13.10.2006 11:30:00
Prof. Otte-Kolumne: Wann raus?
Sehr geehrte Privatanleger,
beim letzten Mal schrieb ich über "Vollgas für Qualitätstitel". Das ist auch meine Einschätzung der derzeitigen Marktsituation. Geben Sie – in dem von Ihnen definierten Gesamtrahmen – Vollgas.
Genauso müssen Sie sich aber auch Gedanken machen, wann Sie Positionen auflösen, wann Sie rausgehen. Allgemein können Sie das auf den Gesamtmarkt beziehen, spezieller auf einzelne Titel.
Bezüglich des Gesamtmarktes können wir wieder Ben Graham zu Rate ziehen: wenn die Renditedifferenz zwischen Qualitätstiteln und Anleihen zu gering wird, ist die ein Warnsignal. Die Rendite der Aktien berechnet sich als umgekehrtes KGV des Gesamtmarktes (oder Gewinne durch Kursniveau), die Rendite der Anleihen ist einfach die Umlaufrendite. Derzeit beträgt die Rendite europäischer Aktien mehr als acht Prozent, die Umlaufrendite der Anleihen liegt unter vier Prozent. Das ist ein Renditeaufschlag von über 100 Prozent für Aktien! In einem solchen Umfeld lassen sich Investitionsmöglichkeiten in Masse finden. Sollte diese Differenz auf die Hälfte (ca. zwei Prozent) schrumpfen, wird es sehr viel schwerer, Value-Investments zu finden. Bei einer kleinen Renditedifferenz von zwei Prozent und weniger würde also der Bargeldanteil wahrscheinlich steigen.
Der hervorragende Value-Investor würde auch in einem schwierigen Markt Investmentchancen finden und nutzen, es ist aber sehr viel Arbeit. Der Privatinvestor würde vielleicht sein Engagement reduzieren. Unter 1% Renditedifferenz hieße es wahrscheinlich: raus aus dem Aktienmarkt. Das sind aber nur allgemeine Aussagen. Besser ist es natürlich, wenn Sie diese Differenz für jeden einzelnen Titel Ihres Portfolios überprüfen. Da kann es natürlich vorkommen, dass einzelne Titel weiterhin deutlich über der Renditeerwartung des Marktes liegen.
Für Value-Investoren ist eine disziplinierte Verkaufsstrategie besonders wichtig. Erreicht die Aktie ihren Inneren Wert (= die Renditeerwartung der Aktie entspricht der des Marktes) oder übersteigt sie den Inneren Wert um 10 oder 20 Prozent, wird verkauft. Value-Investoren verkaufen fast immer zu früh, da der Markt bei guten Unternehmen und Unternehmen, die gut gelaufen sind, Erwartungen aufbaut. Diese letzte Übertreibungsphase machen Value-Investoren nicht mit.
Das aktuelle Beispiel von gestern ins Bijou Brigitte (WKN : 522950). Nach einer Umsatzwarnung bracht die Aktie um über 20 Prozent oder 44 Euro ein. Das organische Wachstum (also das Wachstum pro Filiale, welches neben dem Filialwachstum das Gesamtwachstum treibt), soll stagnieren. Damit ist ein wichtiger Wachstumstreiber weg, selbst wenn das organische Wachstum "nur" vier Prozent ausmachen würde. Die Story von Bijou hat sich verändert. Früher oder später MUSSTE das passieren! Es ist völlig normal. Bei einem Investment in ein Wachstumsunternehmen stehen Sie immer vor der Frage, wie lange der Trend noch anhalten kann. Im Gegensatz zu Momentum-Investoren (Kurstrend) orientieren wir uns für diese Frage aber am realen Trend (Gewinne, Umsätze etc.).
Wir haben 2/3 unserer Bijou-Brigitte-Position Anfang 2005 zu 108,00 Euro und 114,00 Euro verkauft. So gesehen haben wir mehr als 50 Prozent Aufwärtspotential verschenkt, aber das Unternehmen schien uns damals fair bewertet. Zwischenzeitlich sah es so aus, als würde die Bijou-Story noch weitergehen, aber nun müssen sich Anleger auf veränderte Perspektiven einstellen. Das heißt nicht, dass das Unternehmen uninteressant wird. Aber ein Einstieg mit ausreichender Sicherheitsmarge ist erst unter 135,00 Euro wieder möglich.
Auf gute Investments, Ihr Prof. Dr. Max Otte |