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Matias Berg 27. Juni 2019: Dass wir in besonders hypermoralischen Zeiten leben kann man sicher nicht sagen. Alle Zeiten und Kulturen haben ihre moralischen Werte und Normen, und überall und zu allen Zeiten laufen irgendwo ein paar Moralapostel ("Pharisäer"!) herum und schreien und fucheln mit dem moralischen Zeigefinger).
Was der Autor in Wirklichkeit beklagt ist nicht ein Zuviel an Moral, es ist ein Zuviel der falschen (!) Moral : Er jammert darüber, dass es nicht mehr seine Werte sind, die die Gesellschaft bestimmen, die Werte und Leitideen des Konservativismus: Autorität, Loyalität, Reinheit, Nation, Tradition, Hierarchie. Als diese Werte noch die Gesellschaft dominierten, da war diese genau so durch und durch moralisiert wie heute, nur damals entsprach diese Moral eben der "natürlichen und gottgegebenen Ordnung der Dinge", die Frauen waren den Männern untertan, die Ehe war heilig, Schwule waren entweder sündig oder krank (oder beides), Ausländer waren bestenfalls Gäste/Gastarbeiter und kannten ihren Platz in der Gesellschaft (nämlich ganz unten), lange Haare (bei Männern) waren damals auch moralisch aufgeladen (nämlich als sichtbares Zeichen für Sittenverfall). usw...
Und auch die Lust an der Empörung ist keineswegs neu, wie uns der Autor weismachen will : wie lustvoll haben sich schon damals die Spießer empört, wenn jemand gegen die "guten Sitten", gegen die herrschende (konservative!) Moral verstieß! Ja, damals wäre es keinem Konservativen eingefallen, eine Hypermoralisierung zu beklagen. Wenn Konservative früher klagten, dann über den Verfall der Sitten, also über eine drohende 'Hypomoralisierung'.
Was sich seitdem verändert hat, und was auch der Grund für diese Jeremiade ist: der Zeitgeist hat gewechselt. Nicht mehr das Konservative Lager hat die diskursive Lufthoheit (wie zuletzt noch während der Kohl-Ära), sondern die Linksliberalen bilden seit etwa der Jahrtausendwende die kulturelle und politische Avantgarde. Eine kluge Politikern wie Angela Merkel hat das früh erkannt oder erspürt, und ihre Partei entsprechend neu justiert (während etwa die französischen Konservativen dies versäumt haben und inzwischen in der Bedeutungslosigkeit verschwunden sind).
Der Autor leidet ersichtlich unter diesem Wandel, und versucht ihn intellektuell zu deuten und damit wohl auch ein klein wenig zu bannen, was aber ziemlich misslingt. Er versucht sich an dem ganz großen Bild, aber seinen Ausführungen fehlt bei aller stilistischen Brillanz, die den Mangel an intellektueller Substanz zu übertünchen versucht, zweierlei: Erstens der empirische Unterbau (er hat offensichtlich die sozio-ökonomischen Verschiebungen der letzten Jahrzehnte, sowie deren Gründe, nicht verstanden), und zweitens haben seine Darlegungen keinen argumentativen roten Faden, außer eben jenem, dass er alles, was der neue Zeitgeist so mit sich bringt, dégoûtant findet: Massengesellschaft, Konsumismus, Hedonismus, übersteigerter Individualismus, Massenmedien etc... So oder ähnlich haben es die Reaktionäre vor hundert Jahren auch schon gesehen. Und natürlich ist für Dr Grau die Sache mit dem Klimawandel nur ein Produkt der dauererregten Medien, die davon leben, stündlich einen neuen Sturm im Wasserglas zu erzeugen. Wie langweilig... Und täglich jammert der Reaktionär
Dass der Autor gekonnt die eine oder andere Übertreibung der neuen Zeit aufspießt - geschenkt. Das Gebiet der 'political correctness' liefert dazu ja auch herrliche Beispiele, von den 'trigger warnings' mit denen neuerdings die klassischen Texte versehen werden sollen (zumindest für zartbesaitete Studierende), bis hin zu den bekannten semantischen Säuberungsaktionen, wenn der 'Neger' aus alten Kinderbüchern verschwinden muss.
Was der Autor offenbar übersieht: zu jeder Zeit gab es solche Übertreibungen, man denke nur an die studentischen Verbindungen, in denen Autoritarismus, Männlichkeitswahn und Drogenkonsum eine ziemliche eklige Verbindung eingingen, oder an die heute schwer vorstellbare Tatsache, dass noch vor ein paar Jahrzehnten eine Frau ohne Einwilligung ihres Ehegatten weder arbeiten noch ein Konto eröffnen konnte, oder an den "Kuppelei-Paragraphen". Dagegen sind die Spinnereien der politischen Korrektheit eher harmlos-verspielt.
Dieses Buch spiegelt sehr schön das Elend des heutigen Konservativismus wider, der immer unwillkürlich ins Reaktionäre abgleitet, und der den Veränderungen der Gegenwart intellektuell ziemlich hilflos gegenüber steht. Dieses Buch ist wunderbar geeignet für alle, die zwar nicht wirklich verstehen, was die Gründe für die Veränderungen der letzten Jahrzehnte sind (dazu müssten sie sich ja in die Niederungen der Wissenschaften begeben, was viel zu anstrengend wäre), die aber dennoch nicht darauf verzichten wollen, das Gefühl des totalen Durchblicks zu haben, und zwar aus der Vogelperspektive.
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meine bescheidene meinung:
ich denke, dass tatsächlich zumindest DE an einer "hypermoralischen Krankheit" leidet... Beispiele werden euch genug einfallen als leser dieses threads...... |