http://www.wallstreet-online.de/diskussion/...lenium-diskussionsforum Handelsblatt vom 09.09.2011, Seite 31
„Ein solches Ausmaß an Irrationalität habe ich noch nie erlebt“
18 Monate nach seinem abrupten Abgang bei Solar Millennium bricht Utz Claassen sein Schweigen. Zum heutigen Prozessauftakt sprach er mit Gabor Steingart und Georg Weishaupt.
Handelsblatt: Herr Claassen, Sie sind eine der umstrittensten Persönlichkeiten der deutschen Wirtschaft. Wie geht es Ihnen heute, knapp 18 Monate nach Ihrem Ausscheiden bei Solar Millennium?
Utz Claassen: Heute geht es mir gut. Aber zunächst war ich längere Zeit krank. Ich hatte einen Bandscheibenvorfall und war zeitweise fast vor Schmerzen paralysiert.
Handelsblatt: Sie wirken wieder fit, um nicht zu sagen: ausgeruht und kampfeslustig.
Claassen: Die Zeit der Schmerzen ist jedenfalls glücklicherweise vorbei. Jetzt gehe ich wieder meinen verschiedenen Tätigkeiten nach: Etwa meiner Arbeit an Universitäten, meinem Einsatz für innovative Materialien für die Medizintechnik und meinem Engagement beim Fußballclub RCD Mallorca....
Handelsblatt: ...und an diesem Freitag beginnt der Prozess gegen Ihren früheren Arbeitgeber, den Kraftwerksbauer Solar Millennium, dem Sie nach nur 41 Tagen im Amt des Vorstandschefs zum ersten Mal gekündigt und den Sie nach weiteren 33 Tagen dann endgültig verlassen haben. Worum geht es Ihnen in diesem Prozess?
Claassen: Um Wahrheit und Rechtmäßigkeit.
Handelsblatt: Wieso haben Sie sich eigentlich als Ex-Vorstand des VW-Konzerns und als Ex-Vorstandschef des Energiekonzerns EnBW 2009 für den Chefposten des relativ kleinen Mittelständlers beworben?
Claassen: Ich habe mich nicht beworben. Ich bin von einer der größten Banken der Welt angesprochen worden, ob ich mit dem Aufsichtsrat ein Gespräch führen würde. Und natürlich hat meine noch heute vorhandene Begeisterung für die solarthermische Stromerzeugung eine Rolle gespielt.
Handelsblatt: Und die Gespräche mit dem Aufsichtsrat haben Sie offenbar überzeugt?
Claassen: In den Gesprächen hat man sehr große Anstrengungen unternommen, um mich für das Unternehmen zu gewinnen. Da ich das Unternehmen kaum kannte, habe ich um seinen Businessplan gebeten. Dieser ist dann sogar elementarer Bestandteil des Dienstvertrags geworden. Man sicherte mir dienstvertraglich ausdrücklich zu, dass der Businessplan seriös sei. Und dass die geplanten Umsätze mit als konkret bzw. wahrscheinlich einzustufenden Projekten hinterlegt seien.
Handelsblatt: Was sich dann als so nicht richtig erwies, wie die Firma ja mittlerweile selbst einräumt.
Claassen: Ist das nicht unglaublich? Ich wäre nicht eine einzige Sekunde auf die Idee gekommen, dass dieser Businessplan – wie der Aufsichtsrat inzwischen gegenüber dem Gericht eingeräumt hat – in Wahrheit keine gültige Konzernplanung war.
Handelsblatt: Sondern?
Claassen: Sondern ein offenbar vorrangig zur Beifügung zu meinem Dienstvertrag entstandenes Zahlenwerk. Das ich persönlich aus heutiger Sicht eher als ,Konstrukt’ bezeichnen würde.
Handelsblatt: Das ist ein harter Vorwurf.
Claassen: Bereits für die erste Planungsperiode haben wir eine Abweichung zwischen dem im Businessplan avisierten Gewinn vor Zinsen und Steuern Ebit und dem realen Ebit im Geschäftsjahr 2009/2010 von 127 zu eins: 89 Millionen Euro waren im Businessplan avisiert, aber nur 0,7 Millionen Euro wurden in Wirklichkeit erreicht.
Handelsblatt: Und im Geschäftsjahr 2010/2011 kam es auch zu keiner Annäherung von Wunsch und Wirklichkeit?
Claassen: Beim Umsatz wurden für das gesamte Geschäftsjahr 1,023 Milliarden Euro avisiert. Im ersten Halbjahr wurden in der Realität nur etwa elf Millionen Euro erzielt.
