FLÜCHTLINGE IM SÜDLIBANON
Heimkehr in die Trümmerwüste
Aus Zibqin berichtet Matthias Gebauer
Die Familie Bezia war seit Kriegsbeginn auf der Flucht. Am ersten Tag des Waffenstillstands kehrt sie zurück in die Heimat. Ihr Haus, ihr Dorf, fast der ganze Südlibanon ist eine Ruinenlandschaft. Ihr bisheriges Leben liegt begraben unter einem gewaltigen Trümmerberg.
Zibqin - Es ist der erste Tag ohne Bomben, doch Roykahay Bezia kann nicht aufhören zu weinen. Langsam quält sich der weiße Kleinlaster mit dem letzten Hab und Gut ihrer Familie über die Bergstraßen nahe der Hafenstadt Tyrus. Die 67-Jährige presst mit ihrem Gewicht die Matratzen und einige Decken nach unten, damit sie nicht von der Ladefläche rutschen. Nach links und rechts will sie nicht mehr sehen, schließt immer wieder die Augen. "Alles ist verloren", schluchzt sie, "wie sollen wir hier weiterleben?"
Immer wieder stockt die Wagenkolonne auf dem Weg in das kleine Dorf Zibqin in den Bergen über Tyrus. Metertiefe Bombenkrater haben die Straße alle paar Hundert Meter in einen gefährlichen Slalomkurs verwandelt. Bulldozer, geschmückt mit den grünen Fahnen der mit der Hisbollah kooperierenden al-Alam-Gruppe, schütten die tiefsten Löcher zu, fahren dann weiter. Roykahay Bezia ahnt, dass es in ihrem Dorf genauso aussehen wird. Aber glauben will sie es nicht, noch nicht.
Einen Monat hat der Krieg im Südlibanon gedauert. Kaum noch ein Haus steht an der Straße nach Zibqin. Nur Schuttberge zeugen noch von den Dörfern und Siedlungen, die sich in den Bergen bis an die israelische Grenze erstrecken. Fast niemand ist zu sehen. Ab und an rast ein Motorrad mit jungen Männern vorbei. Sie haben Maschinengewehre umgehängt. Auf der Straße warten Hunderte Zivilfahrzeuge auf die Weiterfahrt.
Nirgendwo sind in diesem Krieg mehr Bomben gefallen als im Südlibanon. Hier feuerte auch die Hisbollah Tausende Katjuscha-Raketen ab, die Sekunden später in Israel einschlugen. Von der Sympathie mit den Hisbollah-Kämpfern zeugen in den Dörfern unzählige Plakate, die Scheich Nasrallah und Dutzende im Kampf gefallener Märtyrer zeigen. Die Aufpasser der allgegenwärtigen Miliz hindern uns daran, Fotos von Waffenkisten und Munition zu machen, die in manchen Hausruinen zu sehen sind.
An den wenigen Häusern, deren Außenmauern noch stehen, sind die stählernen Garagentore nach außen gebogen, als ob sie aus Gummi wären. Überall liegen Kleidungsstücke, Schuhe und Spielzeug auf der Straße. Am Straßenrand ausgebrannte Autos mit großen Einschlaglöchern im Dach. Immer wieder abgefackelte Motorroller, auf welche die israelischen Jets in den letzten Kriegstagen gezielt Jagd machten. Am Ende war jeder ein Ziel, Kämpfer oder Zivilist.
Eine Aufbruch voll Freude und Hoffnung
Gleich am ersten Kriegstag, dem 12. Juli, waren die Familie Bezia aus ihrem Dorf geflohen. Seit dem frühen Morgen schlugen dort Bomben ein und das Artilleriefeuer aus dem nahen Israel ließ die Erde beben. Schon an diesem Tag starben im Haus des Bürgermeisters von Zibqin 15 Menschen. Roykahay Bezia muss an den Fingern abzählen, wie viele Verwandte sie verloren hat. Am Ende kommt sie auf 16. Sicher ist sie sich nicht.
Damals waren Roykahay und Ahmed Bezia glücklich, dass sie jemand ins relativ sichere Tyrus mitnahm. Sie kamen in einer Schule unter. Jede Nacht kauerten sie im Keller, wenn die Bomben und die Artillerie die Stadt erschütterten. Sie hatten Angst. Aber sie waren froh, dass sie entkommen waren.
