Club der Heuchler Von Wolfgang Bok, 30.11.02 Die Erweiterung der Europäischen Union um zehn auf dann 25 Staaten ist allenfalls auf dem Papier geregelt, da machen die alten EU-Mitglieder bereits ein neues Fass auf: Schon im Dezember wollen sie auf ihrem Kopenhagener Gipfel der Türkei ein konkretes Verhandlungsdatum nennen. Damit wäre eine Vollmitgliedschaft des islamischen Agrarstaates bis 2010 kaum mehr zu stoppen. Das Kuriose daran: Niemand will diese Erweiterung auf den asiatischen Kontinent wirklich - doch kein EU-Land traut sich, dies zu sagen.
Im Gegenteil: Recep Erdogan, der Chef der konservativ-islamischen Regierungspartei AKP, kehrt von seiner Europatour mit der Erkenntnis zurück, dass sich die Europäer mit Willkommensadressen geradezu überbieten. Diese Arglosigkeit macht nicht nur vielen Bürgern, sondern zunehmend der EU-Kommission selbst Sorgen. Deshalb lenkt Brüssel jetzt eilig den Blick auf das finanzielle Risiko: Der Beitritt von 65 Millionen Türken würde die EU 20 Milliarden Euro im Jahr kosten. Allein Deutschland müsste fünf Milliarden mehr aufbringen. Das nach wie vor rückständige Land erreicht nur 22 Prozent der durchschnittlichen Wirtschaftskraft aller EU-Länder. Es liegt damit noch weit hinter Griechenland, das noch immer mit 540 Euro pro Einwohner subventioniert wird.
Warnend spricht Erweiterungs-Kommissar Verheugen (SPD) von einer " Jahrhundert-Entscheidung": Ein Beitritt der Türkei erfordert eine Neuordnung der bisherigen EU-Architektur. Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob das moslemische Land in die westliche Wertegemeinschaft passt. Anders herum werde ein Schuh daraus: Sind die "Alt-Europäer" bereit, sich ihrerseits auch auf den anatolischen Islamismus, der die Türkei nach wie vor prägt, einzulassen? Immerhin wäre die Türkei dann einer der Großen und Einflussreichen im Europa-Club. Und wenn ja: Mit welchen Argumenten will man dann Beitrittsanträge der Ukraine, von Weißrussland oder von Marokko und Algerien ablehnen?
Giscard d'Estaing warnt deshalb: "Die Türkei ist kein europäisches Land. Ihre Aufnahme wäre das Ende der Europäischen Union." Steht der Präsident des EU-Reformkonvents mit dieser Erkenntnis tatsächlich allein? Ducken sich alle anderen aus durchsichtigen Gründen weg? Die Briten, weil sie die EU ohnehin auf eine Freihandelszone reduzieren wollen; Kanzler Schröder, weil die SPD auf die deutsch-türkischen Wähler setzt? Und alle anderen, weil sie darauf hoffen, dass irgend ein EU-Mitglied schon sein Veto einlegen wird?
Es ist höchste Zeit, die Politik der Heuchelei durch eine Strategie der Ehrlichkeit zu ersetzen. Die EU zerbricht, wenn sie sich überdehnt. Erst muss der Kraftakt Osterweiterung bewältigt sein, bevor überhaupt weitere Kandidaten auf der Agenda stehen. Richtig ist, dass auch die Türkei eine Perspektive braucht. Aber dies muss nicht die Vollmitgliedschaft sein. Ein "Ring befreundeter Länder", den EU-Kommissionspräsident Prodi vorschlägt, reicht vorerst auch. Es ist besser, zur rechten Zeit nein zu sagen, anstatt sich und den Türken mit einer Hinhaltetaktik etwas vorzuspielen. Gerade Deutschland weiß, wie schwer deren Integration ist.
EU: Wirbel um Kosten bei Türkei-Beitritt
30.11.2002 |