Handelsblatt: Wann haben Sie die ja offenbar unüberbrückbaren Differenzen zwischen dem Businessplan und der Realität entdeckt?
Claassen: Ende Januar wurde mir klar, dass das, was man mir als Businessplan ,untergeschoben’ hatte, in Wirklichkeit nie eine gültige Konzernplanung war. Von den angeblich aus seinerzeitiger Sicht als konkret beziehungsweise wahrscheinlich einzustufenden Projekten in diesem Businessplan konnte das Unternehmen zu deutlich mehr als der Hälfte der Projekte nicht einmal einen konkreten Standort benennen, in einzelnen Fällen nicht einmal ein bestimmtes Land zuordnen.
Handelsblatt: Warum hat man bei Solar Millennium vorher so dick aufgetragen?
Claassen: Ich weiß es nicht. Es lag außerhalb meiner Vorstellungskraft, dass der mir übergebene Businessplan in Teilen von der Wirklichkeit im Maßstab von mehr als eins zu 100 abweichen würde. Und es lag auch außerhalb meiner Vorstellungskraft, dass der Aufsichtsrat nur ganze drei Tage nach Abschluss des Dienstvertrags für das erste Geschäftsjahr einen erheblich davon abweichenden Plan verabschieden würde. Ein solches Ausmaß an Irrationalität und Täuschung habe ich noch nie erlebt. Ich kann es mir auch aus heutiger Sicht nicht erklären! Aber die Handelnden werden ihre Gründe dafür gehabt haben.
Handelsblatt: Der Sprecher des Aufsichtsrats sagte dem Handelsblatt, der Businessplan sei vor allem als Zielbasis für Ihr Vergütungspaket erstellt worden.
Claassen: Das ist eine infame Lüge. Wer solche Behauptungen aufstellt, weiß hoffentlich, dass dies rechtliche Konsequenzen für ihn haben kann. Es steht im Businessplan kein Wort von Zielen für mich oder meine Vergütung. Die Ziele, die für Vergütungszwecke relevant waren, sollten erst später festgelegt werden.
Handelsblatt: Können Sie aufklären, wie das doch recht beachtliche Vergütungspaket für Sie zustande kam, inklusive einer Antrittsprämie von rund neun Millionen Euro. Sie sollen dem Aufsichtsrat gesagt haben: „Ich will ein ,Wiedeking-Paket’“.
Claassen: Jeder halbwegs die Wirtschaft verfolgende Mensch in diesem Land weiß, in wie großer Bewunderung und Loyalität ich Herrn Piëch verbunden bin. Ich käme insofern im Leben nicht auf die Idee, Herrn Wiedeking als Referenz für irgendetwas zu verwenden.
Handelsblatt: Wie sah denn Ihr Gehaltspaket aus? Wir bitten um Aufklärung.
Claassen: Es gab eine jährliche Grundvergütung von 1,2 Millionen Euro und eine variable Vergütung von 600000 Euro. Und ich sollte nach dem vierten und fünften Geschäftsjahr zusätzliche leistungsabhängige Vergütungen in Aktien sowie am Ende der fünf Jahre einen Vertragserfüllungsbonus in Aktien erhalten. Und zusätzlich gab es die beiden Einmalvergütungen in Höhe von vier und fünf Millionen Euro brutto.
Handelsblatt: Und diese Gelder, zusammen neun Millionen Euro, haben Sie zum Amtsantritt erhalten?
Claassen: Die standen mir mit Abschluss des Dienstvertrags zu. Davon waren vier Millionen Euro eine Kompensation unter anderem für den Ausfall anderer Einkunftsquellen. Denn ich sollte ja quasi von heute auf morgen meine wesentlichen sonstigen Tätigkeiten beenden. Und die restlichen fünf Millionen waren gewissermaßen ein Incentive, um mich an das Unternehmen zu binden. Den Gesamt-Nettobetrag in Höhe von 4,7 Millionen Euro habe ich vertragsgemäß erhalten.
Handelsblatt: Ein Sprecher des Aufsichtsrats behauptet aber, dass Sie die vier Millionen erhalten hätten, um Aktien von Solar Millennium zu kaufen.
