Endgültiger Abriss des Parkstadions
„Das ist so unglaublich wie der Untergang der Titanic“
Von Richard Leipold, Gelsenkirchen
19. Mai 2008 Bei fast jedem Wetter hat die Haupttribüne des Gelsenkirchener Parkstadions eine gewisse Kühle ausgestrahlt – als wäre es darum gegangen, die überbordenden Emotionen, die den Hausherrn Schalke 04 und sein Gefolge auszeichnen, ein wenig einzudämmen. Zwar hatten die Zuschauer hier, anders als auf allen übrigen Rängen, ein Dach über dem Kopf; die Zugluft aber führte dazu, dass der Aufenthalt an diesem Ort erst bei Temperaturen um die dreißig Grad als angenehm empfunden werden konnte.
Die weitläufige, siebzigtausend Menschen fassende Spielstätte galt als Inbegriff der „Betonschüssel“, einer weit verbreiteten Architektursünde aus den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, hervorgebracht durch den Bauboom vor der Fußball-Weltmeisterschaft 1974. Größe und Weite waren die entscheidenden Koordinaten – und Leichtathletik-Tauglichkeit. In dieser Woche rückt der Bau-Unternehmer Walter Hellmich, nebenbei Präsident des Bundesligaklubs MSV Duisburg, mit schwerem Gerät an, um auftragsgemäß den letzten Teil der Abrissarbeiten in Angriff zu nehmen: die Zerstörung und Entsorgung der Haupttribüne.
Nur um die Rolltreppe ist es wirklich schade
Der frühere Hauptmieter und jetzige Eigentümer Schalke 04 ist längst ausgezogen aus der moderigen Spielstätte und übergesiedelt in die benachbarte Arena, die zu den imposantesten Neubauten der deutschen Stadiongeschichte gehört. Wenn die Abrissbirne von diesem Montag an auch noch die Haupttribüne des Parkstadions dem Erdboden gleichmacht, wird niemand diesem Gebäude eine Träne nachweinen. Als Spielstätte hat dieses vermeintliche Monument nicht einmal drei Jahrzehnte durchgehalten.
Mit Blick auf das Interieur ist es nur um die Rolltreppe wirklich schade, die die Spieler aus dem Kabinentrakt im Innern der Haupttribüne hinunter gleiten ließ auf den Rasen. Weh getan hätte unter anderen Umständen vielleicht auch die Vernichtung des Daches. Das Parkstadion hatte wie das ähnlich ungemütliche Münchner Olympiastadion ein Zeltdach erhalten sollen. Der Plan wurde jedoch aus Kostengründen verworfen.
Ein Schauplatz großer Schalker Triumphe
Dennoch empfiehlt Hellmich, „auch mit einer gewissen Achtung“ des zu vernichtenden Bauwerks zu gedenken. Trotz aller Kälte besaß das Parkstadion einen gewissen Charme. In guten wie in schlechten Zeiten hat es wunderbaren und wundersamen Fußballgeschichten eine Location gegeben, wie man heutzutage sagt. Im Parkstadion ist Schalke dreimal aus der höchsten Spielklasse abgestiegen, dort erlitt dieser Klub, beim 0:6 gegen den VfL Bochum, seine höchste Bundesliga-Heimniederlage.
Aber dieses Stadion war auch Schauplatz großer Triumphe. Als der Klub 1997 den Uefa-Pokal gewann, vollendete die Mannschaft den Gesamtsieg zwar in Mailand, im Parkstadion aber hatte sie alle sechs Runden des Wettbewerbs ohne Gegentor überstanden, ganz nach dem Leitbild des damaligen Cheftrainers Huub Stevens: „Die Null muss stehen.“ Kapitän der „Eurofighter“ war Olaf Thon, einer der berühmtesten Schalker Spieler überhaupt.
Das berühmteste Spiel war das allerletzte
Seine Karriere hatte an einem denkwürdigen Abend im Parkstadion begonnen. Gerade achtzehn Jahre alt geworden, nahm er in einem legendären Pokalspiel seinen ersten großen Schluck aus dem Kelch des Ruhmes. Beim 6:6 nach Verlängerung gegen Bayern München gelangen ihm drei Tore. Berühmter als Thon und die Eurofighter war nur der Schalker „Kreisel“ um Kuzorra und Szepan mit all den Meisterschaften in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts.
Das berühmteste aller Spiele im Parkstadion aber war das letzte vor dem Umzug in die Arena. Beim 5:3 über Unterhaching hat Schalke gewonnen und doch eine der schmerzhaftesten Niederlagen seiner Geschichte erlitten: Auf der Anzeigetafel sind die Protagonisten der Bayern zu sehen, die in Hamburg spielen. Torwart Kahn schaut noch grimmiger als sonst. Trainer Hitzfeld wirkt alt und grau.
Mit feuchtem Schimmer in den Augen der Machos
Die Kamera schwenkt in Richtung Hamburger Strafraum. Der Ball liegt zum Freistoß bereit. Ist das eine Aufzeichnung? Es muss eine Aufzeichnung sein. Hinter der Gegentribüne des Parkstadions wird ein Feuerwerk gezündet: Salutschüsse für den Champion, Raketen, die in den milchigen Nachmittagshimmel steigen.
Doch die Bilder auf der Tafel sind „echt“. Der Bayern-Profi Patrik Andersson läuft zum Freistoß an. Tor in Hamburg! Vier Minuten und achtunddreißig Sekunden nach dem gefühlten Titelgewinn, dem ersten nach mehr als vierzig Jahren, ist Schalke doch nicht deutscher Meister. Das ist sogar für harte Männer wie Manager Assauer und Trainer Stevens zu viel. Sie sind Machos und gefallen sich in dieser Rolle, aber an diesem Nachmittag liegt mehr als ein feuchter Schimmer in ihren Augen.
Nun wird das Parkstadion in aller Stille begraben
Assauer vergleicht den Kurzfilm nach dem Schlusspfiff mit großem Kino. „Das ist so unglaublich wie der Untergang der Titanic.“ Projiziert auf das offene Meer der Gefühle, passt dieser Vergleich. Das Orchester spielt, die Passagiere tanzen; sie ahnen nicht, dass dieser gewaltige Tanker, voll beladen mit Emotionen, gleich sinken wird – in vier Minuten und achtunddreißig Sekunden.
Ein paar Jahre nach diesem Drama bekleidet das Parkstadion seine letzte große Rolle: in der Bilanz der wirtschaftlich kreativen Klubspitze. Der Verein hat die Immobilie für den symbolischen Preis von einem Euro von der Stadt Gelsenkirchen erworben – und mit einem Wert von mehr als fünfzehn Millionen Euro, den ein Gutachter ermittelt haben will, in die Bilanz eingestellt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, vermag die Verantwortlichen aber keiner Straftat zu überführen. Das Parkstadion kann nun in aller Stille begraben werden. Nur die zwei Flutlichtmasten in der Nordkurve sollen als „Landmarken“ weiterleben – wie die Fördertürme mancher Ruhrgebietszechen.
http://www.faz.net/s/...E8BE51D976F726208F~ATpl~Ecommon~Sspezial.html -----------
Trotziges, junges blindes Huhn |