den Anschlägen vom 07. Oktober sind sogar dokumentiert... ...und zwar in einem von ihm verfassten Roman.
"Die Fantasie in diesem Werk besteht nur darin, es in einen Roman umzuwandeln“, schreibt Jahja al-Sinwar vor etwa 20 Jahren im Vorwort seines Buchs „Die Dornen und die Nelke“. Es handele sich nicht um eine Autobiografie, sondern um „ein dramatisches Werk mit realen Ereignissen und größtenteils fiktiven Charakteren, einige jedoch real“."
Der Autor schöpfe „aus seinen Erinnerungen und der Geschichte seines Volkes, den Schmerzen und Hoffnungen, und macht sie zur Geschichte eines jeden Palästinensers und aller Palästinenser.“ Als er das schreibt, ist Sinwar knapp über 40 Jahre alt und sitzt in einem israelischen Gefängnis ein, verurteilt zu viermal lebenslang wegen der Beteiligung an der Ermordung eines Palästinensers, der mit Israel kollaboriert haben soll.
Insgesamt ist Sinwar von 1989 bis 2011 inhaftiert, bis er als einer von 1027 palästinensischen Häftlingen im Austausch für den von der Hamas gefangen gehaltenen israelischen Soldaten Gilad Shalit freigelassen wird. Während seiner Haftzeit macht Sinwar innerhalb der Hamas Karriere.
Später wird er als Planer des Terroranschlags am 7. Oktober 2023 weltweit bekannt. Doch in den Jahren nach der Jahrtausendwende hat er Zeit und schreibt sein Buch, das nicht nur sein bisheriges Leben reflektiert, sondern auch weit in die Zukunft blickt. Doch das ist erst heute erkennbar.
Wenn es ein Thema gibt, das sich durch seinen gesamten Roman zieht, dann ist es der Glaube an die Gewalt. Darin folgt Sinwar der Geschichte der Hamas, die 1988 in Gaza als islamistische Alternative zur eher linken Fatah gegründet wurde, der jahrzehntelang beherrschenden Palästinenserorganisation, die in den 90er-Jahren die Friedensverträge von Oslo mit Israel schloss und die dann gegründete Palästinenserbehörde übernahm.
Die Hamas gab hingegen den bewaffneten Kampf nie auf, entriss der Fatah die Macht im Gaza-Streifen und wurde mit Unterstützung des Iran zur ernstzunehmenden militärischen Bedrohung für Israel. In seinem Buch versucht Sinwar, die Gewalt der islamistischen Terrororganisation durch die Geschichte des zu Beginn fünf Jahre alten Flüchtlingskindes Ahmed zu mythologisieren.
Ahmeds Familie lebt im Flüchtlingslager al-Shati in Gaza. Das erste Kapitel beginnt kurz vor dem Sechs-Tage-Krieg 1967, dessen Ausbruch schon abzusehen ist. Der Vater gräbt ein Loch vor dem Haus. Ahmed beobachtet erstaunt, wie der Vater die Küchentür aus der Wand reißt, um das Loch als Schutzgraben abzudecken.
Als der Krieg ausbricht, ziehen Ahmeds Vater und Onkel zum Kampf gegen Israel, aus dem sie nicht mehr zurückkehren werden. Mit den Alten, Frauen und Kindern der Familie sitzt Ahmed den Krieg im Graben aus. „Ich wusste nicht, was Krieg bedeutet. Aber ich lernte, dass er etwas Unnormales, Unheimliches, Dunkles und Beklemmendes ist.“
Nach dem Krieg teilt Ahmed das Zimmer mit seinem Cousin Ibrahim, der sein bester Freund wird. Die beiden lernen „Scheich Ahmed“ kennen und besuchen regelmäßig seinen Unterricht in der Moschee. Dieser Scheich Ahmed ist offenkundig kein anderer als Ahmed Jassin, der geistige Gründervater der Hamas, der später auch seinen Mithäftling Sinwar in islamischer Theologie unterwies.
Im Roman nimmt der etwa 17-jährige Ahmed an einem Schulausflug teil, der von islamistischen Studenten organisiert und von seinem Cousin Ibrahim geleitet wird. Der Bus fährt nach Jerusalem und hält auf dem Weg immer wieder, damit Ibrahim von den 1948 zerstörten Dörfern der Palästinenser und von der islamischen Eroberung Palästinas in den Jahrhunderten zuvor erzählen kann. „Dies Land ist unser Land“, sagt Ibrahim, während er rötliche Erde in seiner Hand hält. „Es wurde mit heiligem Blut vermischt und muss zur Wiederbefreiung erneut mit heiligem Blut vermischt werden.“
Ahmed lässt Ibrahims Worte auf sich wirken. „Ab diesem Moment verstanden wir, dass der Konflikt eine andere Dimension hat. Es geht nicht nur um ein Land und ein Volk, das von diesem Land vertrieben wurde“, denkt Ahmed. „Es ist ein Glaubenskampf, eine Schlacht um Zivilisation, Geschichte und Existenz.“
Ahmeds Cousin Ibrahim wird Mitglied eines geheimen Netzwerks, das Palästinenser, die als Spione für Israel verdächtigt werden, auskundschaftet und tötet. Ibrahim selbst bringt sogar seinen eigenen Bruder um. Dieser hatte als junger Mann das Elternhaus verlassen, in Israel gearbeitet und mit einer israelischen Frau zusammengelebt, bevor er zurück nach Gaza kam und mit den Israelis dort zusammenarbeitete. Als Kollaborateur mit der Besatzungsmacht muss er sterben.
