Von Mark Schieritz
Die Börse hat viele reich gemacht, doch zur Verteilungspolitik taugt sie nicht.
Die Deutschen hatten sich kaum mit dem Einmaleins der Börse vertraut gemacht, da war der Aktienboom auch schon vorbei. In den jüngsten Kurs-Turbulenzen haben viele Hobby-Spekulanten den Ausflug an den Aktienmarkt teuer bezahlt.
Damit macht sich auch bei denjenigen Ernüchterung breit, die glaubten, man müsse nur genügend Bürger an die Börse lassen, um für mehr Gleichheit bei der Einkommensverteilung zu sorgen. Zu Recht, denn der Hype um die Wertpapiere hat zwar dazu beigetragen, die Deutschland AG etwas aufzumuntern - für verteilungspolitische Ziele aber taugt die Börse nicht.
In Deutschland spielten Aktien bis in die 90er Jahre hinein keine große Rolle. Die Unternehmen besorgten sich ihr Kapital meist über Kredite, die Anleger setzten auf Bausparverträge oder das Sparbuch. Von 1992 bis 1999 aber erhöhte sich nach Angaben des Deutschen Aktieninstituts die Zahl der Aktienbesitzer von knapp vier auf über fünf Millionen.
Jeder Zehnte besitzt Aktien
Heute besitzen rund zehn Prozent der Bundesbürger Aktien oder Fondsanteile. 2,3 Millionen Beschäftigte partizipieren über Mitarbeiterbeteiligungen an Erfolg und Misserfolg ihres Unternehmens. Das ist im internationalen Vergleich immer noch nicht viel - so sind etwa mehr als ein Drittel der Schweden Aktienbesitzer. Doch es genügte, um eine eingefahrene Diskussion gründlich aufzumischen.
Bei den Gewerkschaften galten Kapitalbeteiligungen lange Zeit als Kampfansage an das Klassenbewusstsein der arbeitenden Bevölkerung. So scheiterten in den 70er Jahren die Pläne der sozialliberalen Koalition, Beschäftigte am Produktivkapital zu beteiligen, am Veto der Arbeitnehmerverbände. Weil er auf kurzfristige Kursgewinne schielt, so das Horrorszenario, rationalisiert sich der Kollege Aktionär selbst weg.
Zinsen wachsen schneller
Seit es sich aber auch in den Gewerkschaftszentralen herumgesprochen hat, dass Wertpapiere gutes Geld bringen können, schalten immer mehr Verbandsbosse um. "Metaller an die Börse", forderte selbst der als Traditionalist geltende IG-Metall-Chef Klaus Zwickel unlängst. Die Aktien-Euphoriker hoffen, dass der Siegeszug der Börse die verteilungspolitische Schwäche des Barlohns kompensiert.
In den vergangenen Jahren sind die Erträge aus Aktien, Anleihen und Fondsanteilen deutlich stärker gestiegen als die Zuwächse in der Lohntüte. So wuchsen die Tariflöhne von 1995 bis 1999 um knapp zehn Prozent - der Dax legte im selben Zeitraum um 152 Prozent zu. Deshalb sei die traditionelle Tarifpolitik nicht mehr geeignet, Schieflagen bei der Einkommensverteilung auszugleichen. Zumal der internationale Wettbewerb der Lohnerhöhung Grenzen setzt.
Weil das Gehalt schwächelt, soll stattdessen die Aktie der Arbeitnehmerkaufkraft Beine machen. Denn wenn Geringverdiener an der Börse zocken, so die These, können auch sie von den höheren Zuwächsen am Wertpapiermarkt profitieren.
Ungleiche Gewinnchancen
Jedoch weisen Skeptiker darauf hin, dass die Gewinnchancen ungleich verteilt sind. So stiegen die privaten Vermögenszuwächse aus Kapitalerträgen von 1980 bis 1995 bei den Selbstständigen um 206 Prozent, bei den Arbeitern hingegen um nur 107 Prozent. Vielen Kleinsparern fehlt das nötige Kleingeld, um mit den Aktien richtig Kasse zu machen.
Die Ungleichheit in der Vermögensverteilung ist gravierend. Zehn Prozent der Haushalte besitzen etwa die Hälfte des Privatvermögens, während die untere Hälfte nur über vier Prozent verfügt. "Wer nicht viel hat, kann nicht viel verdienen, daran ändern die besten Renditen nichts", so Wilfried Hölzer von der IG Medien in Frankfurt. "Die strukturellen Bedingungen machen eine Umverteilung durch Aktien unmöglich", stimmt Berthold Huber zu, Bezirksleiter der IG-Metall Baden-Württemberg.
Zwar vermehrt sich das Geld an der Börse unter Umständen recht schnell. Doch der Abstand der Geringverdiener zu Gruppen, die weit mehr Kapital einsetzen können, verkleinert sich dadurch nicht: In guten Zeiten sorgt die Börse dafür, dass alle absolut reicher werden, an der relativen Einkommensverteilung aber ändert sie wenig.
Zudem können Kursschwankungen die Einkommenszuwächse vermasseln. Die mageren Zeiten treffen vor allem diejenigen, die ihre letzten Groschen zusammengekratzt haben, um bei der Bullenjagd mit dabei zu sein.
Auch der Wertverlust von Aktienoptionen, auf deren Basis viele Beschäftigte in der IT-Branche entlohnt werden, wird vor allem für die Wasserträger der New Economy zum Problem. Denn um die begehrten Computerspezialisten zu halten, erhöhten etwa der Internet-Suchdienst Yahoo und die Netz-Agentur Kabel New Media deren Festgehalt. "Der Fixlohn wird auch in der New Economy immer wichtiger", sagt Carsten Meincke, Sprecher von AOL Deutschland. Dagegen wird es für die Arbeitnehmer in Callcentern und Vertriebszentren weit schwerer sein, wertlose Optionen durch höhere Festlöhne zu kompensieren.
Ruf nach Sicherheit
Der US-Ökonom Robert Shiller fordert deshalb einen "Sicherheitsgurt für Geldanleger" - gesetzliche Vorschriften, die die Bürger davor schützen, sich zu sehr auf die Launen der Märkte zu verlassen. Indes geht dieser Vorschlag zu weit. Denn der Staat darf risikofreudige Investoren nicht davon abhalten, ihr Geld dort anzulegen, wo sie es möchten, selbst wenn sie sich dabei kräftig verspekulieren.
Über Sinn und Unsinn der Verteilungspolitik lässt sich streiten. Über die Auswirkungen des Aktienbooms jedoch sollte man sich keinen falschen Illusionen hingeben. Die Börse mag einigen zu unverhofftem Reichtum verhelfen - strukturelle Einkommensunterschiede beseitigt sie nicht. © 2001 Financial Times Deutschland |