Claassen: Diese Behauptung ist eine Lüge. Der Wortlaut des Dienstvertrags ist insofern eindeutig. Ich sollte vielmehr Aktien nach Ablauf meines vierten und fünften Dienstjahres erhalten. Die aber sollten vom Unternehmen für mich gekauft werden, und zwar aufbauend auf einen offiziellen Hauptversammlungsbeschluss, der dazu eingeholt werden sollte. Die Behauptung, ich hätte versprochen, von meiner Einmalvergütung Aktien vom Aufsichtsratsmitglied Hannes Kuhn zu kaufen, ist unwahr. Richtig ist, dass Herr Kuhn mir privat Aktien zum Kauf angeboten hat. Dieses Angebot habe ich nicht angenommen.
Handelsblatt: Und die Behauptung, Sie hätten zusätzlich zum Dienstwagen auch auf zwei Leibwächtern bestanden? Lüge oder Wahrheit?
Claassen: Das Unternehmen hatte ausdrücklich Wert auf einen angemessenen Personenschutz gelegt. Das ist belegt. Als ehemaliger Atommanager war meine Sicherheitssituation angespannt. Als ich im Seat-Vorstand war, hat man sogar auf mich geschossen.
Handelsblatt: Ihre Vergütung war sehr üppig.
Claassen: Ich denke, niemand muss sich dafür entschuldigen, ein attraktives Vertragsangebot anzunehmen. Und die Zahlen des Businessplans signalisierten große Potenz.
Handelsblatt: Doch irgendwann haben Sie gemerkt, dass die Dinge nicht so großartig waren, wie Ihnen in Aussicht gestellt und wie in dem angeblichen Businessplan, der dann keiner war, suggeriert wurde. Gab es ein Schlüsselerlebnis?
Claassen: Es gab drei Schlüsselerlebnisse: Eines war die Erkenntnis, dass der meinem Dienstvertrag beigefügte Businessplan gar keine gültige Konzernplanung war. Das zweite Schlüsselerlebnis war, dass der Aufsichtsrat den Vorstand gebeten hat, dem Aufsichtsratsmitglied Kuhn als dringliche Maßnahme kurzfristig ein Darlehen zu gewähren, damit er ,eine Position schließen’ und so den Aktienkurs stützen könne. Das gewünschte Darlehen hatte nicht einmal eine Höhenbegrenzung. Diese Angelegenheit war aus meiner Sicht aktienrechtlich mehr als kritisch. Ich habe das Darlehen abgelehnt.
Handelsblatt: Und das dritte Erlebnis?
Claassen: Ich erhielt durch Zufall eine Kopie des Aufsichtsratsbeschlusses zu meiner Bestellung als Vorstandschef. In einer Anlage dazu stand, dass das Unternehmen vor dem Hintergrund des Einstiegs von Siemens in das Solarthermie-Geschäft aus Sicht des Aufsichtsrats mittelfristig existenziell bedroht sei und nach Einschätzung des Aufsichtsrats gegen einen Konzern wie Siemens ,auf lange Sicht keine Überlebenschance’ habe, sofern nicht die ambitionierten Ziele des Fünf-Jahres-Plans – der, wie wir heute ja wissen, nie eine gültige Konzernplanung war – erreicht würden. Diese kritische Einschätzung traf wohlgemerkt der Aufsichtsrat, und zwar kurz vor meiner Bestellung, ohne mich darüber zu informieren. Das ist für mich unfassbar.
Handelsblatt: In der Öffentlichkeit stand das Unternehmen zu diesem Zeitpunkt als Vorzeigefirma da.
Claassen: Zuvor hatte sich nach positiven Meldungen der Aktienkurs fast versechsfacht.
Handelsblatt: Die Vorstellungen des Aufsichtsrats waren offenbar Wünsche und nicht Wirklichkeit. Aber hatte man Sie nicht angeheuert, damit Sie das Unternehmen an die Spitze seiner Branche führen?
Claassen: Nach diesen drei Schlüsselerlebnissen war das Vertrauen erschüttert.
Handelsblatt: Sie sind nicht vor der Größe der Aufgabe weggelaufen?
Claassen: Wer, wie ich, die spanische VW-Tochter Seat saniert hat, läuft nicht vor schwierigen Aufgaben davon. Diese Sanierung war eine der schwierigsten der ganzen Automobilgeschichte.
Handelsblatt: Sie verließen am 10. Februar 2010 Ihr Büro und kündigten, richtig?
Claassen: Ich habe mein Amt an diesem Tag zum ersten Mal niedergelegt und meinen Dienstvertrag fristlos gekündigt. Ich war am 11. Februar dann zu Hause in Hannover.
Handelsblatt: ....als Sie der Aufsichtsrat anrief.