Als sich die Familie dann am ersten Tag des lang verzögerten Waffenstillstands auf den Weg zurück in ihr Dorf aufmachte, war sie noch voller Hoffnung. Jetzt, auf dem mühsamen Weg nach Hause, schwant es der Mutter von vier Kindern, dass der 12. Juli den Abschied von ihrem bisherigen Leben bedeutete.
Schon ab dem frühen Morgen gab es von Beirut aus kein Durchkommen mehr in den Süden, Tausende Autos stauten sich in kilometerlangen Schlangen. Geduldig warteten die Menschen an zerbombten Brücken, Bombenlöchern - voller Freude, in ihre Heimat zurückkehren zu können. Gemeinsam räumten sie riesige Steinbrocken aus dem Weg, bauten Provisorien, um über die Flüsse zu kommen.
Es wurde viel gehupt und gelacht auf den Straßen in Richtung Süden. Der Krieg, der den Libanon so schwer erschüttert hat, vermutlich um die Tausend Todesopfer forderte, Hunderttausende vertrieben hat, er schien so plötzlich vorbei, wie er gekommen war.
Eine Rückkehr in Verzweiflung und Tränen
Für die Bezias wie für Tausende andere Libanesen aus dem Süden des Landes war es der Tag der Wahrheit. Die Heimat, in die sie zurückkehren wollten, gibt es nicht mehr. So wurde der Tag eins nach dem Krieg eine Ankunft in einer Realität, die viele über die letzten Wochen nicht wahrhaben wollten oder konnten. In den Bergen rund um Tyrus waren sie zum ersten Mal mit dem Ausmaß der Zerstörung konfrontiert. Vom Fernsehen kannten sie die Rauchsäulen nach den Attacken, mehr nicht.
Gleich am Ortseingang von Zibqin kommt der Transporter der Bezias nicht mehr weiter. Zwei große Krater klaffen in der Straße, daneben die Schuttberge von zwei, vielleicht auch drei Häusern. Gemeinsam schleppen die beiden Söhne Hassan und Yussef die wenigen Dinge über den Schotter der pulverisierten Straße. Ahmed Bezia und seine Frau stützen sich gegenseitig. Es sind nur noch wenige Schritte bis zu ihrem kleinen, zweigeschossigen Haus. Leichengeruch liegt in der Luft.
Die Hoffnung von Roykahay Bezia war umsonst. Unter dem Metallgestell, auf dem vor dem Krieg Wein wuchs, sackt sie im Staub zusammen. Sie weint. Da, wo am Haus einst die Stufen zum Dach hochgingen, ist eine Bombe eingeschlagen. Das Dach ist eingestürzt. Ihr Mann Ahmed sagt kein Wort. Er wankt zum Haus und lässt sich auf einem der übrig gebliebenen Plastikstühle nieder. Das mitgebrachte Radio stellt er neben den Stuhl, stützt sein Gesicht auf seinen Holzstock. Auch er weint, leise.
Seine Frau kramt inzwischen im Haus. Alles ist mit einer Staubschicht überzogen, aus dem Garten hat es den zum Trocknen aufgehängten Tabak hineingeschleudert. Der offene Kühlschrank verbreitet einen erbärmlichen Fäulnisgestank. "Kann ich Ihnen einen Tee anbieten", sagt die Hausfrau plötzlich, "setzen Sie sich doch draußen hin". Strom gibt es nicht, auch das Gas funktioniert nicht. Trotzdem hantiert sie mit der Teekanne.
Roykahay Bezia ist auf der verzweifelten Suche nach dem Alltag, den sie verloren hat. Es wird noch Tage dauern, bis sie und die vielen, die Verwandte, Freunde, ihr Hab und Gut in diesem Krieg verloren haben, wirklich begreifen können, was geschehen ist, bis sie sich aus ihrer Starre lösen können.
Die Familie Bezia sitzt still vor der Ruine ihres Hauses, als wir uns verabschieden. "Besuchen sie uns wieder", sagt sie, "irgendwann werden die Zeiten besser". Zum ersten Mal lächelt sie kurz dabei.
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