Am Ende der Intifada 1993 nehmen Israel und die Palästinenser der säkularen Fatah Friedensverhandlungen auf. Ahmeds älterer Bruder Mahmud, ein langjähriges Fatah-Mitglied, glaubt an die Verhandlungen als einzigen Ausweg aus dem Konflikt. Der Islamist Ibrahim lehnt hingegen einen Frieden mit Israel ab. Die Osloer Friedensverträge seien „eine Wette mit dem Blut der Märtyrer“, deren Ergebnis absehbar sei. „Die Juden geben uns nichts, ohne dass unsere Stiefel auf ihren Hälsen stehen.“ Um die Israelis zu besiegen, brauche es „die Intifada und den Widerstand“, sagt Ibrahim.
Mahmud widerspricht. „Israel ist doch in der Lage, uns in wenigen Minuten zu vernichten“, sagt er zu Ibrahim. Der lacht. Die militärische Stärke Israels sei nicht der entscheidende Faktor. „Israel weiß, dass hinter uns eine arabische Nation und eine islamische Gemeinschaft stehen. Es stimmt, dass sie zersplittert sind, aber wenn Israel zu viel Gewalt gegen uns einsetzt, würden sich die Waagschalen des Universums zu Ungunsten Israels verschieben.“ Israel sei nicht in der Lage, die Palästinenser zu besiegen, „denn Israel weiß, dass es von vielen Gleichgewichten abhängt – und jedes dieser Gleichgewichte zu zerstören, würde bedeuten, dass Israel selbst zerstört wird.“
Sinwar versetzt den Protagonisten Ahmed in eine scheinbar neutrale Beobachterposition, während der Autor selbst offenbar durch Ibrahim spricht, der wie Sinwar selbst aktiver Kämpfer ist. Als Sinwar sieben Jahre nach Fertigstellung des Romans aus dem Gefängnis freikam, heiratete er. Seinen erstgeborenen Sohn nannte er Ibrahim. Jahja Sinwar wurde zu Abu Ibrahim – Vater Ibrahims. So lautet sein traditionellen Regeln folgender Kampfname.
Wollte der Hamas-Chef also Israel mit einem Anschlag provozieren, um die Araber und die Muslime hinter sich zu einen, wenn Israel zurückschlägt? Das ist zumindest plausibel. Offenkundig handelte die Hamas ab dem 7. Oktober nach genau diesem Plan. Zwar hat sich Sinwar seit dem Terroranschlag gegen Israel nicht öffentlich zu Wort gemeldet, aber die Hamas und ihre Sympathisanten riefen Araber und Muslime seither wiederholt zur Solidarität auf.
Den 7. Oktober erklärte der Hamas-Militärchef Mohammed Deif zum „Tag der größten Revolution“. Die Zeit derer, die „auf die Spaltung unserer Nation gesetzt haben“, sei vorbei. „Beginnt heute den Marsch!“, forderte Deif in einer Audio-Botschaft an die islamische Welt. Die Ausweitung des Gaza-Krieges auf den Rest der Region, die seit Beginn des Konfliktes immer wieder befürchtet wird, wäre die exakte Umsetzung des Plans, den Sinwar in seinem Roman beschreit.
Doch der arabisch-islamische Aufstand, auf den die Hamas hoffte, blieb aus. Als der Iran vor Kurzem Israel mit Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen angriff, wehrten die arabischen Staaten Jordanien und Saudi-Arabien die Geschosse mit ab. Der arabische Nachbar Ägypten riegelt weiterhin gemeinsam mit Israel Gaza ab.
Der Küstenstreifen ist heute ein Schlachtfeld. Fast die gesamte Bevölkerung von zwei Millionen Menschen muss vor der israelischen Kriegsmaschinerie fliehen. Zehntausende Palästinenser wurden getötet. Der Hamas-Chef verschanzt sich in den Tunneln unter Gaza.
Sinwars Roman endet mit der Tötung Ibrahims durch die Rakete eines israelischen Apache-Hubschraubers. Die Beerdigung des Kämpfers wird zu einem Fest. Tausende verehren den Märtyrer, seine Kinder werden auf den Schultern getragen, die Gewehre hochgehalten.
Wird Jahja Sinwar ein ähnliches Ende finden wie Ibrahim im Roman? Sicher ist, dass die fiktiven Kinder in Sinwars Roman während des Sechs-Tage-Kriegs wenigstens einen improvisierten Schutzgraben hatten, was den Kindern in Gaza während der Flächenbombardements Israels verwehrt blieb. Für sie hat Sinwar keine Bunker gebaut.
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