weitere Entlastung der Kreditinstitute. Kredite, die mit Sicherheiten hinterlegt sind (Asset Backed), werden von der EZB aufgekauft. Banken können ihre vergebenen Kreditrisiken also abschieben. Und hier sind Immobilien als Sicherheiten nicht ausgenommen.
4. LTRO mit einer Laufzeit von drei Monaten, als auch das MRO (Hauptrefinanzierungsgeschäft "Main Refinancing Operation) werden unvermindert weitergeführt bei voller Zuteilung. Hier liegt die Besonderheit in der vollen Zuteilung. Die EZB kann diese Geschäfte über Versteigerungen ausgeben und das Volumen begrenzen, um die Liquiditätsversorgung des Finanzsektors besser zu steuern. Auf die Volumenbegrenzung verzichtet die EZB nach wie vor ausdrücklich, jede Bank erhält so viel wie sie möchte. Bis mindestens Ende 2016 wird diese Verfahrensweise beibehalten.
Fazit: Rückwärts zusammengefasst verstehe ich folgendes: Banken bekommen so viel Geld wie sie wollen (4). Auch Hedgefonds und andere Finanzmarktteilnehmer, bei denen auf verschlungenen Wegen irgendwelche verbrieften Kredite gelandet sind, dürfen auf die EZB zählen, wenn sie auf als unverkäuflich geltenden ABS-Papieren sitzen (3). Unternehmen, die jetzt nicht investieren, sind selber schuld (2) und Banken, die überschüssige Liquidität nicht dem Finanzmarkt zur Verfügung stellen, müssen Strafe zahlen (1).
Banken haben keinen Bedarf an Spareinlagen, Zinsen werden also weiter nahe Null bleiben. Dem deutschen Sparer wird das nicht schmecken. Doch auch für sie hat Draghi einen Ratschlag: Kauft Aktien! Nun, so hat er es nicht gesagt, aber er hat im anschließenden Q&A unumwunden zugegeben, dass die Deutschen mit ihren Sparvermögen auf absehbare Zeit benachteiligt sind. Doch wenn wir uns die Maßnahmen anschauen, dann wissen wir wozu: Zum Ankurbeln der Wirtschaft.
HISTORISCHE ENTSCHEIDUNG DER EZB
Und damit kommen wir zu dem Punkt, warum ich diese Maßnahmen für historisch erachte.
1992 haben sich einige Länder Europas für die Schaffung eines Euros entschieden. Ihr Autor war damals Student in Würzburg und von sämtlichen Professoren, Issing und Bofinger waren auch darunter, wurde sofort der Konzeptionsfehler aufgedeckt: Wie können wir drei verbindliche Stabilitätskriterien festlegen, wenn es keine Regelung darüber gibt, was im Falle des Bruchs dieser Kriterien passieren soll?
Es ist der konzeptionelle Widerspruch der Kulturen: Wir Deutschen lieben ein wasserfestes Konzept und halten uns daran (wenn wir mal Kanzler Schröders Ausrutscher vernachlässigen). Die Franzosen und Italiener lieben Absichtserklärungen, wollen jedoch stets handlungsfähig bleiben.
Nach dem deutschen Anspruch ist Euroland nicht mehr handlungsfähig. Mag sein, dass wir ohne diesen konzeptionellen Fehler niemals in die heutige Lage gekommen wären, aber das ist Geschichte.
Nach dem Anspruch Italiens und Frankreichs muss man nun der Realität Rechnung tragen und das Konzept eben leicht anpassen, damit das gemeinsame Ziel, ein Euro für alle, weiterhin ermöglicht wird.
Für dieses Ziel sind weitreichende politische Einigungsprozesse erforderlich, das wissen alle. Doch die teilweise Aufgabe der Haushaltssouveränität gelingt nicht von heute auf morgen. Wir können also erneut der Politik Versagen vorwerfen. Doch was wollen wir stattdessen?
Wenn wir den Rechtsruck bei den Europawahlen sehen, dann müssen wir fürchten, dass das Projekt Euroland bald scheitern könnte. Die Politik kommt nicht schnell genug vorwärts. Und Draghi hat seit seiner dicken Bertha insbesondere von Deutschland, auch von Ihrem Autor, viel Kritik einstecken müssen. Heute steht er vor der Entscheidung: Entweder das fehlerhafte Konzept im Sinne Deutschlands strikt umsetzen und das Scheitern des Euros riskieren, oder erneut mit einer noch dickeren Bertha das gemeinsame Ziel vor Augen das Konzept "leicht anpassen"? Er hat sich für den italienischen Weg entschieden.
Wir Deutschen stehen nun vor der Wahl: Wir können Draghi verteufeln, weil er unsere Sparguthaben und Lebensversicherungen verspielt. Oder wir können das Ziel der europäischen Einigung oben anstellen und unsere Vermögensplanung anpassen. Ganz ehrlich: Ich bin für letzteres.
Deutschland wollte ein Konzept umsetzen, das Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte funktioniert. Das ist nicht gelungen. Nun können wir nur den italienisch-französischen Weg mitbeschreiten und hoffen, dass er uns ein paar Jahre, vielleicht sogar ein paar Jahrzehnte Frieden und Wohlstand sichert.
Die ewige Unentschiedenheit der EZB in den vergangenen drei Jahren, sowie die langsame Gangart der Politik, haben Zweifel aufkommen lassen, ob das gemeinsame Ziel überhaupt erreichbar ist. Die Entwicklung muss beschleunigt werden, und dazu brauchen wir einen Konjunkturaufschwung - um jeden Preis. Und das hat uns die EZB gestern präsentiert - als Antwort auf die aufkeimenden Zweifel am Euroland. |