Claassen: Der dreiköpfige Aufsichtsrat kam noch am 11. Februar nach Hannover und hat in einem Sitzungsraum am Flughafen Langenhagen mich mit Engelszungen bearbeitet, mein Amt wieder anzutreten. Wir haben eine Nachtragsvereinbarung zum Dienstvertrag abgeschlossen. Danach konnte ich innerhalb von sechs Monaten jederzeit mein Amt niederlegen.
Handelsblatt: Sie sind dann an Ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt. Bleibt nur die Frage: Warum haben Sie sich darauf eingelassen?
Claassen: Aus heutiger Sicht war es ein Fehler. Ich habe es für die Beschäftigten im Unternehmen in Erlangen getan. Das waren hochmotivierte, ganz, ganz, ganz tolle Menschen. Auch den Anlegern fühlte ich mich verbunden. Außerdem hatte der Aufsichtsrat Versprechungen gemacht, dass sich solche Vorgänge nicht wiederholen würden.
Handelsblatt: Was genau passierte nach Ihrer Rückkehr?
Claassen: Es haben sich dann weitere Dinge ergeben, die nach meinem Empfinden alle Grenzen der Zumutbarkeit überschritten.
Handelsblatt: Geht es konkreter?
Claassen: Ich sage Ihnen nur ein Beispiel: Ein Aufsichtsratsmitglied sagte mir, dass im Konzern ,Tretminen’ gelegt seien. Und dass es eine Spitzenführungskraft gebe, die nach seiner Einschätzung unter bestimmten Umständen damit einen maximalsten Schaden anrichten könnte und würde.
Handelsblatt: Aber dieselben Aufsichtsräte hatten Sie doch eben noch zum Bleiben überredet.
Claassen: Diese Doppelbödigkeit lag und liegt außerhalb meiner Vorstellungskraft. Ich habe dann am 15. März mein Amt endgültig niedergelegt und den Dienstvertrag rechtmäßig gekündigt. Der Aufsichtsrat hat noch am selben Tag meinen Schritt öffentlich respektiert. Umso überraschter war ich, als ich Mitte April eine fristlose Kündigung vom Aufsichtsrat erhielt. Das zwang mich zur Feststellungsklage, dass meine Kündigung am 15.März rechtmäßig und wirksam war. Darüber wird nun in Nürnberg-Fürth verhandelt.
Handelsblatt: Sie fordern zusätzlich zur Prämie über neun Millionen eine Abfindung von mehr als sieben Millionen Euro. Wieso das?
Claassen: Wenn man so behandelt wird wie ich, hat man keinen Anlass mehr, seine Ansprüche gegenüber dem Prozessgegner nicht geltend zu machen. Dieses Geld ist im Übrigen nicht für mich gedacht, sondern für eine Stiftung, die Innovationen in der Solarbranche fördert.
Handelsblatt: Warum haben Sie die Gründe für Ihren abrupten Abgang bei Solar Millennium solange geheim gehalten?
Claassen: Weil ich das Unternehmen, die Anleger und die tolle Belegschaft schützen wollte.
Handelsblatt: Sie hätten Unternehmen und Belegschaft vielleicht besser geschützt, wenn Sie die Gründe früher genannt hätten. Oder?
Claassen: Ich habe bereits am 29. März 2010 erklärt, dass ich bereit sei, meine Gründe öffentlich zu machen, wenn das Unternehmen mich dazu autorisiere. Diese Autorisierung hat das Unternehmen damals nicht erteilt.
Handelsblatt: Aber heute haben Sie auch keine Autorisierung des Unternehmens.
Claassen: Es ist inzwischen so viel an unwahren Tatsachenbehauptungen an die Öffentlichkeit gelangt, dass ich ein berechtigtes Interesse daran habe, all diesen unwahren und für mich rufschädigenden Behauptungen entgegenzutreten. Es gibt Grenzen der Zumutbarkeit und die sind überschritten worden.
Handelsblatt: Haben Sie jetzt die Nase voll von jedwedem Chefposten in einem Unternehmen?
Claassen: Wenn Sie drei große Sanierungen bei Seat, Sartorius und EnBW gemacht haben, brauchen Sie keine Pflicht mehr. Aber Sie können noch eine Kür machen. Ich bin jetzt 48 und fühle mich besser als je zuvor.
Handelsblatt: Was wäre Ihr Traumjob?
Claassen: Ein Leben als Chefredakteur, Politiker oder Wissenschaftler ist sicher auch toll. Ich will mein Leben nicht nur auf die Rolle als CEO beschränken. Ich bin für vieles offen.
Handelsblatt: Herr Claassen, wir bedanken uns für dieses Interview. |